LXIII. Brief

[109] Guten Morgen, liebe Seele! – Wie ist Dir? – Um Gotteswillen, wie ist Dir! – Mir war gestern Abend gerade, als stieg ich in einer Todesangst vom Schaffot herunter. – Ich fühlte die Erstarrung meiner Glieder, und tiefen stummen Schmerz, der an Wahnsinn gränzte! – Mein Gehirn war durcheinander geworfen, meine Vernunft zerknikt und siedheiß mein Blut! – –

Du dauertest mich, Armer, und ich konnte Dir doch nicht helfen. – Sey ruhig, einziger Liebling meines Herzens, Nina hat gewis nie aufgehört Dich zu lieben. – Ich bin heute wie zusammengeschlagen, aber dabei so ziemlich ruhig, sey es doch auch Friz, sey es auch, meine Glükseligkeit fodert es von Dir. – –

Bei den heiligen Gattenpflichten faße Dich, sonst wird meine Abreise noch immer mehr und mehr verschoben. –

Uebrigens kümmere Dich um nichts weiter, so kühn die Anschläge der Wollüstlinge auch immer scheinen, so wird es doch keiner wagen, sich mir zu nahen. – Die Lasterhaften können wohl ihre Zähne blökken, aber beißen dürfen sie nicht, sonst tritt man sie mit dem Fuß zurük. – Also ruhig und keine Sorge, wenn es aufs Aeußerste kömmt, so sollst Du[109] Deinen Karakter nicht mit ihnen besudeln..... Dann reise ich in einigen Tagen fort, und hiemit Punktum! –

Deine liebe Gattin.

Quelle:
Marianne Ehrmann: Nina’s Briefe an ihren Geliebten, [o. O. ] 1788, S. 109-110.
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