CLVII. Brief

An Fanny

[225] Nicht wahr, theures Mädchen, Du wirst doch ungefähr wohl merken, warum ich Dir schon einige Wochen nicht[225] schrieb? – Wenn man so mit der philosophischen Untersuchung eines Karakters beschäftigt ist, wie ich, kann man dann wohl viel übrige Zeit zum schreiben finden? – Du hast es errathen, Freundin! Ganz gewis hatte ich Lust den moralischen Karakter meines neuen Freundes (denn so darf ich ihn izt ohne Bedenken nennen) näher kennen zu lernen. – Seine öfteren Besuche, die er ununterbrochen fortsezt, erleichtern mir meine Einsamkeit unendlich. – Wir philosophiren oft ganze Stunden zusammen; täglich verräth sein Karakter mehr Festigkeit und Wärme für Freundschaft und Tugend. – Sein Betragen übertrift ganz meine Erwartung, so wie es vielleicht die deinige übertreffen würde, wenn Du ihn solltest näher kennen lernen. – Nein, liebe Fanny, nicht After-Stolz besizt er, sonst würde er sich an meiner Seite schon längst bis zum Gekken herabgewürdigt haben, der sich aus verstekter Eitelkeit so gerne vom Frauenzimmer bewundern läßt, weil er Verdienste zu besizzen glaubt. –

Er ist gerade das Gegentheil; ich kann sein biederes, ungeziertes, offenes Betragen nicht genug bewundern, das so ungeschminkt ist und nicht an die geringste Galanterie gränzt, woran die meisten unserer jezzigen Jünglinge kränkeln. – Ein eitleres, undenkendes Frauenzimmer würde vielleicht in seinem philosophischen Umgange wenig Zeitvertreib finden; selbst meine kleine Eitelkeit fand bei seinem troknen Betragen nicht ihre Rechnung; ich wußte mir seine Zurükhaltung bei den so oft wiederholten Besuchen nicht recht zu enträthseln; – ganz natürlich hies mich mein Stolz den nemlichen Ton bestimmen, und so blieben wir beide einige Zeit lang in einer gewissen Entfernung, die mir für unsere Freundschaft zu kalt dünkte, und die mich, ohne zu wissen warum, heimlich ärgerte. –

Endlich würdigte er mich seines Zutrauens; ich mußte[226] hören, daß er ein Mädchen liebte... mehr liebte, als sie es nach seiner Erzählung verdient. – Er hätte immer mit dieser Nachricht noch schweigen können; sie hat mich so sehr gegen dies undankbare Geschöpf aufgebracht, daß er vielleicht gar meinen Unwillen bemerkt hat. – Ewig Schade für sein Herz, daß es in solche Hände gerathen mußte! –

Ich möchte doch das nasenweise Ding gerne kennen, das mit der leidenschaftlichen Neigung eines Jünglings wie eine wahre Kokette spielt. – Und doch ist der gute Junge noch so entzükt, so begeistert von diesem Mädchen! O wäre er nicht so sehr mein Freund, ich würde ihm Unbesonnenheit vorwerfen. – Ich muß mich in dieser Sache über alles das sehr behutsam gegen ihn betragen, sonst könnte er leicht auf den Gedanken gerathen, ich beneidete einigermaßen sein Mädchen. Er ist zu viel Menschenkenner, als daß ich ihm entwischen könnte. Ob er gleichwohl nicht die geringste Eitelkeit besizt, so möchte ich mich doch von dieser Seite nicht gerne blos geben, weil es mir zu sehr um seinen Beifall zu thun ist. – Und würde ich diesen moralischen Beifall nicht verscherzen, wenn ich nicht Herr über den so natürlichen weiblichen Neid seyn könnte? – O, ich will gewis alles anwenden, um als Freundin seiner ganzen Achtung würdig zu werden! –

Aber sein Mädchen wird doch nicht den tollen Einfall bekommen, ihn aus Eifersucht meinem Umgang zu entreissen? – Ohne seinen herrlichen Umgang würden mir izt die Stunden tödtlich lange, und er wäre wahrlich gegen sich selbst strenge genug, mir seine Besuche zu entziehen, wenn sie auf diesen neidischen Gedanken gerathen sollte, und das würde mich sehr kränken! –

Lezthin empfand ich über seine Gewissenhaftigkeit in der Liebe Freude und Aerger zugleich: Aerger, weil mir seine übertriebene Kälte ein Bischen unerträglich wurde, und[227] Freude, weil ich ihn als ein Muster der Rechtschaffenheit bewundern mußte, der es in seiner Treue so weit treibt, daß er noch nicht einmal eine von meinen Händen berührt hat. – Mich dünkt, ein Bischen wärmer dürfte er denn doch gegen eine Freundin immer seyn; er kennt ja meine Denkungsart; ich würde ihn nie zu einer Treulosigkeit verleiten. Du weist, wie sehr ich so etwas hasse, weil es mein Herz ebenfalls zerreißen würde, wenn ich an seines Mädchens Stelle wäre. Aber es ist bei allem dem so verdrüßlich, daß er meine Hand so nachläßig herunterhängen läßt, wenn er mich bisweilen am Arme führt. – In der That sein Mädchen ist sehr glüklich! – O die Bösartige, daß sie ihn nicht mit offnen Armen empfängt und ihn für seine äußerste Liebe noch mit Ungewisheit martern kann! –

Gestern übermannte mich der Eifer so sehr, daß ich ihn geradezu fragte, ob denn dieser Verlust unersezlich wäre. – Ich erschrak sehr über meine unüberlegte Frage, aber sein argloses, unbefangenes Herz gab ihr keine üble Deutung. – Daß er sich aber auch so leidenschaftlich um die Liebe eines Mädchens bemühet, die seiner unwürdig zu seyn scheint! – Gott! – wie unglüklich sind Seelen von dieser Gattung in der Liebe, wenn sie der Zufall auf fühllose Geschöpfe stossen läßt! –

Was mich noch am meisten staunen machte, ist seine Beharrlichkeit bei allem ihrem abscheulichen Betragen, indem er mir rund weg ins Gesicht sagte:

»Nein, Madame, so lange mein Mädchen keine Entscheidung von sich giebt, eben so lange befiehlt mir mein Ehrengefühl an keinen Ersaz zu denken. Ich merke zwar, daß sie nicht das Mädchen ist, die mein Ideal ausfüllt, aber sie zeigte mir heimliche Leidenschaft; sie ist vielleicht zu schüchtern, um sich ganz zu erkennen zu geben; und sollte ich Bösewicht genug seyn können, ihre Hofnungen zu täuschen?« –[228]

Mit diesen Grundsäzzen kannte ich noch keinen Mann! – Thränen stürzten mir über die Entdekkung seines feinen Gefühls in die Augen; – zum Glükke wandelten wir gerade auf einem Spaziergang im Dunkeln und er bemerkte meine Rührung nicht. – Mein Herz war beklommen, mit Mitleid angefüllt über sein Schiksal, – und so verließen wir uns. –

Was hältst Du von einem solchen Jüngling? – Ist sein Mädchen nicht glüklicher als deine Freundin, der das ungünstige Schiksal ein solches edles Geschöpf zuschikte? – Tausend Küße von

Deiner Amalie.

Quelle:
Marianne Ehrmann: Amalie. Band 1–2, [Bern] 1788, S. 225-229.
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