CI. Brief

An Fanny

[71] Wenn wir gutchristlichen Katholiken in eine fremde Stadt gerathen, so eilt sonst gewöhnlich unser erster Schritt der[71] Kirche zu. – Bei mir war es zwar nicht der erste, aber der lezte soll es gewis seyn! Ich begab mich in eine Kirche; aber die schändliche Aufführung der italienischen Nazion im Tempel Gottes hat mich sehr geärgert! – Als ich in den Vorhof der Kirche trat, drängten sich die alten Bettelweiber haufenweis auf mich zu, und baten zur Liebe des heiligen Antonius um ein Allmosen. Ich gab hin so viel ich konnte, ob ich gleichwohl beim Weggehen einige von diesen nemlichen alten Weibern besoffen in Winkeln liegen sah. – Die Kirche war dicht angefüllt; alles murmelte mit verkehrten Augen Gebete daher. Die Damen zerschlugen sich aus Andacht die Brust, und die Männer schwizten heuchlerisch im Gedränge. Die ganze Versammlung behauptete den Schein einer außerordentlichen Frömmigkeit. – Schon fieng ich an mich über diese eifrigen Diener des Herrn zu freuen; schon beklagte ich die kalten Teutschen, die in der Verehrung des Schöpfers so wenig Feuer im Aeußerlichen zeigen. – O! dachte ich, welch ein Unterschied! – Hier strozzen die Kirchen an Werktägen von Andächtigen, und bei uns kaum an Sonntägen; und so würde ich weiter Vergleichungen angestellt haben, wenn mich nicht der verstohlne Seitenblik einer eifrig betenden Nachbarin darinn gestört hätte. – Die gute fromme Scheinheilige schien nach etwas begierig zu schmachten, bis sich auf einmal ein frecher Bursche zu ihr hindrängte, und in ihr Gebetbuch ein Liebesbriefchen stekte. – Sie nahm dann ihr Buch zu sich, klopfte ans Herz, rief einigemal: O Dio santo! dazu, und verlor sich. – Als dieser Auftritt, den die übrigen frommen Christen nicht einmal bemerken wollten, sein Ende erreicht hatte, wollte ich nach meiner Uhr sehen, aber siehe da – man hatte mir sie gestohlen! – Ich sah ganz natürlich links und rechts nach dem Dieb, und erblikte nichts, als Grimasse der Frömmigkeit. Was blieb mir nun außer der christlichen Geduld übrig an einem Orte, wo jeder Heuchler[72] der Religion Ehre zu machen schien? – Demungeachtet drängte sich mein Blut häufig dem Kopf zu, und es war mir unmöglich mich länger in einem Hause aufzuhalten, wo Andächtelei dem Laster den Schein der Ehrlichkeit borgen muß. – Ich drängte mich hin und her durch alle Lükken durch, um in die freie Luft zu kommen. Eine alte cara Mama zupfte mich rükwärts am Arme, und schien mir zu folgen. – Was mag denn die wollen? – fuhr mir durch den Kopf, indem ich sie aufmerksam betrachtete. – Sie brummte ihre Gebeter halb laut fort, hielt ihren Rosenkranz fest, sties andächtige Seufzer aus, und folgte mir bis an die Treppe. – Carissima bella Signorina! – redete sie mich an. – Geh zum Henker, Alte, mit deinen Schmeicheleien! – schrie ich ihr zu, als sie mich ganz andächtig bei Seite zog, und mir einen förmlichen Antrag zu einer Lustparthie machte: – Schandlose Heuchlerin! – laß mich mit Friede, oder... auf einmal war sie izt weg und wieder in der Kirche. – So geht es also hier im Tempel Gottes zu! – Das ist das fromme, andächtige Volk! – sagte ich unwillig zu mir selbst – und besuchte aus Neugierde mehrere Kirchen nach einander. – Alle fand ich eben so voll wie jene. – Gott im Himmel! wie viel falsches Scheinopfer bringt man dir! – seufzte ich dann laut – und kehrte zurük nach Hause. –

Ja, meine Fanny! – die Geschichte in der Kirche hatte mich so sehr erzürnt, daß ich mehrere Tage keinen Schritt aus dem Hause thun wollte. – Auf einmal wurde meine üble Laune dem guten Vetter zur Last, und ich mußte ihm mit Gewalt in eine adeliche Gesellschaft folgen.

Aber ums Himmels willen, lieber Vetter, ich bin ja nicht stiftmäßig; die Damen werden Bedenken tragen, mich unter sich aufzunehmen! – sagte ich ihm sträubend. –

»Ei was stiftmäßig! – antwortete mein Vetter, hier braucht ein Fremder das nicht; geben sie unserer Noblesse[73] nur ihren Exzellenz-Titel, und Sie sind gewis mit Ihrer Lebensart willkommen.« –

Genug ich lies mich aus Neugierde bereden, und besuchte mit ihm eine solche Versammlung. – Als wir in Cassino anlangten, so wimmelten schon die Vorzimmer voll Bedienten. Ich streifte mit philosophischem Unwillen an diesem schimmernden Ungeziefer vorbei, das sich kriechend bis zur Erde beugte; dann stellte man mich einigen Damen vor. Ich muß gestehen, ich fand einen himmelweiten Unterschied zwischen ihnen und unsern aufgeblasenen, stolzen Nasenrümpferinnen in Teutschland: Sie empfiengen mich mit einer vernünftigen Güte und Leutseligkeit, die so willig eher dem Verdienst als einer blos zufälligen Geburt ihre Arme öffnen. – Sie marterten mich mit keiner steifen Etikette, womit man Fremde in Teutschland zu quälen pflegt. Freiheit, Munterkeit und gute Laune herrschten überall in dieser Gesellschaft. – Die Damen flüsterten einander keinen Ahnenstolz in die Ohren, und fielen mir nicht mit naseweisen Fragen zur Last; eben so wenig, als ich von ihnen geschraubte, hochmüthige Antworten erhielt. – Keine gaffte mich mit teutscher Grobheit an, als ob sie sagen wollte: – »Selbst dein Anzug ist nicht einmal hochadelich! –« In wenig Minuten achtete ich mich in dieser Versammlung schon nicht mehr fremde. – Man lies mir Freiheit, ohne mich aus Verachtung zu vergessen, und man schien mich zu vergessen, blos um mir Freiheit zu lassen. – Niemand zwang mich zum Spiele. – Jedem stund es frei, sich mit Kopf und Herz nach seiner Weise zu unterhalten; – weder Eifersucht noch Misgunst trübte die Damen unter einander. – Jede hielt ihren Liebling fest, ... und störte nicht durch Koketterie die Ruhe einer andern.–Alle hatten für sich hinlängliche Herzens-Beschäftigungen. – Kurz, die hiesigen Damen sind selbst bei ihren raschen Leidenschaften weit erträglicher als die in Teutschland. – Liebe übertäubt alle[74] ihre übrigen Leidenschaften; und was Liebe nicht angreift, das beleidigt sie auch nicht. – Sie haben überhaupt im Durchschnitt mehr Kultur als die Männer. Mutter Natur war ihre Leiterin. Ziererei – Vapeurs – und Grillen scheinen sie gar nicht zu kennen. – In Gesellschaften handeln sie viel freier als die Teutschen, und bei Weitem nicht so geschraubt. – Die Hizzigkeit ihres Temperaments gestehen sie offenherzig, und verderben nicht ihr Herz durch heuchlerische Verstellung. – Unsere teutschen Damen hingegen verbergen ihre Herzens-Angelegenheiten, und werden dabei doppelte Sünderinnen. – Hier rechnen sichs die Damen zur Schande, mehr als Einen zu lieben, und bei uns schämen sie sich dieser einfachen Zahl, und tändeln mit allen, die ihnen aufstossen, aus Schwachheit, aus Ueberraschung oder aus Zufall. Liebe wird bei den Italienern zum ernsthaften Geschäfte, bei den Teutschen hingegen zur Galanterie, oder Heuchelei. – Wechsel ist hier Verbrechen, der den Stolz einer Dame beleidigt – und bei uns wechselt man mit der Liebe eben so gleichgültig, wie mit Handschuhen. – Die hiesigen Damen lernen außer ihrer Muttersprache selten eine andere, und saugen nicht, wie bei uns, mit der französischen Sprache zugleich französischen Leichtsinn ein. Sie studieren fleißiger ihre Muttersprache, als manche teutsche Dame, welche die ihrige kaum buchstabieren kann. – Auch Eigennuz verunstaltet ihre Seele nicht so leicht, weil sie weniger als bei uns dem Spiel, sondern mehr der Liebe nachhängen. – Verläumdungssucht ist ihnen fast durchaus fremde, denn sie verschäkkern ihre Stunden meistens in der Gesellschaft ihrer Liebhaber. – Selbst Eitelkeit hat sie weit weniger vergiftet, weil die Einförmigkeit ihrer Masken keinen so großen Aufwand erfodert. Wären nur die hiesigen Damen ihren Männern getreuer, verschwelgten sie nur weniger ihre Gesundheit in den Armen der Wollust, man könnte diese Engel[75] von Weibern nicht besser wünschen, als man sie hier unter dem adelichen Stande findet. – So weit gieng meine heutige Beobachtung. Morgen auch etwas weniges von den hiesigen Männern; und nun gute Nacht, meine Liebe, von

Deiner Amalie.

Quelle:
Marianne Ehrmann: Amalie. Band 1–2, [Bern] 1788, S. 71-76.
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