LXXXVII. Brief

An Fanny

[24] Meine Traute! –


Ich kann unmöglich deine Antwort abwarten, die Zeit würde mir sonst tödtlich lange werden! – Ich habe Dir lezthin die hiesige Erziehung in etwas entworfen. – Aber wie viel Stoff wäre noch vorhanden, um sie auszumalen, diese elende Erziehungsart. Täglich erwekt sie mir mehr Ekkel. – Wo ich nur hinblikke, fallen meinem Auge neue Mängel darinn auf. – Kaum kehrt die Lehrmeisterin ihren Zöglingen den Rükken, so geht es an ein Hadern, an ein Schreien unter diesen Mädchen, daß man gehörlos werden möchte. Schwazhaftigkeit[24] ist ohnehin von Natur der Fehler unsers Geschlechts. – Man denke sich nun so ein Häufchen weiblicher Geschöpfe in ihrer Freiheit zusammen, die in Gegenwart ihrer Lehrmeisterin keinen Laut von sich geben durften. – Da sizzen sie dann die armen Schlachtopfer der Dummheit, flüstern sich einander heimlich in die Ohren, und zittern bei dem geringsten Wort ihrer mürrischen Lehrerin. – Durch das strenge Verbot gereizt, werden sie lüstern nach Freiheit, und hängen dann in Gedanken dieser Lüsternheit so sehr nach, daß ihr Geist unfähig wird zum Lernen. – Unter einer vernünftigern Einschränkung frei und munter begreifen die Kinder mit unendlich weniger Mühe. Der gute Willen eines Kindes durch Ehre angefeuert, erfüllt weit leichter und besser seine Pflichten, und führt dem Zwekke näher, als die rauhe Art, womit man sie dazu zwingen will. – Sie werden durch eine solche strenge Art verstokt, hinterlistig, verschmizt, und lernen nie aus eigenem Trieb ihre Pflichten kennen. – Auch die Art, die etwas ältern Mädchen zu bestrafen, will mir durchaus nicht gefallen! – Durch öffentliche kindische Züchtigungen wird das Ehrengefühl eines solchen armen Mädchens mehr verdorben als gebessert. – Sobald das erwachsene Mädchen mit dem Kinde einerlei Strafe dulden muß, so wird ihm diese kindische Beschämung zur Gewohnheit, und erstikt in ihr jene edle Begriffe von wahrer Schamhaftigkeit, die für ihre Jahre die erste Triebfeder zum Guten werden könnten. – Doch weg hievon, meine Fanny; und in den Speisesaal dieser Kostgängerinnen: Du wirst Dich wundern, wie sie ihr französisches Tischgebet so kalt und flüchtig daherschnattern, daß es dem lieben Gott im Himmel gewis nicht gefallen kann. – Weder ihr Herz, noch ihr Kopf sind von den dankbaren Gefühlen durchdrungen, die wir doch Alle so warm dem Ewigen schuldig sind! – Gemein weg, wie man es unter so vielen Katholiken antrift, sind ihre Begriffe von Gott; nie[25] das, was sie seyn sollten. Ihr Religionsgefühl ist der seichten Lehrart ihrer Vorsteherinnen angemessen. Sie werden Christinnen ohne Empfindung, blos dem Munde nach. – Der Mangel ihres Gefühls läßt sie nicht weiter über die Größe Gottes nachdenken, als ihre Begriffe ihn fassen können, diesen so gütigen Gott, dessen Allmacht sie nicht einmal aus der Natur einsehen und verehren lernen! Weinen möchte man darüber, daß der heiligste Gegenstand der Religion in der weiblichen Erziehung so verstümmelt wird! – Bei ihren Mahlzeiten genießen diese armen Kinder Gottes gütige Gaben mit der äußersten Schüchternheit. Keine Silbe von Gespräch, durch welches man die Denkungsart der Kinder so leicht kennen lernt, darf in Gegenwart ihrer Lehrmeisterin unter ihnen geführt werden! – Sie lernen nicht einmal mit Anstand, ohne Zwang ihre Speisen genießen; die Furcht schraubt sie in jeder ihrer Bewegungen wie Dratpuppen zusammen. Nach Tische besteht ihre Erholung in einem Spaziergang im Garten; aber auch hier dürfen sie nicht einmal der lieben Freiheit genießen. Wenn nun zwo sympathisirende Freundinnen sich einander gerne allein ihr Herz mittheilen möchten, so werden sie wie ein Bliz von der mistrauischen Lehrmeisterin getrennt, weil sie befürchtet, ihr Herz möchte sich dem Gefühl der Freundschaft öffnen. Sonntags müßen die Zöglinge paarweis in Gesellschaft einer Lehrerin, den Jünglingen zur Schau, eine Hauptkirche besuchen. Ganze Reihen junger Mannsleute stellen sich ihnen alsdann in den Weg, und reizen die schon zu fühlen beginnenden Mädchen zu heimlichen Leidenschaften. Diese sklavische Behandlung bringt sie nach und nach zur schändlichsten Erkältung in der Religion. – Hingerissen beim Kirchengehen vom Wohlgefallen am männlichen Geschlecht, opfern sie bei ihrer Andachtsübung eher dem Gott der Liebe, als dem Allgewaltigen im Himmel! – Kann man die Religion den jungen Mädchen gefährlicher einkleiden,[26] als in solche gleißnerische Bigotterie? – Kurz, meine Fanny, überall finde ich, daß dieser Erziehungsplan gar nicht zum Wohl der Menschheit entworfen ist. Wäre ich auch mit Kindern überhäuft, so würde ich sie lieber an meiner Seite einfach, nach dem schönen Wink der Natur erziehen, als an solche Orte hingeben, wo jedes gute Gefühl in ihnen erstikt wird. – Die Erziehung ist ja so wichtig für unsere Glükseligkeit; und doch giebt es Eltern, die sogar ihr Vermögen daran wenden, ihre Kinder an solchen Orten verderben zu lassen. – Kein Monarch sollte Erziehungshäuser dulden, wenn sie nicht vorher strenge untersucht worden sind. Vorurtheil, Religionshaß, Bigotterie und Weibergrille sollten da durchaus nicht ihren Wohnsiz haben, wo es darauf ankömmt, liebenswürdige Gattinnen, vernünftige Mütter und rechtschaffene Bürgerinnen zu bilden. – Aber was meinst Du wohl, Fanny, wenn die Weiber unter einander es wüßten, daß ich es wage Anmerkungen über sie zu machen? – Hu! – wie würde mich ihre gereizte Eitelkeit verfolgen! – Doch, Misbräuche mit Wahrheit anfeinden, darf eine jede Denkerin. Ich schwöre Dir, daß ich es ungerne thue, Dinge zu entdekken, die unserm aufgeklärten Jahrhundert nichts weniger als Ehre machen. – So viel für heute von


Deiner Amalie.

Quelle:
Marianne Ehrmann: Amalie. Band 1–2, [Bern] 1788, S. 24-27.
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