Schluß

[902] Wenn wir nun die kurze Laufbahn der Romantik, wie wir sie vorstehend in ihren einzelnen Führern zu bezeichnen versucht, noch einmal im ganzen überschauen, so sind es vorzüglich zwei charakteristische Momente, die sie von andern Literatur-Epochen unterscheiden; erstens die Allgemeinheit des geistigen Umschwungs, der nicht etwa, wie in früheren Perioden, die Poesie allein oder wohl gar nur einzelne Gattungen derselben, sondern den ganzen Ideenkreis erfaßte; und zweitens[902] das religiöse Grundwesen dieses Umschwungs, welcher eben deshalb ein so totaler sein mußte, weil ja die religiösen Gefühle und Überzeugungen überall das geheimnisvolle Senfkorn sind, aus dem die Gesamtbildung einer Nation emportreibt.

Wir haben bereits oben erwähnt, wie die Reformation in ihrem natürlichen Fortgange jene Bildung auf das emanzipierte Subjekt gestellt und dadurch in allen ihren Zweigen gründlich alteriert hatte. Fichtes Anfang in seinem System des absoluten Ichs (1794) bildet nur die Spitze aller wissenschaftlichen Konsequenzen der Reformation. Dieses absolute Ich nämlich, unter Negation aller bestehenden Wirklichkeit, produziert, wie anderswo treffend gesagt wird, selbst erst durch einen Akt der höchsten Freiheit, durch sein erkennendes Handeln, d.i. durch sein Bewußtsein, die wahre Wirklichkeit und ist somit sein eigner Gott und Schöpfer der Welt, die nur in diesem Bewußtsein existiert. – Hier aber war in der Tat der Protestantismus an dem unvermeidlichen Abgrunde angelangt, gegen den kein weiteres Protestieren mehr galt; er mußte sich entweder kopfüber hinabstürzen oder, wider seine Natur und erträumte Omnipotenz, zu dem ursprünglich Göttlichen über dem Ich wieder zurückkehren. Das letztere versuchte Schelling philosophisch zu vermitteln, indem er das Ideale und Reale als Eines begründete im Absoluten, aus dem das Ich und die reale Welt hervorging und das also die Identität von Natur und Geist oder Gott selber ist. Dieser Totalanschauung des Lebens gemäß sind Wissenschaft und Religion Emanationen jenes Absoluten, die Weltgeschichte nur die Selbstentwickelung und Offenbarung desselben, der Staat sein organischer Körper, die Schönheit aber die endliche Darstellung des Unendlichen vermittelst der Kunst, welche mithin eine unmittelbare Offenbarung Gottes im menschlichen Geiste ist.

Man sieht aus diesen wenigen Andeutungen, wie nahe verwandt diese Philosophie der Romantik war, indem sie eigentlich eben nur das wissenschaftlich begründete, was gleichzeitig die Romantik an den einzelnen Erscheinungen des Lebens poetisch nachzuweisen strebte. Auch die Romantik nämlich betätigte, wie wir oben sahen, ihre tiefgehende Opposition gegen die Folgen der Reformation vorzüglich dadurch, daß sie dem allmächtigen Subjekt ein Absolutes, die positive Religion, entgegenstellte. Auch sie begriff das Leben und seine großen historischen Momente nur als Offenbarungen Gottes, und[903] Kirche, Staat und Volk hiernach als eine wenngleich selbständig gegliederte Einheit, wie sie allerdings im Mittelalter sich in Europa, und namentlich in Deutschland, zu einer gesunden Nationalität entfaltet hatte. In der Dichtkunst insbesondere aber bekundete sie diese ihre höhere und durchaus religiöse Weltanschauung durch die dem Christentum eigentümliche, versöhnende Liebe, die kein blind zermalmendes Schicksal anerkennt, nichts Großes und Edles diesseits vernichtend abbricht, sondern auch das Tragische nur als ein verklärendes Märtyrtum auffaßt. Ja, selbst in der Behandlung der Liebe im gewöhnlichen, engeren Sinne zeigt sich jenes Streben nach einer höheren Vermittelung des Realen und Idealen. Denn wenn die Romantik die Natur und deren geistigsten Ausdruck, die menschliche Schönheit, als ein Symbol des Göttlichen betrachtete, so mußte notwendig auch die Liebe, als das tiefere Gefühl dieser Schönheit, dem Göttlichen zugewendet und in den geheimnisvollen Kreis des Ewigen mit aufgenommen werden. Daher sagte Schleiermacher damals in seinen vertrauten Briefen: »Nun aber die wahre himmlische Venus entdeckt ist, sollen nicht die neuen Götter die alten verfolgen, sonst möchten wir verderben auf eine andere Art. Vielmehr sollen wir nun erst recht verstehen die Heiligkeit der Natur und der Sinnlichkeit, deshalb sind uns die schönen Denkmäler der Alten erhalten worden, weil es soll wiederhergestellt werden, in einem weit höheren Sinne als ehedem, wie es der neuen schönen Zeit würdig ist: die alte Lust und Freude und die Vermischung der Körper und des Lebens nicht mehr als das abgesonderte Werk einer eigenen gewaltigen Gottheit, sondern eins mit dem tiefsten und heiligsten Gefühl, mit der Verschmelzung und Vereinigung der Hälfte der Menschheit zu einem mystischen Ganzen. Wer nicht so in das Innere der Gottheit und der Menschheit hineinschauen und die Mysterien dieser Religion nicht fassen kann, der ist nicht würdig, ein Bürger der neuen Welt zu sein.«

Und hier können wir nicht umhin, eines Vorwurfs zu gedenken, den man den Romantikern oft genug gemacht hat, eine laxe Moral nämlich bei Darstellung des Sinnengenusses. Ein solcher Vorwurf hätte nur da Sinn und vollkommene Berechtigung, wo das Gemeinsinnliche im kokett drapierten Gewande einer bloß konventionell idealen Tugendlichkeit in die Salons eingeführt werden soll, wie z.B. bei Wieland; oder[904] wenn es, wie in manchen neuesten Dichtungen, gradezu die Larve abwerfend, sich frech und nackt, als Göttin der Vernunft, zu allgemeiner Anbetung auf den Altar stellen will. Von beiden Todsünden aber müssen wir die Romantik, einige verhältnismäßig seltene Verirrungen aus unbewachter Lust abgerechnet, durchaus freisprechen; und Tieck, den jener Vorwurf vielleicht am häufigsten getroffen, sagt ganz richtig: »Nicht darin besteht das Verderbliche, daß man das Tier im Menschen als Tier darstellt, sondern darin, daß man diese doppelte Natur gänzlich leugnet und mit moralischer Gleisnerei und sophistischer Kunst das Edelste im Menschen zum Wahn macht und Tierheit und Menschheit für gleichbedeutend ausgibt.«

Wir sind gewiß weit davon entfernt, irgendeiner lüderlichen Literatur das Wort reden zu wollen. Aber ebenso entschieden müssen wir, um dem Dichter sein angeborenes Recht zu wahren, gegen das andere Extrem protestieren, daß in dieser religiös aufgeregten Zeit der Poesie um so größere Gefahr droht, als es sich in den Mantel christlicher Liebe hüllt und mit geweihten Waffen zu streiten scheint; wir meinen den unzeitigen Rigorismus kirchlicher Beschränktheit von der einen Seite und anderseits die Prüderie der Pietisten, dieser Pedanten der Sittlichkeit.

Die ersteren möchten am liebsten alles Sinnliche, namentlich alle Darstellung der Liebe, aus der Poesie verbannen, übersittlich und strenger als Christus, der selbst die Geschlechtsliebe durch die Ehe geheiliget hat. Sie wollen, allerdings ehrlich, nur das Überirdische, bemerken aber in ihrem blinden Eifer nicht, daß das Überirdische an sich undarstellbar ist, daß wir ja in aller Kunst nur die Sinnenwelt zum Maßstabe des Übersinnlichen haben, und daß mithin z.B. eine gute Darstellung der heiligen Jungfrau, so wie jedes Heiligenbild, ohne jenes lebendige Gefühl der irdischen Schönheit ganz unmöglich wäre. Es ist überhaupt wider die Weltordnung und hat jederzeit die meiste Verwirrung hervorgebracht, irgendeine nicht zu beseitigende Elementarkraft der Seele, weil sie dem Mißbrauch ausgesetzt, eigensinnig ignorieren zu wollen, anstatt sie vielmehr nach besten Kräften zu veredeln. Ist daher, nach menschlicher Voraussicht, durchaus keine Hoffnung vorhanden, die Liebe jemals gründlich von der Erde vertilgen zu können, so handeln diejenigen ohne Zweifel sehr unverständig, die sie von ihrem natürlichen Boden, von der Poesie, abzutrennen[905] trachten und, also entadelt, nur den niedern Begierden zum Raube vorwerfen. Eben weil die Liebe nur von Poesie lebt, bildet sie auch das unverwüstliche Grundthema aller Dichtungen, dessen höhere oder gemeinere Auffassung von jeher den wahren Dichter von dem unberufenen unterschieden hat.

Der Pietismus dagegen, zaghafter und ohne die entschlossene Begeisterung einer totalen Umkehr, die von keinen Konzessionen weiß, möchte zwischen jener klösterlichen Asketik und der weltlichen Zügellosigkeit sich in Poesie und Leben ein stillfrommes juste milieu zurechtmachen. Er will den Sinnengenuß und die Liebe sich allenfalls gefallen und wohlbekommen lassen, aber zugleich aus Furcht vor der Sünde die Lust neutralisieren. Die Farben sollen nicht brennen, die Blumen erst ängstlich fragen, ob sie nicht etwa zu kräftig duften und vielleicht ein paar Schwachköpfe berauschen könnten; das ganze gewaltige Leben soll in ein sanftes Handbuch der Moral umgeschrieben werden in usum Delphini: jener zerfallenen, wurmstichigen, hysterisch schreckhaften Unschuld, die aus jedem Blütenkelche nur ihr eigenes heimliches Teufelchen aufducken und ihr ein Schnippchen schlagen sieht. Aber die schwüle Langweiligkeit eines solchen englischen Sonntags ist, abgesehen von der dabei kaum zu beseitigenden Heuchelei, ohne Zweifel unheilbrütender als die unbefangene kecke Lust eines gesunden Volkes, das wieder einmal den Arbeitsschmutz der ganzen Woche von sich kehrt und sich innerlich stärkt. Denn rechte Freude ist eine ebenso starke Schwinge und lehrt ebenso herzinnig beten als die Not, weil beide, worauf es doch am Ende ankommt, die Rinde der trägen Gleichgültigkeit brechen, die das Herz vom Himmel scheidet. In jener temperierten, flauen, abgeblaßten Sitten-Diät und Selbst-Verhätschelung aber ist, wie in aller Halbheit, keine Erhebung.

Beide Gegner daher, die herben Asketiker wie die süßlichen Pietisten, würden, wenn das überhaupt tunlich wäre, in ihren Konsequenzen gar bald mit der Poesie fertig werden, die sie ohnedem, weil sie sie nicht verstehen, nur unwillig tolerieren. Denn eine kräftige Sinnenwelt ist das unabweisbare Material aller Kunst, und es ist gleichviel, ob die einen dieses Material ganz vernichten oder die andern es zu einer impotenten Negation verstümmeln wollen. Diese unerquickliche Leere aber, womit weder Gott noch Menschen gedient ist, müßte notwendig[906] wieder zur Lüge führen, d.i. zur falschen Sentimentalität, oder zu dem Surrogat einer abstrakten Unnatur mit körperloser Liebe und rhetorischer Tugend. Grade der frische Blick in die Welt und die tiefere Ahnung ihrer verhüllten geistigen Physiognomie bezeichnet den Dichter, dessen Sache es ist, nicht, wie der Vogel Strauß beim Anblick des Jägers, vor dem bunten Wirrsal feig den Kopf zu verstecken, sondern die sinnliche Erscheinung im Feuer himmlischer Schönheit zu taufen und vom Gemeinen zu erlösen. Nur in der wohlverstandenen, innigen Eintracht von Poesie und Religion also ist für beide Heil; denn die wahre Poesie ist durchaus religiös und die Religion poetisch, und eben diese geheimnisvolle Doppelnatur beider darzustellen, war die große Aufgabe der Romantik.

Allein mit der oben erwähnten Übereinstimmung und Hingabe der Romantik an die Naturphilosophie, so sehr sie auch den wechselseitigen Aufschwung fördern mochte, war doch unleugbar auch eine gefährliche Versuchung gegeben. Denn indem diese Philosophie alles unter dem Absoluten als eines zusammenfaßte, lag der extreme Irrtum nicht gar fern, welcher, wie Gott in der Welt, so die Welt und mithin auch jedes einzelne in jener allschaffenden, sich stets neugebärenden Weltkraft aufgehen läßt; mit einem Wort: jene dem mystisch gesteigerten Naturgefühl überall sehr gewöhnliche pantheistische Ausschweifung, wie wir sie in Werners frühesten Schriften bemerkt haben. Werner ist, nach mannigfachen Irrwegen, zur Kirche zurückgekehrt. Die Romantik aber entfernte sich auf der von ihm eingeschlagenen Bahn immer weiter von ihr, nicht gewahrend oder nicht beachtend, wie ihre ganze Bedeutung und das, was sie von früheren poetischen Schulen unterschied, eben darin lag, daß sie das Positive des Christentums, also die Kirche, in Leben, Kunst und Wissenschaft wieder frei und geltend zu machen übernommen. Nachdem dieser natürliche Boden einmal verschoben war, fing jeder an, anarchisch sich selbst seinen Katholizismus nach eignem poetischen Gelüsten zuzustutzen; und so entstand, gleich wie beim babylonischen Turmbau, allmählich jenes wunderliche Gemisch von Mystizismus, katholischer Symbolik und protestantischer Pietisterei, jener konventionelle Jargon altdeutscher Redensarten, spanischer Konstruktionen und welscher Bilder, der fast an des simplizianisch-deutschen Michels verstümmeltes Sprachgepräng erinnert, und insbesondere bei Loeben (Isidorus[907] Orientalis) unbewußt sich selber parodiert. Da bezieht sich alles mit einer Art von priesterlicher Feierlichkeit auf den Beruf des Dichters und die Göttlichkeit der Poesie, aber die Poesie selbst, das ursprüngliche, freie, tüchtige Leben, das uns ergreift, ehe wir darüber reden, kommt nicht zum Vorschein vor lauter Komplimenten davor und Anstalten dazu. Oder wer könnte wohl eine gelungenere Parodie von Novalis' Idee der Durchdringung und Erlösung der Welt durch die Poesie ersinnen, als Loeben in seinem sehr ernst gemeinten Romane »Guido« wider Wissen und Willen gegeben, wo es am Schlusse heißt:


»Tränen wohnen in den Düften,

In den Düften wohnt das Leben,

Leichtem Weben, lichtem Schweben

Losgegeben.«


»Die schlimme Zeit ist aus, das Suchen hat ein Ende. Die Asche ist weggeblasen, darunter auf dem Altar der Karfunkel gefunden. – Ein ewiger Tanz mit Träumen und Herzen soll unser Leben sein. – Weiter wurde der Kreis, durcheinander flogen die Tanzenden. Oben in der Luft tanzte der Adler und der Phönix, die Narzisse und die Hyazinthe zusammen; sie beschrieben unaufhörliche Kreise um die Sonne auf des Königs Haupt. – Und die Planeten faßten sich an und rannten um die neue Sonne, und die Sterne faßten sich an und brausten um die Unendlichkeit, und Milchstraßen tanzten mit Milchstraßen, und Ewigkeiten faßten Ewigkeiten an und immer schneller, immer schneller und schneller zuckten sie durcheinander und brannten auf und schlugen empor und stäubten verjüngend in die schmelzende Zeit hinein, und das Weltende jauchzte durch die sprühenden Funken hindurch, und die Walzer flogen um Gott.« – Andere nahmen die Sache schon leichter und tolerierten den Katholizismus, der ihnen nur noch ästhetische Gültigkeit hatte, als bloße Dekoration, wie z.B. Fouqué in seinen Ritterromanen; während andererseits der unpoetische Müllner gar das heidnische Schicksal mit seinem türkischen Fatalismus in katholisch-spanischem Kostüm zu seinem Tragödien-Gott einsetzte.

Wo aber der positive Glaube abhanden gekommen, schwankt das immer bewegliche Zünglein des menschlichen Geistes ratlos zwischen den entgegen gesetztesten Extremen; und so[908] erweckt auch hier die pantheistische Zerstörung der Individualität gar bald wieder alle alten, zärtlichen Mitgefühle für das schnöd verkannte Subjekt. Indem jedoch die Romantik auf solche Weise mit dem Unglauben, dem modernen Aberglauben an die Allmacht des Subjekts, und allen den weltlichen Mächten, gegen die sie ja eben zu Felde lag, so mattherzig zu kapitulieren, ja zu kokettieren begann, hatte sie auch schon sich selbst säkularisiert. Es entstand in dem Feldlager Unsicherheit und Verwirrung und aus dieser Verwirrung, weil sie den Nerv des Ganzen traf, jene innere Zerrissenheit, welche die letzten Stadien der Schule charakterisiert und nichts mehr von der kecken Zuversicht und Morgenfrische weiß, mit der die ersten Romantiker im Vollgefühl des guten Gewissens ausgezogen.

Aber auch noch von einer anderen Seite, auf dem eigentümlich künstlerischen Gebiete der Romantik selbst, lauerte der Feind. In der zweideutigen Richtung, die Tieck mit seiner Ironie angegeben, lag schon der heimliche Abfall. Denn was die Romantik unternommen, konnte, wie wir gesehen, nur aus dem innersten Marke der Gesinnung, aus der tiefsten Wurzel des religiösen Lebens heraufgebaut werden; wir sagten schon früher, ihre Aufgabe war halb eine ethische, die romantischen Poeten aber nahmen sie bloß ästhetisch. Indem sie mit jener ironischen Vornehmheit sich über den Inhalt hinausstellten, ging ihnen dieser allmählich und unvermerkt in der bloßen Form auf. Es konnte daher nicht fehlen, die Form wurde zur Formel, und es entstand eine romantische Manier, wie sie z.B. in Fouqués Recken uns anwidert. Ja, der scharfe Akzent, den sie hiernach einseitig auf die bloße Form legten, und die darin erlangte Meisterschaft mußte, weil hier das Talent willkürlich zu schaffen schien, ihrerseits wiederum zu einer aristokratischen Selbstvergötterung, zu dem Genie-Kultus führen, der in manchen romantischen Dichtungen fast ausschließlich gefeiert wird.

So hatten nun allerdings die Romantiker – und hier erscheinen sie durchaus liebenswürdig – den Rationalismus aus allen seinen verjährten Positionen und Verstecken in Religion, Politik, Haus, Erziehung und Sitte unbarmherzig herausgejagt; vielleicht das ergötzlichste Halali, das jemals durch die Literatur erklungen. Das Feld, das sie damals auch in der öffentlichen Meinung vollständig behauptet, war mit papiernen[909] Lorbeerkränzen und Perücken bedeckt, und die zu Tod erschreckten Kahlköpfe, nachdem die wilde Jagd längst vorübergestürmt und sie selbst sich wieder stattliche Zöpfe angedreht haben, können die unerhörte Keckheit noch immer nicht vergessen, und rufen ihnen noch bis heute ingrimmig das entsetzliche Wort: Jesuiten! nach. Mit Recht nannte daher Goethe die Romantiker fürchterliche Gegner »aller Nichtigkeit, der Parteisucht für das Mittelmäßige, der Augendienerei, der Katzenbuckelgebärden, Leerheit und Lahmheit, in welcher sich damals die wenigen guten Produkte verloren«. – Allein es war bei ihnen mehr oder minder eben auch nur die frische Jagdlust, die sie so weit fortgerissen. Sie hatten sich durch das wuchernde Schlingkraut der rationalistischen Wüste zwar tapfer durchgehauen, stutzten aber, als sie nun plötzlich vor der vergessenen, alten Kirche standen; sie wollten allerdings das Positive, aber nicht aus orthodoxem Eifer, sondern um des Geheimnisvollen und Wunderbaren, um des schönen Heiligenscheins willen, der das Positive umgibt; sie gaben statt der heidnischen Mythologie eine christliche Mythologie; mit einem Wort: sie verfochten einen Glauben, den sie im Grunde selber nicht hatten.

Und das konnte auch füglich nicht anders sein. Wir sahen, der Inhalt der Romantik war wesentlich katholisch, das denkwürdige Zeichen eines fast bewußtlos hervorbrechenden Heimwehs des Protestantismus nach der Kirche. Daher auch die auf den ersten Blick befremdende Erscheinung, daß diese moderne Romantik grade im katholischen Süden nur wenig Anklang gefunden, weil eben hier die Poesie der Religion, die sie heraufbeschwören wollten, wenigstens im Volke noch fortlebte; man erstaunte oder lächelte über solche luxuriöse Anstrengungen für etwas, das sich ja von selbst verstand. Im nördlichen Deutschland dagegen, welchem die Romantiker angehörten, waren diese fast ohne Ausnahme protestantisch geschult und in der außerkirchlichen Wissenschaft und Lebensgewohnheit aufgewachsen. Sie mußten daher gleichsam sich selbst erst ins katholische Idiom übersetzen, das nicht ihre Muttersprache war; sie hatten dort frühzeitig schon vom Baume der Erkenntnis genascht und jene katholische Unbefangenheit und Unschuld verloren, die, weil sie es ganz ist, kaum weiß, daß sie katholisch sei; es fehlte ihnen mithin der natürliche Boden einer katholischen Gesinnung, die allein vermögend[910] war, ihre Überzeugungen zur lebendigen poetischen Erscheinung zu bringen. Daher ihre unsichere Haltung, dieser gemachte, sprunghafte, forcierte Katholizismus, der, stets unbefriedigt, immer über sich selbst hinausgeht.

In Hoffmann sahen wir das letzte aufflackernde Knistern der Flamme, die bereits allen Inhalt verzehrt hatte, und der endliche Sprung aus dieser Phantasterei zu dem neuesten Nihilismus hat hiernach kaum etwas Befremdendes mehr. Erging es doch längst schon den Romantikern ungefähr wie den römischen Auguren, die bei ihren feierlichen Weissagungen einander nicht ohne heimliches Lächeln ins Gesicht sehen konnten. Prozessionsmüde von ihrer Wallfahrt aus dem heiligen Lande zurückgekehrt, fühlten sie eine menschliche Sehnsucht nach den Fleischtöpfen der irdischen Heimat und schämten sich ihrer armen, schäbig gewordenen Pilgertracht vor der daheimgebliebenen Geistreichigkeit, die ihrerseits nicht unterließ, die Zurückgekehrten mit einer Marseillaise großmütig einzuholen. Heinrich Heine, ursprünglich selbst noch Romantiker, macht hierbei die Honneurs, indem er aller Poesie das Teufelchen frivoler Ironie anhängt, das jubelnd ausruft: Seht da, wie hübsch, ihr guten Leute! aber glaubt ja nicht etwa, daß ich selber an das Zeug glaube! Fast jedes seiner schönen Lieder schließt mit solchem Selbstmorde. Die Zeit hatte allgemach den Romantikern hinter die Karte geguckt und insgeheim Ekel und Langeweile vor dem hohlen Spiele überkommen. Das sprach Heine frech und witzig aus, und der alte Zauberbann war gelöst.

So gefährlich ist es, mit dem Heiligen zu spielen. Denn wer hochmütig oder schlau die ewigen Wahrheiten und Geheimnisse als beliebigen Dichtungsstoff zu überschauen vermeint, wer die Religion, die nicht dem Glauben, dem Verstande oder der Poesie allein, sondern allen dreien, dem ganzen Menschen angehört, bloß mit der Phantasie in ihren einzelnen Schönheiten willkürlich zusammenrafft, der wird zuletzt ebensogern an den griechischen Olymp als an das Christentum glauben und eins mit dem andern verwechseln und versetzen, bis der ganze Himmel öde und leer wird. Wahrlich, die rechte Poesie liegt ebensosehr in der Gesinnung als in den lieblichen Talenten, die erst durch die Art ihres Gebrauches groß und bedeutend werden. – Wie wenig aber diese spätere Richtung der Romantik nach dem Sinne ihrer Begründer war, beweist u.a. ein im[911] Morgenblatt veröffentlichter Brief A.W. Schlegels an Fouqué. Hier sagt nämlich der erstere schon im Jahre 1806: »Wie Goethe, als er zuerst auftrat, und seine Zeitgenossen, Klinger, Lenz usw. (diese mit roheren Mißverständnissen), ihre ganze Zuversicht auf Darstellung der Leidenschaften setzten, und zwar mehr ihres äußeren Ungestüms als ihrer inneren Tiefe, so haben, meine ich, die Dichter der letzten Epoche die Phantasie, und zwar die bloß spielende, müßige, träumerische Phantasie, allzusehr zum herrschenden Bestandteil ihrer Dichtungen gemacht. Anfangs mochte dies sehr heilsam und richtig sein, wegen der vorhergegangenen Nüchternheit und Erstorbenheit dieser Seelenkraft. Am Ende aber fordert das Herz seine Rechte wieder, und in der Kunst wie im Leben ist doch das Einfältigste und Nächste wieder das Höchste. – Die Poesie, sagt man, soll ein schönes und freies Spiel sein. Ganz recht, insofern sie keinen untergeordneten, beschränkten Zwecken dienen soll. Allein, wollen wir sie bloß zum Festtagsschmuck des Geistes, zur Gespielin seiner Zerstreuung? oder bedürfen wir ihrer nicht weit mehr als einer erhabenen Trösterin in den innerlichen Drangsalen eines unschlüssigen, zagenden, bekümmerten Gemüts, folglich als der Religion verwandt? Darum ist das Mitleid die höchste und heiligste Muse. Mitleid nenne ich das tiefe Gefühl des menschlichen Schicksals, von jeder selbstischen Regung geläutert und dadurch schon in die religiöse Sphäre erhoben. Darum ist ja auch die Tragödie, und was im Epos ihr verwandt ist, das Höchste der Poesie.«

Nicht in ihren Intentionen also lag der Fall der romantischen Poesie, sondern in ihrem eigenen Abfall von jenen Intentionen, und dieser Abfall wieder weit weniger in einer treulosen Felonie der Dichter als in der Gleichgültigkeit der Zeitgenossen.

Welche lebendige Romantik entfalteten z.B. der abenteuernde Herzog von Braunschweig, Schill und der Tiroler-Aufstand im Jahre 1809! Dennoch hatte der Sturm damals alles wieder verweht. Denn das Maß des Unglücks war noch nicht erfüllt und hatte die Eisdecke des Nationalgefühls noch nicht gebrochen. Aber jene leuchtenden Heldengestalten blieben mahnend im Angedenken der Menschen und waren Vorzeichen und Erwecker des Befreiungskrieges.

Ebenso verhallten die Klänge der romantischen Poesie in der harten Zeit, nur von wenigen innerlichst vernommen;[912] denn sie appellierte an ein katholisches Bewußtsein, das noch kaum erwacht und nirgend reif war. Sie mußte abfallen wie vorzeitige Blüten eines künftigen Frühlings.

Aber, wir sagen es wiederholt, nicht ohne eigene Schuld, wie wir oben gesehen. Der Hochmut des Subjekts, der einst schon die Engel stürzte, hat auch die Romantik gestürzt. Und sofort begann auch die Literatur, als hätte sie nichts vergessen und nichts gelernt, ihr altes, kaum abgebrochenes Geschäft wieder, mit neuen, von der industriellen Zeit gelieferten Kunststücken, aber instinktartig mit demselben fanatischen Haß gegen die Kirche. Rahel, welche in diesem Betracht jene Übergangsperiode am schärfsten repräsentiert, schreibt im Jahre 1811 an Marwitz: »Es gibt nur Lokalwahrheiten, und die Zeit ist nichts als die Bedingung, unter welcher sie sich bewegen, entwickeln, leben, wirken. – Unsere Zeit ist die des sich selbst ins Unendliche, bis zum Schwindel spiegelnden Bewußtseins.« Und im Jahre 1820 ruft sie aus: »Es muß eine neue Erfindung gemacht werden; die alten sind verbraucht. – Die jetzige Gestalt der Religion ist ein beinah zufälliger Moment in der Entwicklung des menschlichen Gemüts und gehört zu seinen Krankheiten. Sie hält zu lange an usw.« – Bettina geht schon munter und praktischer ans Werk. Sie schreibt an die Günderode: »Laß uns eine neue Religion stiften für die Menschheit, bei der's ihr wieder wohl wird.« Sie nennt diese neue Religion »Schwebereligion«. Der Mensch soll sich aus selbstbewußter Eigenmacht und ohne nach Traditionen oder Bildung zu fragen zu leiblicher und geistiger Gesundheit herausgestalten, was ihn doch allein glücklich mache. »Mir deucht«, sagt sie, »mit den fünf Sinnen, die uns Gott gegeben hat, könnten wir alles erreichen, ohne dem Witz durch Bildung zu nahe zu kommen.« – Diese Schwebereligion ist also im Grunde wieder nichts anderes als die alte, nur etwas anders modulierte Glückseligkeitstheorie der Persönlichkeit. Denn ihr Gott ist nicht etwa die absolute Weisheit, wie die Kirchenväter irrtümlich behaupten, sondern »Gott ist die Leidenschaft« in der Menschenbrust, und »wer nit denkt, lernt nit beten«. – Wie aber das solchergestalt freigewordene Subjekt dachte und beten lernte, zeigt Heine, der die neuerfundene Religion, mit ironischer Zerstörung jener weiblich-poetischen Illusionen, aus ihrer Schwebe endlich auf ihre eignen, natürlichen, massiven Beine setzte. Das Christentum nämlich erklärt[913] er gradezu für eine unausführbare Idee, weil es, als bloßer Spiritualismus, die Sinnlichkeit vernichten wolle; eine Prätention, die ihm und seinen Mitbetern außer allem Spaß liegt. Die Wahl ist daher bald getroffen: man schlägt den Geist tot, damit er die arme Materie nicht länger so impertinent inkommodiere, und der Humor des Ganzen ist sonach die möglichst gründliche Ausrottung alles störenden Gottesglaubens, dessen alte »Schweizergarde« das Judentum sei, oder mit anderen Worten: »die Rehabilitation der Materie«.

Diese Abwendung vom Positiven konnte aber natürlicherweise nicht auf das religiöse Gebiet allein beschränkt bleiben, sondern trübte, gleich einer Krankheit, die gesamte Weltanschauung. Nachdem man jetzt aus der oben erwähnten romantischen Dreieinigkeit von Staat, Kirche und Volk das eine versöhnende Mittelglied religiöser Liebe wieder herausgenommen, stehen Staat und Volk unvermittelt, schroff und feindlich, als bloßes Recht und Gegenrecht, einander gegenüber, und anstatt der wechselseitigen freien Unterordnung unter ein Höheres über beiden, wie die Kirche sie lehrt, bleibt das Mißtrauen, der Haß, der Trotz, mit einem Wort: die endlose Revolution. – Ebenso folgerecht richtete sich jene verwandelte Ansicht ferner auch gegen die Nationalität. Denn alle Nationalität ist durchaus positiv, das allgemein Menschliche, durch das angeborene geistige Maß eines besondern Volkes, durch seine Geschichte, Klima und alles, was der Mensch nicht willkürlich zu machen vermag, bedingt, begrenzt, modifiziert und zur individuellen Physiognomie ausgeprägt. Gegen diese göttliche Offenbarung im Leben, wie gegen die geoffenbarte Religion, gegen diese höhere Waltung und Erziehung der Völker-Individuen, sträubt sich das für mündig erklärte Subjekt als gegen eine unleidliche, unwürdige Schranke. Und so ist es unter anderem auch in die Mode gekommen, anstatt der nationalen eine Weltliteratur herzustellen, die in ihrer notwendigen Rückwirkung alle echte Vaterlandsliebe zur bloßen altväterischen Grille macht. So wird namentlich die Poesie eine ganz allgemeine Phraseologie, und die Gestaltung im Drama, dem nationalsten aller Dichtungsarten, zum konventionellen Begriffsskelett. Und wie die Romantiker beinah ohne Ausnahme Schellingianer, so sind die jetzigen Poeten fast alle Hegelianer, nicht zum Vorteil der Kunst, die bei Hegel, als ein bloß interimistisches Zeichen und Surrogat der noch[914] nicht vollständig logisch vermittelten Idee, nur eine sehr untergeordnete Rolle spielt.

Unsere neueste Poesie ist also im Grunde nur die Reaktion gegen die Romantik und hat alle von dieser quieszierten und vorlängst abgeschiedenen Geister als ihre Kampfgenossen wieder aufgerufen, die aber als bloße Revenants keineswegs ihre ursprüngliche Lebenskraft mehr bewähren. Da laufen alle Elemente und Richtungen gleichzeitig zusammen und prallen oft hart aneinander: der Humänitätskultus, die Sentimentalität, Pietismus, Kantsche, Schellingsche und Hegelsche Philosophie und politisches Bardengebrüll. Sie haben die Romantik überwunden, aber noch nichts Neues an deren Stelle gesetzt, indem sie das Alte, weil es sich modern kostümiert, für etwas Neues halten. Es ist eine bloße Übergangsperiode, alles noch im Kreißen und Gären begriffen, und wir müßten eigentlich hier schließen; denn es ist ganz unmöglich, ein Chaos zu umschreiben, die Geschichte einer Literatur auch nur anzudeuten, die sich noch keine bestimmte Physiognomie herausgebildet hat und in jedem Meßkatalog eine andere Miene macht. Doch läßt sich, wenn man genau hinsieht, noch immer der alte protestantische Familienzug deutlich erkennen, und man kann diese Literatur im ganzen als Negation, mithin als eine restaurierte Poesie des Verstandes bezeichnen.

Die Verstandespoesie wird aber jederzeit vorzüglich durch den Roman repräsentiert. Daher jetzt die noch immer steigende Sündflut von Romanen, und fast keiner darunter, wo nicht ein Stück modernster Philosophie abgehandelt und damit experimentiert würde. Es sind wesentlich Tendenzromane: für Sozialismus, für die frivole Salonweisheit, für Republik, Monarchie usw., die sich zum Teil untereinander auf das wütendste anfeinden, verleumden und bekriegen, aber sofort wie ein Mann zusammenstehen, wo es irgend etwa gilt, gegen das positive Christentum oder die Kirche Front zu machen. Hierbei spielt denn begreiflicherweise die alte Humanitätslehre wieder eine bedeutende Rolle: die Menschheit als ein Naturprodukt, ihre Veredelung als bloße Selbstdressur der ihr inwohnenden Kräfte. Da aber nun diese Kräfte in ihrem Grundtypus allerdings überall dieselben sind, so führt diese Ansicht notwendig zu einer wunderlichen Universalität und Weltbürgerei, die alles Eigentümliche planiert und verwischt. Es gibt fast keinen Winkel der Erde, wo sich unser Roman nicht schon angesiedelt[915] und gemütlich fraternisiert hätte; Spitzköpfe und Rundköpfe, Rothäute und andere Bärenhäuter werden frischweg unter ein und denselben Allerweltshut gebracht, als ob die Natur überall nach einer philosophischen Schablone bilde und es nicht, wie in jedem Dorfe Hinz und Kunz, so auch in der Geschichte der Menschheit besondere Völkerindividuen gebe.

Diese vorherrschende Verstandesrichtung zeigt sich auch in der psychologisch-pragmatischen Liebhaberei unserer Romane. Welche langweilig breite Expositionen! Der innere Mensch wird, anstatt aller göttlichen Fügung und Leitung, aus lauter Lappalien und zufälligen Umständen, die sich bei seiner Geburt, Erziehung usw. maßgebend ereignet haben sollen, mathematisch konstruiert und erklärt: aus dem Fall des Kindes eine schiefe Nase, aus der schiefen Nase ein schiefer Charakter. Dieser pragmatische Aberglaube ist ohne Zweifel der nüchternste Fatalismus und führt von selbst auf das Dogma von der sklavischen Nachahmung der Natur. Solch Daguerreotyp-Porträt gibt freilich jedes Härchen und jede Warze wieder, aber das materielle Licht erkennt eben nur den Leichnam; der geistige Lichtblick des Künstlers kann erst das Wunderbare im Menschen, die Seele, befreien und sichtbar machen. Und eben weil die Phantasie ganz in den Hintergrund gedrängt und der Sinn von allem Mystischen und Wunderbaren abgewendet ist, so glitt die Poesie in natürlich wachsender Schwerkraft immer mehr vom Sein zum Schein, von der Religion zur Moral, von der Moral zum bloßen Anstand und von dem stets biegsamen und zweideutigen Anstande zum ästhetisierten Materialismus, der in endlich errungener Freiheit mit den Lüsten spielt wie das Tier.

Die Salonweisheit nebst obligatem Anstande haben besonders die Frauen zu ihrem Thema sich erwählt. Auch der Anstand aber, dieser echte Schein des Seins, hat seinen Pietismus und seine Freidenkerinnen. Der Pietismus erscheint hier als allerliebste Kirchgängerin mit einfach gescheiteltem Haar und einem zierlichen Herrnhuterhäubchen darüber, die vor lauter Besorgnis, sich gottselig zu kostümieren und zu bewegen, über jedes Steinchen stolpert und spröde die Männer verachtet, weil sie nicht ebenfalls Hauben tragen. Die Freidenkerinnen im Gegenteil lieben die Männer gar sehr, mit denen sie, so übel es ihnen auch bekommen mag, gern eine Zigarre rauchen. Sie halten abergläubig durchaus alles für erlaubt, ja für tugendhaft[916] im sublimeren Sinne, was in der schlechten Gesellschaft der sogenannten guten Gesellschaft geadelt und salonfähig ist, und schminken das Laster so dick mit modernster Geistreichigkeit, daß sie die darunter hervorgrinsende Totenmaske selber nicht merken. Beides ist im Grunde, nur nach verschiedenen Seiten hin, dieselbe kokettische Vornehmtuerei. Der Hauptakt aber in diesen Frauenromanen ist fast ohne Ausnahme: Entsagung. Wir bezeichneten oben die Entsagung als den spezifisch christlichen Heldenmut. Es kommt jedoch hierbei einzig und allein darauf an, was aufgegeben und wofür es aufgegeben werden soll. Es ist durchaus ein ganz ander Ding, ob Calderons standhafter Prinz einem königlichen Heldenleben um Gott und der Ehre willen, oder ob eine alte Jungfer aus sentimentaler Schonung eigensinniger Papas und schlimmer Tanten oder aus emanzipierter Überbildung, welcher kein Mann gut genug ist, dem Ehebett entsagt; jener wird durch seine Selbstaufopferung erst recht ein königlicher Held, diese ist und bleibt eine klägliche alte Jungfer.

Als Chorführer aber hat sich in neuester Zeit vorzüglich der historische Roman hervorgetan. Der historische und der philosophische Roman umschreiben so ziemlich die ganze Peripherie der Verstandespoesie, indem dieser Ideale macht, jener sich breit auf die Wirklichkeit stellt. Das ist nur eine Teilung dessellben Geschäfts, weshalb sie denn auch häufig ineinanderspielen; und es ist für diese Verstandesrichtung im Grunde gleichgültig, daß im philosophischen Roman aristokratisch ein Individuum, im historischen demokratisch das Volk den Helden vorstellt; denn beiderlei Helden lassen sich ebensogut willkürlich idealisieren als modernisieren. Und beides hat unser historischer Roman sattsam besorgt.

Es mag immerhin sein, daß der historische Roman erst durch den Freiheitskrieg, wo die Weltgeschichte wieder einmal erschütternd über den deutschen Boden schritt, bei uns in die Mode gekommen. Allein die romantischen Bivouacs, die schottischen Sansculotten, die Rotmäntler und Baschkiren waren denn doch nicht das Welthistorische dieses Kampfes, sondern die unsichtbare Oriflamme der Begeisterung war es, welche die bewaffnete Völkerwanderung aufgerufen und geführt. Aber diese ist vergessen, und die schmutzigen Baschkiren sind geblieben. So ist ja auch bei Walter Scott, dem eigentlichen Vater unserer historischen Romane, keineswegs[917] die Szenerie und sorgfältige Kostümierung das Bedeutende, diese ist vielmehr oft sehr langweilig; es ist die männliche Trauer, das Tragische des Untergangs einer edlen Nationalität. Was aber haben uns unsere van der Velde, Tromlitz, Blumenhagen u.m.a. dagegen geboten? Nichts als plauderselige Dekoration, Schwertergeklirr, Humpenklang und geharnischte Ritter mit Manschetten unter dem Eisenhandschuh und Gardereiter-Prahlereien im Munde. – Unsere bedeutendsten Romanhistoriker sind unstreitig Tieck in seinem »Aufruhr in den Cevennen« und zum Teil in den späteren Novellen; und Steffens in seinen drei notwegischen Romanen. Und doch sind jene Novellen so wie diese Romane eigentlich nur Tieck und Steffens selbst. Alle Kunst, wenn sie der Philosophie dienstbar ist, wird notwendig allegorisch; und so sind auch die Steffenschen Romane, bei allem oft glücklichen Streben nach Objektivität mehr oder minder bloße Allegorien philosophischer Sätze oder doch Dolmetscher der Lebensansichten des geistreichen Verfassers. Und als Tieck in den Novellen von seiner romantischen Weltschau zur Gegenwart hinabstieg, brachte er auch hier seine ironische Skepsis mit, die allen realen Boden wieder wegeskamotiert und uns nirgend wahrhaft heimisch werden läßt. Das eigentliche Ziel aber des modernen historischen Romans ist, wie schon oben angedeutet worden, in »Wilhelm Meisters Lehrjahren« am glücklichsten erreicht. Hier hat Goethe den verhüllten Geist einer denkwürdigen Entwicklungsperiode rein und scharf erkannt und ihn, indem er ihn frei walten läßt, mit allen seinen großen Bestrebungen und kleinlichen Torheiten durch eine meisterhafte Darstellung für die Nachwelt festzubannen gewußt. Als ein solcher Sittenspiegel würde in manchen Beziehungen auch Nicolais »Sebaldus Nothanker« gelten können, wenn der ganz prosaische Verfasser nicht beständig den Spiegel nach vorgefaßten Meinungen willkürlich verschöbe und verrückte, um die Dinge, nicht wie sie sind, sondern wie er sie durchaus sehen will, zu schauen; und wenn dieser höchst langweilige Roman vermöge seiner schwerfälligen Trockenheit überhaupt zur Poesie zählte.

Alle diese Romane aber haben das miteinander gemein, daß sie in dem Verlauf der Tatsachen nichts Wunderbares, mithin auch keine göttliche Offenbarung und Leitung anerkennen. Sie dulden keine Götter außer den natürlichen Dingen, die Gottheit waltet allein in dem Naturgeist oder ist vielmehr der[918] Naturgeist selbst, aus dem die Völkerindividuen wie anderes Kraut hervorwachsen. Der historische Roman hat, wie schon sein Name andeutet, allerdings nahe Verwandtschaft mit der Geschichte; und die Geschichte ist ohne Zweifel von hoher, ja bei weitem größerer poetischer Schönheit, als sie irgend ein Dichter je erfinden könnte. Allein sie ist es nur in ihren großen Hauptzügen und in dem wunderbaren Zusammenhange des Ganzen. Der historische Roman aber kann aus dem Ganzen immer nur Einzelnes herausheben, er ist der Kleinkrämer der Geschichte. Um nun diesen Miniaturring in die große fortlaufende Kette einzufügen und einigermaßen verständlich zu machen, wird gewöhnlich ein ganzer Apparat sekundärer Details und Beirats verbraucht. Daher bleiben so viele dieser Romane in der bloßen Exposition, in der umständlichen Beschreibung von Trachten, Turnieren und Redensarten jämmerlich stecken. Andere kühnere Autoren dagegen suchen sich in dieser Not auf dem kürzesten Wege zu helfen, indem sie die Jetztzeit antedatieren und der Vergangenheit frischweg das Kuckucksei ihrer modernen Weisheit unterlegen; gleich wie ja in einem ähnlichen Falle z.B. der Maler Lessing in seine neuesten Historienbilder alle gehässige Konfessionspolemik der Gegenwart hineingemalt hat. Hierdurch wird aber die Geschichtsverderberei, die schon bei Historikern von Metier nichts weniger als selten ist, als ein förmliches System traditionell gewordner Lügen auch in weiteren unwissenschaftlichen Kreisen populär und stabil gemacht; und wir besitzen einen bedeutenden Vorrat von dergleichen Romangeschichten, die rein tendenziös, also weder Gedichte noch Geschichte sind. Und so ist denn die Geschichte dieses Romans eigentlich nur die Geschichte der wechselnden Krankheitssymptome unserer Zeit, und fast alle übersahen vor lauter religiösen, philosophischen und politischen Hintergedanken, daß auch der Roman doch vor allem andern ein Gedicht sein muß.

Ähnliche, nur durch die Verschiedenheit der Gattung modifizierte, Erscheinungen charakterisieren auch unser neuestes Theater. Wir haben oben die historische Strömung des deutschen Dramas nachzuweisen versucht: wie dasselbe in der Gestalt der Mysterien in der Kirche seinen Ursprung genommen, dann, bei wachsender Verweltlichung durch Emanzipation der Zwischenspiele des Mysteriums unter dem Volke allmählich zum Fastnachtsspiele ausgeartet; nach dem Dreißigjährigen[919] Kriege aber, da das Volk verwildert war, in Nachahmung der Franzosen und Italiener als Staatsaktion, als Schäferei und Oper an die Fürstenhöfe gekommen; und endlich, seiner wesentlich demokratischen Natur folgend, zu den reichen und gebildeteren Städten überging, unter denen zunächst Hamburg den Vorrang behauptete. Und hier beginnt, mit Lessing, eigentlich erst unser neues selbständiges Schauspiel.

Allein Lessing war zu kritisch und zu wenig produktiver Dichter, um die neue Bühne, die ihn überdies nur transitorisch als Vorschule seines Scharfsinns interessierte, bleibend zu begründen. In seiner genialen Ungeduld hat er mehr nur die Grundzüge des neuen Schauspiels, wie es ihm vorschwebte, angedeutet, er zeigte eigentlich nur, wie man es nicht machen sollte, ohne das Bessere lebendig verkörpern zu können; und so ließ er die Sache, ehe sie fertig war, wieder fallen, um zu Wichtigerem fortzueilen. Es ist ihm hier wie später in den religiösen Dingen ergangen. Indem er kühn die Schranken der alten Schule niederwarf und die Natürlichkeit dagegen setzte, hatte er am Ende wider Willen nur dazu beigetragen, die allgemeine Anarchie noch zu vermehren. Daher sehen wir, nachdem die romantische Episode abgespielt, in unserem jetzigen Drama fast alle Phasen jener alten dramatischen Strömung, als wäre seitdem eben nichts geschehen, sich von neuem wiederholen, und zwar nicht etwa sukzessiv, sondern gleichzeitig und oft bei ein und demselben Dichter. So gewahren wir häufig wieder mittelalterlich-mystische Elemente und Züge, die aber, da der alte Glaube fehlt, in neuen Aberglauben umgeschlagen. Das alte Fastnachtsspiel, nachdem es seinen Hanswurst begraben, ist unmittelbar von dem Grabe des Dahingeschiedenen weinerlich und in eleganter Hoftrauer als feines Lustspiel mitten unter die Gebildeten getreten. Aber die alte unflätige Natur ist ihm geblieben, und die zahme kokettierende Lüderlichkeit mit der Prätention des Anstandes ist unendlich widerlicher und unsittlicher als die hanswurstische Flegelei. Dieses feine Lustspiel hat, wie alle Parvenus, eine sehr vornehme Miene angenommen. Es verachtet die lustigen Schwänke des Volks, desgleichen die natürliche Intrige und Sprache der einfachen plebejischen Liebe und handelt am allerwenigsten etwa wie Aristophanes oder noch Tieck in seinen Spottkomödien von den großen Welttorheiten und Irrtümern, sondern vertieft sich voll geckenhafter Eitelkeit lediglich in die konventionelle[920] Kleinkrämerei der gebildeten Sozietät; weshalb es denn, bei seiner pedantischen Ungeschicklichkeit, beständig aus Frankreich, wo diese Salon-Kleinstädterei zu Hause, Witz und vornehmen Jargon sich borgen muß. – Auch die grausame Staatsaktion endlich ist von neuem aufgelebt. Die alte Furie rast, nach Blut lechzend, wieder durch unsere Trauerspiele und Melodramen, wo Ehebruch, Blutschande, Notzucht, Mord und Totschlag, Operngebrüll und Paukenknall und eingeschobene Balletts gar anmutig miteinander abwechseln.

Besonders aber machen zwei Erbstücke aus der vorromantischen Zeit: das Schicksal und die Sentimentalität, unseren dramatischen Schriftstellern noch immer viel zu schaffen.

In der alten Tragödie stand die Willkür der Menschen der Willkür der Götter, eine Naturkraft der andern, schroff gegenüber, beide fast gleichberechtigt. Es konnte mithin hier nicht füglich von Aufopferung oder Ergebung, vielmehr nur von einem Kampfe auf Tod und Leben die Rede sein; und dieser Kampf war das heidnische Schicksal. Durch das Christentum aber ist an die Stelle dieses unversöhnlichen Widerstreits eine höhere, erbarmend waltende, göttliche Leitung getreten, deren Wege freilich oft unerforschlich, deren Gedanken, weil sie auf das Ganze des Weltalls gerichtet, nicht unsere Erdwinkelgedanken sind. Um nun diese empfindlich demütigende Weltansicht möglichst zu beseitigen, haben unsere Dramatiker vorzüglich dreierlei Auswege erfunden. Die einen setzen stolz den subjektiven Eigensinn gegen die objektive Wirklichkeit gegebener oder selbstgemachter Lebensverhältnisse, die sie vornehm Schicksal nennen. Allein dieser Eigensinn glaubt im Grunde weder an sich noch an seine Schicksalsfiktion, er hat kein ewiges Recht, sein Schicksal keine göttliche Übermacht, er rennt sich im fünften Akt dummerweise den Kopf ein, und das Schicksal lacht sich schadenfroh ins Fäustchen. Das ist der Liberalismus unserer antikisierenden Trauerspiele. – Andere, zahmer und serviler gesinnt, geben lieber gleich vorweg sich selber auf, indem sie die göttliche Leitung als eine pedantisch unabänderliche Prädestination hinstellen und daher einem völlig undramatischen Fatalismus verfallen. Da hört aber alle sittliche Freiheit und mithin auch aller tragische Kampf gleich im ersten Akte auf; der Held wird ein bloßer Automat, und das Ganze schnurrt wie ein einmal aufgezogenes Uhrwerk, mechanisch willenlos ab. – Die dritten endlich[921] erachten die göttliche Vorsehung, da sie sich unsern hochmütigen Plänen und Gelüsten so gar nicht affabel erweisen will, schlechthin für ein Regime von geheimen Naturkräften, necken den Kobolden, Ahnenfrauen, verhängnisvollen Dolchen etc., die hinter dem Vorhange spuken, um die armen Menschen zu erschrecken und zu ängstigen. Und diese Geisterseher, wie jene Fatalisten, bilden den eigentlichen Stamm unserer Schicksalstragödie, wie sie von Werner aufgebracht, dann von Grillparzer in seinen Anfängen, insbesondere aber von Müllner und dessen Nachahmern des breiteren ausgesponnen worden. Die Sachen sind aber durch das Christentum in dem allgemeinen Bewußtsein durchaus anders gestellt und diese Tragödien mithin nur noch ein leeres Spiel mit hohlen Begriffen. Die neuere christliche Tragödie dagegen hat in der Tat nur eine Bahn: den Kampf mit den dämonischen Kräften, nicht draußen, sondern in der Menschenbrust selbst, die beständig gegen die göttliche Führung rebellieren, und die Versöhnung dieses Kampfes durch die Liebe.

Wir haben vorhin unter den aus der Zopfzeit überkommenen Erbstücken auch die Sentimentalität genannt und dieselbe schon früher als die geschäftige Schönfärberei des an sich Farblosen und Alltäglichen kennengelernt. Seitdem ist aber diese Erbsünde gleichfalls an ihr natürliches Maß herangewachsen und stärker und impertinenter geworden. Sie begnügt sich nicht mehr mit dem harmlosen Vergnügen, die schmutzige Wäsche des häuslichen Philisteriums rein zu waschen, gefallene Mädchen unter die Haube zu bringen usw.; sie verbreitet nun ihre zärtliche Sorgfalt auf den Schmutz der ganzen Menschheit. Die armen, von Religion und Moral bisher so arg bedrängten Sterblichen sollen sich endlich nicht länger genieren und von der trübseligen Delinquentenreligion des bleichen bluttriefenden Juden Christus, der der Welt alle Freuden geraubt, tyrannisieren lassen; zu ihrer größeren Bequemlichkeit und Erleichterung soll fortan die Materie Gott nur der Sinnengenuß heilig und das ganze Leben ein allgemeiner Karneval auf Erden sein. – Viele der neueren Schauspiele, und bei weitem die meisten unserer sozialen Romane, sind offenbare Studien zu diesem Simonismus der Sinnlichkeit. Vorzüglich aber ist dieses menschenfreundliche Evangelium in alle Welt ausgefahren durch unsere modernste Lyrik, die in der Tat bereits ihre Saturnalien feiert und das goldene Kalb des[922] Materialismus jauchzend umtanzt. Einige Melancholiker unter ihnen spielen zwar nebenbei auch noch die Zerrissenen und haben Byrons finstere Maske angetan. Allein Byron war wirklich zerrissen, was immerhin einen tragischen Effekt macht; diese Poeten dagegen zerreißen kindisch sich selbst oder lassen sich vielmehr von ihren imaginären Bestien zerreißen, um wie römische Gladiatoren in der Arena zum Ergötzen des erstaunten Publikums in malerischen Stellungen zu verbluten. Der maitre de plaisir aber auf diesem Karneval ist Heinrich Heine; und es dürfte die Schar seiner Nachtänzer billig entrüsten, daß er, wie es heißt, in seinem Testament sich herabgelassen hat, wieder Gott einzusetzen und die Unsterblichkeit der Seele zu dekretieren.

Ungeachtet dieser ephemeren Erscheinungen indes, ja zum Teil aus natürlicher Opposition dagegen, haben die Stimmungen der Welt sich mannigfach wieder anders verteilt und gestaltet. Schon Novalis, wie wir oben gesehen, sagte prophetisch: daß die Zeit der Auferstehung gekommen und grade die Begebenheiten, die gegen ihre Belebung gerichtet zu sein schienen, die günstigsten Zeichen ihrer Regeneration geworden. Aus der Vernichtung alles Positiven hebe die Religion ihr glorreiches Haupt als neue Weltstifterin empor; in Deutschland könne man schon mit voller Gewißheit die Spuren einer neuen Welt aufzeigen.

Und in der Tat, wer erkennt in Deutschland die religiösen Zustände, wie sie zur Zeit der Romantik gewesen, heute noch wieder? An dem Kölner Ereignis sich selbst besinnend, in der herben Schule des Hohns und der Verfolgung seitdem erwachsen und gestählt, erstand überraschend eine unsichtbare Macht, etwas, das niemand erfunden, geführt oder geordnet, das die Romantiker träumten und selber nicht hatten – eine katholische Gesinnung. Und ihr gegenüber hat sich in dämonischem Instinkt aller Ingrimm des alten Rationalismus, der seinerseits konsequent nun beim nackten Heidentum angelangt, trotzig gelagert; Leipziger Plauderkonzile gegen eine Million Trierscher Wallfahrer; emanzipiertes Fleisch gegen das Brot des Lebens, eine Dichtkunst endlich, die keine Poesie mehr ist: eine in Haß und Hoffart betrunkene Rhetorik, die fanatisch die Freiheit des Blocksbergs proklamiert.

Welchem dieser beiden Heereslager, wenn auch vielleicht nach heißen Kämpfen, zuletzt der Sieg bleiben wird, ist uns,[923] mit Novalis, nicht zweifelhaft. Bei dem unverwüstlichen Ernste der Nation wird in Deutschland über kurz oder lang eine der Romantik in ihren ursprünglichen Hauptrichtungen mehr oder minder verwandte Reaktion sich geltend machen, nachdem jene Revolution, immer breiter die Massen durchdringend, einstweilen die Romantiker übergerannt und uns zum Ersatz nichts anderes als die vorlängst abgespielte Aufklärerei, nur mit veränderten Redensarten, wiedergebracht hat. Denn vergeblich will der Rationalismus, wie er sich jetzt als Kirche zu konstituieren strebt, nun auch seine aparte Poesie haben; beides unmöglich, weil er, seiner Natur nach, ebenso antikirchlich als unpoetisch ist. Tröstlich aber und als Pfand der Zukunft bedeutungsvoll ist es, zwischen jenen ungeheuern Staubwolken, aus denen uns nur stechende Augen und von Leidenschaften widerlich verzerrte Gesichter entgegenstieren, schon jetzt immer mehreren Dichtern zu begegnen, die das Herz haben, mitten in dieser Verwirrung einen andern Banner zu entfalten. Wir nennen hier nur Emanuel Geibels »Gedichte«, Adalbert Stifters »Studien«, und Annette von Droste-Hülshoff, die in ihrem »geistlichen Jahr« wahrhaft übermächtig mit den Zweifeln und Versuchungen der modernen Bildung ringt, bis Lust und Schmerz sich in göttlicher Liebe verklären.

Alle guten Geister loben Gott den Herrn. Mit diesem einfachkräftigen Exorzismus haben unsere frommen Vorfahren von jeher allen bösen Spuk gebannt und sind unangefochten hindurchgegangen. So wollen wir denn, auch in der Poesie, desgleichen tun gegen den lärmenden Hexensabbat unserer neuesten unschönen Literatur, wo die Konfusion endlich so groß geworden, daß die Christen heidnisch und die Juden (wie Berthold Auerbach in seinen Dorfgeschichten) christlich dichten. Hat doch die verblichene Romantik die blanke Waffe meisterhafter Formen uns so gut wie jenen hinterlassen, ja, was die Romantik Großes und Edles angeregt und jene nun als mittelalterliche Tradition zurückweisen, ist ein bedeutendes Vermächtnis, das der neuerstarkten katholischen Gesinnung allein zugute kommt, um daraus jener lügenhaften Phantasterei eine wahrhafte Poesie wieder entgegenzusetzen. Nicht durch juvenile Wiedererweckung der Romantik, wie die süßlichen »Amaranthen« und »Sieglinden« vergeblich versucht, noch durch absichtsvolle Kontrovers- und Tendenznovellen, womit die Gegner ihrerseits alle heitere Poesie hinwegdisputieren,[924] sondern einzig durch die stille, schlichte, allmächtige Gewalt der Wahrheit und unbedeckten Schönheit, durch jene religiös begeisterte Anschauung und Betrachtung der Welt und der menschlichen Dinge, wo aller Zwiespalt verschwindet und Moral, Schönheit, Tugend und Poesie eins werden. Gesundheit und Freudigkeit gegen blasierte Zerrissenheit, fromme Naturwahrheit gegen gespreizte Lüge, eine Poesie der Liebe gegen die Poesie des Hasses. Es sei keine Propaganda des Katholizismus; aber eine allem Unkirchlichen durchaus fremde Gesinnung, die alles Leben nur an dem mißt, das allein des Lebens wert ist, und die wir heutzutage getrost eine katholische nennen dürfen; das Ganze umgebend, wie die unsichtbare Luft, die jeder atmet, ohne es zu merken. Denn das ist ja eben das poetische Geheimnis des religiösen Gefühls, daß es wie ein Frühlingshauch Feld und Wald und die Menschenbrust erwärmend durchleuchtet, um sie alle von der harten Erde blühend und tönend nach oben zu wenden. Es sei mit einem Wort: eine der Schule entwachsene Romantik, welche das verbrauchte mittelalterliche Rüstzeug abgelegt, die katholisierende Spielerei und mystische Überschwenglichkeit vergessen und aus den Trümmern jener Schule nur die religiöse Weltansicht, die geistige Auffassung der Liebe und das innige Verständnis der Natur sich herübergerettet hat. – »Es ist nicht not«, sagte schon Brentano einst, »in der Kunst das Vortreffliche anzuschaffen, es ist not, das Schlechte, Falsche, Verkehrte abzuschaffen, denn alles Vortreffliche erblüht aus dem Rechten und Wahren.« Was hat der ewige Himmel mit jenen vorüberziehenden schmutzigen Staubwirbeln zu schaffen? Wandeln doch die alten Sterne noch heut, wie sonst, die alten Bahnen und weisen noch immer unverrückt nach dem Wunderlande, das jeder echte Dichter immer wieder neu entdeckt. Wo daher ein tüchtiger Schiffer, der vertraue ihnen und fahr in Gottes Namen!

Fußnote

1 Wir bemerken hier beiläufig, daß unter Werners 1840 gesammelten Gedichten ein Kriegslied abgedruckt ist, das schon 1815 in Schenkendorfs Gedichten vorkommt; wahrscheinlich also eine unter Werners Papieren vorgefundene Abschrift des Schenkendorfschen Liedes.


Quelle:
Joseph von Eichendorff: Werke. Bd. 3, München 1970 ff..
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