CXXIII. Brief

An Fanny

[136] Zürne doch nicht, liebes Fannchen, daß ich Dir einige Monate gar nicht schrieb. Mein Direktor überhäufte mich seither mit einer Menge Rollen. – Sein Weibchen ist nahe an ihrer Niederkunft, und mich trift es izt, ihre Rollen ganz allein zu spielen. Es bleibt mir außer meinen Berufsgeschäften kaum so viel Zeit übrig, zuweilen ein kleines Briefchen an meinen Oheim zu verfertigen. Uebrigens lebe ich recht zufrieden. Das Publikum ist mir hold; der Direktor behandelt mich gut; was will ich also mehr? – Nur ein einzigesmal überraschte mich sein gewöhnlicher Eifer für die Kunst etwas feuriger als sonst, bei einer Probe; der gute Mann kannte mein zu weiches Herz nicht, und wurde erst nach der Hand überzeugt, daß seine rasche Zurechtweisung mich im Spielen noch blöder machte. – Ich nährte dadurch heimliches Mistrauen[136] gegen mich selbst, und Zagheit bemeisterte sich meiner während meines Spiels; nur seine sanftere Leitungsart rief mich wieder in das Geleise zurük, woraus mich eine gewisse bange Furcht gebracht hatte. – Er sah wohl ein, daß es für meinen Kopf und mein Gefühl nur des kleinsten Winkes bedürfe, um mich nach seinem Willen abzurichten. – Der Mann besizt außerordentlich viele Kenntnisse, dringt mit seinem Fleiß bis ins Innerste der Kunst, und ich bin stolz darauf, Seippens Schülerin zu seyn! – Es ist unbegreiflich, was er sich mit einigen beinahe unbrauchbaren Mitgliedern unserer Gesellschaft für Mühe giebt, um sie zu belehren; er hält ordentliche Schulen, gießt ihnen die Rollen so zu sagen ein, studiert den Hang eines Jeden, giebt ihm angemessene Rollen; alle unter seiner Gesellschaft stehen an ihren rechten Pläzzen; da erblikt man keine Spur von Partheilichkeit. So oft das Schauspiel zu Ende ist, tritt er unter die Schauspieler hinein, sagt einem jeden sein und auch des Publikums Urtheil mit biederer Wahrheit ins Gesicht. – Lezthin kam die Reihe zuerst an mich. – »Madame! (sagte er.) Mit Ihnen ist man durchaus zufrieden, bis auf die wenige Schüchternheit, die ihre Stimme unterdrükt, und sie etwas unverständlich macht.« – »Und Sie, Mademoiselle! – (sagte er zu einer andern) Sie haben in ihrem Kammermädchen durch Ihre unbescheidene Manieren blos dem Pöbel gefallen, u.s.w.«

Ist so ein Vorsteher nicht zu verehren? – Würde die Bühne nicht bald der Wohnsiz der Rechtschaffenheit seyn, wenn es mehrere dergleichen gäbe? –

Noch ein Anekdötchen von ihm: – Einige Stuzzer, welche die Schauspielerinnen blos für feile Geschöpfe ansehen, zu denen ihre Begierden ein volles Recht hätten, sagten einstens zu ihm:

»Aber Herr Seipp, Sie haben ja gar kein einziges recht[137] schönes Frauenzimmer unter ihrer Gesellschaft!« – Worauf er antwortete: – »Meine Herren, alle meine Frauenzimmer sind hinlänglich schön, um in ihren Rollen jene Täuschung zu erwekken, die dazu erfodert wird. – Ich bin der Unternehmer einer gesitteten Schauspieler-Gesellschaft und keiner Fleischbanke, wo jeder Wollüstling seine Bedürfnisse hinzutragen Lust hätte. – Meine Frauenzimmer sollen blos zu Schauspielerinnen und nicht zu Lustnimphen taugen.« –

Von dieser Zeit an wagte kein Weichling mehr die mindeste Anmerkung zu machen; wir leben alle in dem unbescholtensten Rufe. – Aber sage mir jezt auch, meine Liebe, was macht denn dein Karl? – Werde ich euch zwo theure Seelen auch bald wieder zu sehen bekommen? – O ich hätte wohl noch recht viele Fragen, wenn mich nicht die Pflicht zu meinen Geschäften riefe. –

Lebe wohl, Theure, Einzige. –

Ich bin ewig Deine Amalie.

Quelle:
Marianne Ehrmann: Amalie. Band 1–2, [Bern] 1788, S. 136-138.
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