LXXXVI. Brief

An Fanny

[20] Seit vierzehn Tagen bin ich hier, bei den sogenannten englischen Fräulein. – Das Kloster ist ein sehr altes Gebäude, hat aber einen sehr hübschen Garten. – Die Damen dieses Stifts sind meistens adeliche, die aus Familienverdrüßlichkeiten, aus Hang zur Einsamkeit, oder sonst[20] aus geheimen Ursachen diesen Aufenthalt wählten. Auch nach dem Gelübde haben sie immer noch die Freiheit zu heirathen. Ihr Orden scheint blos eine Geburt des weiblichen Eigensinns zu seyn, um unter Müßiggang und verschiedenen Zänkereien ihren Launen abzuwarten. Die ältern Fräulein hängen sich an Bigotterie und ihre häßlichen Folgen; die jüngern ergeben sich den schönen Wissenschaften und der Liebe. Doch muß ich es gestehen, es giebt unter diesen Damen, troz den vielen männlichen Besuchen, selten auffallende Szenen, die ans Aergerliche gränzten. Sie misbrauchen ihre Freiheit nicht, sondern folgen willig der weisen Leitung einer vernünftigen Oberin, wenn sie das Glük haben, eine solche Führerin zu besizzen. – Die Beschäftigung einiger Damen ist Erziehung der Jugend, und die Schulen, worinnen mehrerlei Sprachen gelehrt werden. Aber auch da hat das Vorurtheil in der Erziehungsart seine Stelle eingenommen; freilich nicht so stark, wie in andern Nonnenklöstern; aber dennoch werden die Kinder steif und abgeschmakt erzogen. – Ein mechanisches Einerlei ist die Beschäftigung ihrer Kostgängerinnen von frühe bis Abends. – Die Arbeiten dieses Häufchens von jungen Mädchen theilen sich unter Nähen, Strikken, Beten, Essen, Schlafen, Schwazzen und die Erlernung eines unregelmäßigen Dialekts der französischen Sprache. – Die Schulaufseherinnen geben sich zu wenig Mühe, die aufkeimenden Gefühle der Liebe in ihren schon etwas erwachsenen Kostgängerinnen zu studieren. Das achtzehnjährige Mädchen wird eben so strenge als das achtjährige bewacht, und muß seine Gefühle heuchlerisch unterdrükken. Männer statten bei ihren Lehrmeisterinnen Besuche ab, und reizen dadurch die Einbildungskraft eines empfindsamen Mädchens, die bei ihrer harten Einschränkung sich das nemliche Vergnügen wünscht. Und dann die Verschiedenheit der Herkunft dieser Mädchen, die alle beisammen wohnen und schlafen[21] müßen, ist die gefährlichste Lage für ein gutartiges Gemüth, das, vom übeln Beispiele hingerißen, alle Unsittlichkeiten einsaugt, die durch Kinder aus dem Pöbel getrieben werden. Die jüngern werden von den ältern in allerhand Untugenden unterrichtet, und lernen oft vor der Zeit die Triebe der Natur kennen. Schwazhaftigkeit, Neid, Boshaftigkeit und andere üble Gewohnheiten, keimen unter ihnen im Stillen, durch böses Beispiel erzeugt, hinter dem Rükken ihrer Lehrmeisterinnen auf, die ihre kurzsichtigen Augen nicht überall haben können, um so viele Kostgängerinnen in ihren einzelnen Leidenschaften zu beobachten. Die Tochter eines Edelmanns wird oft von der Tugend eines Bürgermädchens beschämt, und dann im Gegentheil wieder die Tochter eines Edelmanns durch das rohe Laster eines Bürgermädchens verdorben, ohne daß es ihre Lehrmeisterin einmal gewahr wird. Keine von diesen Mädchen erhält ihrem Stand angemessene Bildung. – Mich dünkt, der blose Eigennuz ist der Endzwek dieser Erziehungsanstalt; denn mehrmalen wird eine reiche unartige Bürgerstochter im Schooße ihrer bestochenen Lehrmeisterin verzärtelt, da indessen die ärmere adeliche unter der rohen Behandlung des großen Haufens mitlaufen muß. Man untersagt zwar den Kindern die Lesung guter Bücher nicht, aber man lehrt sie über kein Buch urtheilen; öffentliche Vorlesungen, durch welche die Kinder so viele Vortheile auf einmal erhalten, sind gar keine hier gebräuchlich. Man sucht den Kindern blos das Gedächtnis durch Auswendiglernen zu überladen, ob sie dann mit oder ohne Gefühl lesen, das ist den Lehrmeisterinnen völlig gleich. – Diese mechanische Lesart erzeugt Dummköpfe, welche in der Zerstreuung hastig und eintönig die schönste Moral hinwegplappern, wobei sie gar nicht denken, und also ihrem Geiste wenig oder gar keine Nahrung dadurch geben können. Wer nicht beim Lesen denken lernt, kann nichts verstehen, und wer[22] nichts versteht, der fühlt auch nichts. – Das laute Vorlesen beschäftigt fast alle Sinnen und giebt jedem eine regelmäßige Richtung. Die Fertigkeit im Lesen, der edle Ausdruk, werden unvermerkt einer solchen Schülerin zur Gewohnheit; da indessen ihr Herz, ihr Verstand, ihr Gefühl, ihre Beurtheilungskraft auch unendlich viel dabei gewinnen. – Man lege den jungen Mädchen Fragen über das Vorgelesene vor, damit solche von einer jeden nach ihren Begriffen schriftlich beantwortet werden; und dann wird die Lehrmeisterin entdekken können, wer mit Vortheil gelesen oder zugehört hat. – Diese Art junge Seelen unterhaltend zu bilden, ist die größte Kunst, Menschen leicht denken und schließen zu lehren. – Es giebt auch bei Tische und in den Erholungsstunden so viele nüzliche Unterhaltungen, die den jugendlichen Geist lehrreich und angenehm beschäftigen; aber freilich dazu gehört ein Bischen mehr, als blos ein weiblicher Klosterkopf, um so eine Unterhaltung zum Nuzzen anzuwenden. Jedes Alter unter denen Kostgängerinnen sollte seine besondere Lehrmeisterin, seinen besondern Tisch und seine besonderen Zimmer haben. Kinder müßen wieder kindisch und spielend zum Denken und Fühlen angeleitet werden; hingegen Mädchen von gewißen Jahren müßen durch ernsthaftere Anweisung, die gerade zu den sich allmählich entwikkelnden Ideen paßt, geführt werden. Liebe, Freundschaft, Großmuth, Ehestands- und Mutterpflichten, Religion und Lebensart müßen ihnen im reinen Lichte ohne Fantasterei, ohne Vorurtheil vorgelegt werden, damit sie untereinander durch solche ungezwungene Unterredungen erhaben denken und handeln lernen. Alle Moral hat für die Jugend ihre Reize, wenn sie ihr sanft und offenherzig genug, so wie es der gütige Schöpfer haben will, ins Herz geprägt wird. – Die Lehrmeisterinnen dürfen an einem Zögling in Rüksicht auf Liebe durchaus keine Verstellung dulden, sie[23] lehrt heucheln, und ist der erste Grund zum Verderben eines jungen Herzens. So bald aber die jungen Mädchen einsehen lernen, daß reine, wahre Liebe nicht sträflich ist, so haben sie sich nicht eines Triebes zu schämen, der öfters blos aus Zwang ausartet. – Die zu scharfen Verbote einer sinnlosen Lehrerin in Ansehung der Liebe verderben die beßten Herzen. – Ohne Zutrauen gegen ihre strenge Führung folgen dann solche Mädchen heimlich ihren Wünschen, und finden den Weg zum doppelten Laster, zur Lüge, und zur fleischlichen Befriedigung. – Das Verbot macht ihnen die Sünde kennbar, wo eine bessere Leitung in der Liebe sie zur Rechtschaffenheit geführt hätte. – Doch genug, meine Fanny, von einer Erziehungsart, die unter Weibern ewig nie zu Stande kommen wird. – Warum? – Das beantworte Dir selbst! Und nun für heut ein recht warmes Mäulchen von


Deiner Amalie.

Quelle:
Marianne Ehrmann: Amalie. Band 1–2, [Bern] 1788, S. 20-24.
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