CVI. Brief

An Amalie

[88] Liebes, gutes Malchen!


Eine kleine Lustreise hielt mich bis izt ab, deine lezteren Briefe zu beantworten! Du schreibst es doch nicht auf Rechnung meines Herzens? – O ich habe wohl unterdessen recht oft an Dich gedacht; und dein erster Brief überraschte mich gerade in dieser liebevollen Beschäftigung. Ich durchlas ihn mit innigem Vergnügen; nur befürchtete ich dabei zu sehr, daß Du Dich durch dein offenherziges Betragen einigen weibischen Lästermäulern blosgeben möchtest. Sie werden nicht begreifen wollen, daß auch ein Frauenzimmer als Philosophin reisen kann, und daß es ihrem kritischen Auge ebenmäßig erlaubt ist, Stoff zum Denken zu suchen. – Aber[88] richtiger werden dafür die wenigen Vernünftigen urtheilen, die kein gallsüchtiges, neidisches Herz im Busen tragen. – Was kümmert uns übrigens das Vorurtheil einiger abgelebten Matronen, die ohnehin blos zum Ofensizzen und Gänsehüten geschaffen sind. Du lernst dadurch das menschliche Herz kennen; und das ist einem jeden Vernünftigen Pflicht, der in der Welt nicht unthätig leben will. – Aber noch staune ich, meine Amalie, über den italienischen Bigottismus, der, mit dem Laster verschwistert, einer Religion Schande macht, die im reinsten Gewande prangen könnte, wenn verdorbene Begriffe sie nicht zur Heuchelei entstellte. Giebt es denn in Venedig keine Priester, die solche abscheuliche Misbräuche zu verhindern wissen? – Warum duldet man dergleichen Gebräuche? – Ist das die reine Lehre Christi, die das menschliche Herz veredeln sollte? – Die Italiener müssen den Werth der Religion eben so wenig kennen, als die Häßlichkeit des Lasters, sonst würden sie ihn nicht zur Ausübung solcher Misbräuche anwenden. Den Priestern käme es zu, Religion und Laster im ächten Lichte den Menschen zu zeigen, und dann es ihrem Herzen zu überlassen, wenn es noch boshaft genug seyn könnte, beides nach erlangter Kenntnis mit einander zu vermengen. Wer sich dann troz diesem den öffentlichen Bedürfnißen Preis geben wollte, der könnte es auf Unkosten seiner eigenen Ruhe wagen. – Die Gewissensstimme wäre denn der verborgene Tirann, der so ein Herz bei müßigen Stunden grausam zerfleischte! – Nicht immer unterdrükt Schamlosigkeit den Ekkel der Natur. Es giebt Augenblikke, wo das Bildnis einer langen Ewigkeit so eine Kreatur gräßlich martert! – Indessen kann ich doch diese Häuser nicht ganz misbilligen. Sie verhüten größere Ausschweifungen, und bieten dem verdorbenen Geschmak der Menschen Befriedigung an. – Die Triebe der Natur arten blos durch Weichlichkeit und Bosheit zum Laster aus. –[89] Der blose Instinkt strebt nur nach genugsamer Befriedigung, aber die Einbildungskraft der Menschen schafft ihn zur ausschweifenden Wollust um. – Man betrachte das Thier; es hat nur seine gewisse Zeiten zur Befriedigung; aber der Mensch, dieser edlere Theil der Schöpfung, ist in seinen Lüsten unersättlich, weil er der Einbildungskraft den freien Zügel läßt. – Die meisten Menschen denken zu wenig, um ihre Begierden einschränken zu können. Ihre Sinnen verirren sich so leicht bei jedem neuen Gegenstande, wo hingegen das Thier keinen Unterschied kennt, um außer seiner gehörigen Zeit lüstern zu werden. – Gott gab den Menschen Vernunft, um ihre Handlungen nach der Mäßigkeit einzurichten; aber die wenigsten hören auf ihre Stimme, sondern folgen, vom Beispiel hingerissen, den Reizen des Lasters auf Kosten ihrer Ehre, ihrer Gesundheit. – O! die Menschheit ist ein unglükseliges, schwaches Wesen, das so leicht ausglitscht, wenn nicht genaue Aufmerksamkeit über sich selbst und Religion dieselbe leitet. – Man darf sich nur einen geringen Fehler nicht vorwerfen, dann eilt man schnell bis zum äußersten Grade des Lasters. – Fleißige Selbstbeobachtung ist der erste und sicherste Weg zur Tugend. So bald aber der Mensch leichtsinnig alles Gefühl in sich erstikt, dann wird er gerade so verstokt, so lasterhaft, wie jene Wollüstlinge, die das arme teutsche Mädchen im Bordell wider derselben Willen genießen konnten. – Gott segne die Gerettete in den Armen ihrer Familie, und Dich lohne er dafür einstens mit unaussprechlicher Glükseligkeit! dein Herz verdient es in der That! –

Aber izt weiter zu deinem zweiten Brief: – Daß es in Italien außer der Malerei und Tonkunst mit den übrigen Wissenschaften schlecht bestellt ist, wußte ich schon lange. – Die Nazion muß äußerst träge seyn, daß sie Schauspielkunst und Lektur so sehr vernachläßigt. - Sie ist von jeher in der Aufklärung[90] eine der lezten gewesen, und hat in der Litteratur von ihren Geistesfrüchten wenig aufzuweisen. – Wenn ihr Gefühl durch Denken verfeinert würde, dann könnte sie nicht zu dem äußersten Grade des Lasters fähig seyn. – Roh und gedankenlos folgt sie blos der Stimme ihres leidenschaftlichen Bluts, und überlegt aus Mangel der Bildung zu wenig ihre feurigen Handlungen. – Lebhaftigkeit führt zur Tugend oder zum Laster, je nachdem sie geleitet wird. – Eigennuz ist auch ein Hauptfehler dieser Nazion; um ihrer Befriedigung willen sind sie in Possenreissereien so erfinderisch. – Selbst bei uns belustigen sie einige teutsche Fürsten mit unsinnigen Frazzen. Mancher Hof bezahlt schweres Geld für eine welsche Opersängerin, die in Italien ums Allmosen in Kaffeehäusern ihre schmuzzigen Liedchen heruntertrillerte. – Bald werden die italienischen Landstreicher mit ihren Murmelthierchen auf teutschen Bühnen ihr Glük machen, da es einmal so sehr Mode ist, welsche Insekten zu dulden. – Keine auswärtige Nazion lokt die unsrige zu sich und füttert sie. Wir gutherzigen, schwachen Teutschen allein bezahlen ausländischen Unsinn und ungesittete Aufführung. – Und warum? – Aus Vorurtheil! – So lange der Teutsche dem inländischen Talent Schuz und Aufmunterung versagt, eben so lange bleibt er ein alberner Affe, der nach der verstimmten Pfeife eines Fremdlings tanzen muß. – O! die Großen, die Großen könnten vieles anders einrichten, wenn sie wollten! – Ist es nicht Schande, daß man fremde faule Waare auf Unkosten der fleißigern, aufgeklärtern einheimischen duldet. – Einige Höfe strozzen voll italienischer Comte und Markisse, die es durch Speichellekkerei so weit zu bringen wußten, daß man ihre zerlöcherten Adelsbriefe nicht einmal in Verdacht hat; besonders wenn sie das Glük hatten, irgend einer empfindsamen Fürstin zu gefallen. Diese Abentheurer machen sich der teutschen Gutherzigkeit zu Nuzze, und wandern häufig aus ihrem[91] Vaterland, um den Hunger zu stillen und die beßten Aemter verdienstvollern Patrioten wegzukapern. – Bisweilen mislingt ihnen dann ihre Rolle, und der Herr Comte verwandelt sich in einen Lakaien, der seinem Herrn mit dem Adelsbriefe als ein Betrüger entfloh. – Teutschland ist mir der Aufklärung ungeachtet in vielen Stükken ein Räthsel! – So viel von

Deiner beßten Fanny.

Quelle:
Marianne Ehrmann: Amalie. Band 1–2, [Bern] 1788, S. 88-92.
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