LI. Brief

An Amalie

[127] Ich würde lügen, meine Theure, wenn ich diese schändliche Entehrung der Menschheit kaltblütig übergehen könnte! Ha! – Religion! – Ha! – Tugend! – Ha! – Menschlichkeit! – Was ist aus euch geworden? – So seyd ihr denn von einem Strafbaren auf einmal heruntergewürdigt, der nicht einmal den Schein seiner Würde zu behaupten wußte. So hat er es denn ohne Bedenken gewagt, dieser Elende, deine Jugend, deine Schwachheit dem Laster und seinen Lokkungen entgegen zu stoßen? – Mir steht vor Kummer der Verstand stille, wenn ich das Getümmel der großen Welt überdenke, dem er Dich ohne Rüksicht, ohne Mitleid, ohne Gewissensangst, ohne Vorwurf blosgab! – Mit Abscheu ist meine Seele für so ein Andenken angefüllt! – Und ein Priester wagte es, die Unschuld den Verführungen des Lasters zu opfern? – Wo soll die Tugend Trost finden, wenn er ihr von den Dienern der himmlischen Moral versagt wird? – Ist so ein Aergerniß nicht tausendmal mehr Sünde, als das strafbarste Laster, das doch wenigstens vor den Augen der Welt verborgen bleibt! Wenn Nächstenliebe in so einem Mann ihren Wohnsiz nicht hat, wo soll man sie denn finden? – So hat denn die Unschuld keinen Retter, die Tugend und Menschheit keine Stimme mehr? – Kein Vieh läßt sein Junges verhungern, und Menschen begegnen sich einander so fühllos? – Menschen, die durch die Vernunft ihre Pflichten kennen, mit dem Mund vor den Augen Gottes Wahrheit schwören, und dabei eine garstige, rachsüchtige[127] Seele im Busen tragen! – Ich bin hingerißen vom Gefühl der äußersten Traurigkeit, über die Bosheit, die in dem Herzen der Menschen sich heimlich einnistet. Es ist ein trostloser Gedanke für den Guten, wenn er seinen Nebenmenschen bis in Staub der Niederträchtigkeit gesunken neben sich erblikt. In welchem Sturm der zerrütteten Leidenschaften mag dieser harte Mann wohl das für dich drükkende Billet geschrieben haben? – Verblendung für jene Dirne muß ihn hingerißen haben, sonst wäre es unmöglich, daß er mit einem Herzen im Leibe so hätte gegen Dich handeln können. Ich will Dir gerne glauben, meine Inniggeliebte, daß Dir dieser lezte unvermuthete Streich des gebrandmarkten Zutrauens bis in die Seele stürmte! – Nichts ist gräßlicher, als auf unsere Unkosten das Lasterhafte zu entdekken, wo ein geheiligtes Ansehen uns für das Gegentheil bürgte. Falschheit, Mishandlung, böses Herz, drükken den Verfolgten weit ärger, wenn sie unerwartet erscheinen. Nun, meine Liebe, halte Dich indessen an jene Dame, die nun deine einzige Beschüzzerin ist. – Wie entzükte mich der gütige Eifer des wakkern jungen Fräuleins. – Unverdorbene Menschen müßen über die schwarzen Handlungen von Bösewichtern brausen, weil es ihnen schwer fällt, fremdes Laster zu dulden, wovon ihr eignes Herz so rein ist. Wie beschämend ist die Moral eines so jungen Mädchens für einen Mann, der nach seinem Berufe eben diese Moral Andern predigen sollte. Wenn dieser Verdorbene diese Stimme der Warnung fühlen könnte, wenn er merken wollte, daß ihm der Himmel eben durch die Moral dieses Fräuleins Beßerung zuruft! – Aber wie kann er es fühlen, wie kann er es merken, wenn die Gewohnheit schon die Gewißensbisse übertäubt hat? – Doch überlaßen wir ihn der ängstlichen Stunde des Todes, da mag er dann ringen um die gränzenlose Barmherzigkeit, die der gütige Schöpfer Keinem versagt,[128] wenn er sein Laster wahrhaft bereuet. Uebrigens, meine Liebe, sind die wenigen Wohlthaten, die Du bei dieser Familie genießest, nur so lang Wohlthaten, bis sie dein Oheim bezahlt, welches denn auch geschehen wird. Genieße sie also nicht mit so großer Zaghaftigkeit, Du möchtest dadurch dem unartigen Hausherrn zum Argwohn Anlaß geben, eh es Zeit ist. – Heitere Dich auf, Amalie, noch ist keine nahe Gefahr, daß Du Dich mit Handarbeiten abgeben mußt. – Du wirst sehen, daß die Hülfe am nächsten, wenn das Unglük am größten ist. Und nun ein Kuß von deiner theilnehmenden


Fanny.

Quelle:
Marianne Ehrmann: Amalie. Band 1–2, [Bern] 1788, S. 127-129.
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