Abend

[266] Gestürzt sind die goldnen Brücken

Und unten und oben so still!

Es will mir nichts mehr glücken,

Ich weiß nicht mehr, was ich will.


Von üppig blühenden Schmerzen

Rauscht eine Wildnis im Grund,

Da spielt wie in wahnsinnigen Scherzen

Das Herz an dem schwindligen Schlund. –


Die Felsen möchte ich packen

Vor Zorn und Wehe und Lust,

Und unter den brechenden Zacken

Begraben die wilde Brust.


Da kommt der Frühling gegangen,

Wie ein Spielmann aus alter Zeit,[266]

Und singt von uraltem Verlangen

So treu durch die Einsamkeit.


Und über mir Lerchenlieder

Und unter mir Blumen bunt,

So werf ich im Grase mich nieder

Und weine aus Herzensgrund.


Da fühl ich ein tiefes Entzücken,

Nun weiß ich wohl, was ich will,

Es bauen sich andere Brücken,

Das Herz wird auf einmal still.


Der Abend streut rosige Flocken,

Verhüllet die Erde nun ganz,

Und durch des Schlummernden Locken

Ziehn Sterne den heiligen Kranz.


Quelle:
Joseph von Eichendorff: Werke., Bd. 1, München 1970 ff., S. 266-267.
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