XLIII. Brief

An Amalie

[96] Zween Briefe auf einmal will ich Dir heute beantworten! doch ist der erstere nicht so wichtig für deine Ruhe, als der leztere. – Um Gotteswillen, reiß Dich weg, Freundin, von dem Grabe deines Vaters; – dies traurige Andenken wütet zu sehr in deinem Innern! – Eben darum will ich Dich so viel möglich von diesen Gedanken abzuleiten suchen. Und nun zu einer andern Stelle deines Briefs! – Freilich, meine Beßte, giebt es manchmal unter gemeiner Gattung Menschen recht gute Herzen, weil die Natur sie einförmig und ohne Falten schuf. – Auch sind die Wünsche gemeiner Menschen mäßiger, als derjenigen ihre, welche seit ihrer Geburt an Ueberfluß und Bedürfniße gewöhnt worden sind. Menschen von gemeiner Gattung bleiben meistens ohne raffinirten Eigennuz, ohne Forderungsgeist, ohne Lüsternheit, unverdorben und zufrieden mit jener Lage, worein sie ihre niedrige[96] Geburt sezte. Doch weiter! Wahrhaftig, meine Liebe, der junge B*** muß seinen Verstand verloren haben, daß er Dir nicht mit derjenigen Sanftmuth und Liebe begegnet, die deinem blutenden Herzen so nöthig ist. – Es ist in der That unstreitig; die Leitung eines Weibs, kann den Mann gut oder schlimm machen. – Das Wort Mann verfängt sich so leicht in den Schlingen der Wollust und verliert durch einen einzigen hinreißenden Blik seine Stärke. Denn nie ist das Herz eines Mannes zur Tugend und zum Laster empfänglicher, als wenn er in den Armen der Liebe schwelgt. – Sonst wäre es schon mancher Buhlerin nicht gerathen, ganze Länder zu Grunde zu richten. Ich verzeihe zwar diesem Jungen eine Schwachheit gerne, aber nur soll er nicht ein Mädchen roh behandeln, das die Schonung aller Menschen verdient. Weist Du noch, was der Junge Dir ehemals für enthusiastische Briefe schrieb? – Und das Alles sollte blos Federwiz gewesen seyn, wovon sein Herz keine Silbe wußte? – Aber so machen sie's die Helden der Falschheit; schwärmend schreiben sie ihre Moral, ohne ihr Herz zu fragen, ohne Ueberlegung aufs geduldige Papier hin, üben ihren Wiz, und ihr Herz bleibt nicht länger an diesen schönen Lügen kleben, als bis der Brief aus ihren Händen ist. Es ist mir wirklich unbegreiflich, wie man so von Grundsäzzen, von Moral, von Großmuth, von Liebe und Standhaftigkeit in Briefen windbeuteln kann, ohne darnach zu handeln. – Ich selbsten habe mich einstens sechs Monate lang von dergleichen giftigen Lokspeisen hintergehen lassen; und als ich nach der Hand die Briefe gegen den Handlungen abwog, da entsezte mich der Abstand, und ich zitterte für junge Mädchen, die sich so gerne und so oft solche gefährliche Speise auftischen lassen, – um nach der Hand zu rasen, wenn das Zutrauen gegen ihren Liebhaber durch seinen Wankelmuth in Koth sinken muß! – Jezt ein Paar[97] Worte von deinem Vormunde! Mir graute über sein Betragen. Aber beruhige Dich, Beßte, er wird nicht Unmensch genug seyn, um deine Schwester darben zu lassen. Du kannst Dich ja bisweilen unter der Hand nach ihr erkundigen, oder dein Schiksal ändert sich vielleicht während dieser Zeit, damit Du sie selbst retten kannst. Der tobende Ausbruch deiner leidenschaftlichen Schwesterliebe über die Christenheit, war von Dir sehr stark, sehr feurig. Du fängst an stark kolerisch zu werden. An deinem Feuer gienge ein Mann verloren, Du würdest aus Liebe zur Rechtschaffenheit manchem lokkern Buben die Hölle warm gemacht haben. – Doch nun zur Beantwortung deines leztern Briefs, den Du sicher nicht mit gesunder Vernunft schriebst! – Aber Liebe und Güte seyen allein meine Wegweiserinnen zu deinem gepreßten Herzen, zu diesem Herzen, dessen Leiden einen großen Theil seiner Veredlung ausmachen. – Du bist eine duldende Streiterin für das unsterbliche Wohl deiner Seele, und nie wirst Du es wagen über unsere sterbliche Hülle zu murren, die nach einem schnell hineilenden Traume des Lebens sich von selbst losreißt! – Laß, meine Traute, deinen Geist nicht bis zur Schwachheit heruntersinken, er ist zu großen Opfern bestimmt, und schimmert erst alsdann mit wahrem Glanz, wenn ihn keine gemeine Tugend adelt. So, meine Amalie, kenn' ich den Werth deiner Seelenstärke, und so, meine Freundin, wollen wir einst eng aneinander geschloßen hin zum barmherzigen Richter, wenn dieser Richter endlich die Feßeln der rebellischen Menschheit von uns lößt. Sanfte, gute Seele, kniee hin vor den allmächtigen Tröster der Unglüklichen, ruf ihm deine Leiden mit warmer, feuriger Zuversicht zu, laß sie ausbrechen, die lindernden Seufzer der Wehmuth; weine laut, weine so lange, bis es Dir leichter wird! – Denn der gütige Vater im Himmel läßt auch nicht eine Thräne unvergolten! – Ich weis es recht[98] gut, daß der Schwermüthige bei der kalten alltäglichen Moral nur noch schwermüthiger wird, daß er seinen eignen, den verrükten Sinnen angemeßnen Ton haben will, wenn er von dem schaudernden Scheideweg unverlezt zurükkehren soll, der zwischen seinem verhaßten Daseyn und dem Tode liegt. – Der Selbstmord könnte ganz gewis öfter verhütet werden, wenn Menschen für Menschen aufmerksamer, vernünftiger und sanfter handelten. Derjenige, welcher am meisten denkt und nachsinnt, nährt auch diese Krankheit am meisten in seinem Körper, und gesellt sich dann die hinreißende Wirkung eines gallsüchtigen Temperaments noch dazu, so wird sie zur gefährlichen Hypochondrie, deren Folgen oft durch Lebhaftigkeit des Temperaments die gefährlichsten sind! – Fast überall wirket die Sorgfalt der Aerzte in jeder andern Krankheit zur Ehre ihrer Kunst; aber in dieser Art Krankheit sind noch wenig ausgezeichnete Kuren gemacht worden. So viele Aerzte kennen nicht einmal das heimlich schleichende Gift der innern Schwermuth, und werfen dabei keinen Blik in die stille Seelenkrankheit, die beim ruhigsten Puls um sich frißt und manchmal plözlich den Faden des Lebens abreißt, eh sichs der Arzt versieht. – Ich fodere durchaus, daß ein Arzt ein vorzüglicher Menschenkenner seyn muß. – Ich fodere, daß er die Theile der verschiedenen Leidenschaften bei jeder Gattung von Krankheiten genau kennen muß. – Ich fodere, daß er die verschiedenen Grade der Reizbarkeit der Nerven zu unterscheiden weis. – Ich fodere, daß er solche Patienten so gelassen, so gefühlvoll, so sanft, so gutherzig, wie ein Kind, behandelt; denn wenn der Arzt den Grad der Krankheit nicht durch Zutrauen zu erfahren sucht, wenn er blos den dummen, troknen, Pulsverkündiger beim Krankenbett vorstellt, so prellt seine Kur am melankolischen Kranken ab und er bleibt Doktor fürs Geld und weiter nichts. – Ich bin weit in der Welt gekommen,[99] und die meisten Aerzte, die ich antraf, waren entweder alte, steife, eigensinnige Pedanten, deren Gefühl eben so rostig als ihre Beurtheilungskraft aussah, oder junge, flüchtige, schwindelnde, unerfahrne Gekken, die ihre Kunst eben so handwerksmäßig trieben, als ob es in der lieben Natur eine Lüge wäre, daß alle Krankheiten nach den Verschiedenheiten der Temperamenten müßten behandelt werden. Einsicht, Kenntniße der menschlichen Leidenschaften, Ueberlegung, genaue Untersuchung des herrschenden Temperaments werden immer die Wege seyn, die einem schlußfähigen Mann seine Kuren bei Melankolischen erleichtern. – Eine starke Gemüthsbewegung, wilde Konvulsionen, eine Erstarrung der Glieder, dumpfes Aechzen, die Ergießung des Bluts durch Mund und Nasen, und dann die darauf folgenden Schwachheiten sind lauter Grade der Krankheit, denen besonders das weibliche Geschlecht unterworfen ist, und die dem forschenden Auge des Arztes nicht entgehen dürfen. Nur ist es leider traurig, daß die Herren Doktoren dergleichen Krankheiten manchmal nicht zu unterscheiden wissen, von welchen Leidenschaften sie eigentlich herrühren, – und das öfters für Mannssucht halten, was im Grunde die tiefste, eingewurzeltste Schwermuth ist, deren Wirkung von der Verschiedenheit der Schiksale herkömmt. – Unvermerkt eilt der Raum dieses Briefs zu Ende, und Du, meine Beßte, hättest Ursache über seine Länge zu klagen, wenn Du mich nicht liebtest. –


Deine ganz eigne Fanny.[100]

Quelle:
Marianne Ehrmann: Amalie. Band 1–2, [Bern] 1788, S. 96-101.
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