Der Kapitän Spavento

[13] Es ist Nacht. Die Vorstellung ist längst zu Ende, die Zuschauer sind nach Hause gegangen, auch die Komödianten. Vor dem niedergelassenen Vorhang brennt trübselig noch eine einzige Öllampe. Ein Schauspieler und eine Schauspielerin sind allein in dem leeren Zuschauerraum, im kleinen Umkreis des Lichtes. Der Kapitän Spavento hockt, die Beine auf dem Sitz, auf der Rücklehne des Sessels, der für den Herrn Duca aufgestellt war. Er ist ein schlanker, junger Mann, in furchterregender Weise braun geschminkt, in prächtigem, gelb und rot gestreiftem seidenem Anzug, ungeheurer Halskrause, fabelhaftem Schlapphut mit einem herrlichen Fasanenschwanz und mit einem märchenhaft langen Degen. Colombine steht vor ihm mit rotgeweinten Augen; die Tränen haben Straßen durch die dicke Schminke gezogen; sie trägt zierliche rote Schühchen, ein Kleid aus grünem Tarlatan und ein rotes Mieder dazu.

Der Kapitän rollt furchtbar die Augen, streicht den langen Schnurrbart, versetzt seinem Hut einen Schlag mit der Faust, springt vom Sessel mit beiden Füßen auf die Erde, stößt die linke Hand in den Korb seines Degens und ruft aus: »Zoll für Zoll sollte er dieses Eisen fressen, hätte ich ihn hier, dieses Eisen, das gegen die Mauren gefochten hat, gegen die Franzosen, die Engländer, die Spanier, die Türken, die Griechen, die Deutschen und gegen das für unüberwindlich gehaltene Heer des großen Moguls!«

»Das ist es ja eben«, versetzt Colombine schluchzend. »Ich mag ja den Pierrot gar nicht« – sie hängt sich an den Hals des Kapitäns – »er ist weiß vom Kopf bis zum Fuß, sein Gesicht ist weiß gepudert; wie kann man denn einen Pierrot lieben, wenn man einen Kapitän geliebt hat!« »Hat?« schreit[14] der Kapitän mit furchtbarer Stimme. »Nein, liebt«, antwortet ängstlich das Mädchen, indem sie an ihrem Kleidchen zupft und die Augen niederschlägt. Lange sieht der Kapitän sie an, dann schüttelt er schweigend langsam den Kopf. Colombine tritt zurück, richtet sich majestätisch auf und sagt: »Der Künstler gehört nicht sich selber, er gehört dem Publikum«, dann fährt sie in anderem Tone fort: »Nicht wahr, wenn ich will, dann kann ich auch die Isabelle spielen?« »Alles, mein Kind, auch die Fiorinette und Silvie, wenn du willst«, erwidert in tiefem Ton der Kapitän. »Nur erst fort von dieser Schmiere.« »Ach nein«, bittet Colombine. »Ha, ich verstehe, du denkst an Pierrot!« schreit der Kapitän. »Wir sind so gut aufeinander eingespielt«, lispelt sie. Der Kapitän läßt den Kopf hängen und spricht mit dumpfer Stimme: »Eingespielt! Eingespielt! Mit dem Kapitän ist nie ein Weib eingespielt – nur gestern, da erzählte doch unser verdammter Stückeschreiber, er wolle ein Stück schreiben mit einer verliebten Alten, die ich heiraten soll, und die verliebte Alte gibt es noch nicht in der italienischen Komödie, sagte er. Aber ich« – hier richtet er sich auf und streicht mit furchtbarer Gebärde seinen Schnurrbart – »ich habe ihm geantwortet! Mit einem alten Weib spiele ich nicht. Gibt es für den Kapitän keine Colombine, Coraline, Arlequine, Bette, Francesquine, Diamantine, Marinette, Violette, gibt es keine Isabelle, Fiorinette, Aurelie, Silvie, Flaminie oder Camille – gut, der Kapitän Spavento weiß sich zu bescheiden, er ist Soldat. Seine Geliebte ist der Degen. Und Zoll für Zoll soll der verdammte Stückeschreiber dieses Eisen fressen, wenn ich seine Alte lieben soll; er mag sie dem Dottore geben oder dem Apotheker, dem Tartaglia oder Pantalon, oder zum Teufel auch dem Pierrot.«

Wieder schmiegt sich Colombine an ihn; er wird schwach und setzt sich schwer in den großen Lehnstuhl; sie hüpft auf seine Kniee und schlingt die Hände um seinen Hals; dann flüstert[15] sie ihm ins Ohr: »Nein, ich bin keine Isabelle, Fiorinette oder Silvie, ich bin eine Colombine. Ich weiß es ja. Und das ist es eben: wenn ich dich liebe, dann verliere ich das Talent. Wenn du die Augen rollst, die edlen Worte sprichst, wenn die Bretter zittern unter deinen Füßen – sieh, ich komme schon wieder in den falschen Ton, in das Theater, das ich so hasse –,« hier beginnt sie zu weinen, »wenn ich bei dir bin, dann bin ich nicht mehr Colombine, dann bin ich Isabelle; aber ich bin eine schlechte Isabelle, ich weiß es. Zu dir gehört nicht Colombine, zu dir gehört Isabelle.« »Isabelle hat ja Flavio«, erwidert dumpf der Kapitän. »Nimm sie ihm ab«, rät Colombine. Der Kapitän sieht sie an und sagt ängstlich: »Dann verprügelt er mich ja.«

»Armer Kapitän«, spricht Colombine und trocknet sich heimlich eine Träne. »Dein Schicksal ist furchtbar ... Nein,« ruft sie laut aus, springt von seinem Schöße zur Erde, stellt sich vor ihn, stampft mit dem zierlichen, rotbeschuhten Füßchen auf! und ballt die reizenden Händchen zu Fäusten: »Colombine gehört zu Pierrot. Wo mein Talent ist, da ist auch mein Herz.« Sie pustet das einzige Licht aus und eilt aus der Tür; sie hatte sich vorher die Entfernung der Tür von den Stuhlreihen gemerkt. Stolpernd und überall anstoßend folgt ihr langsam der Kapitän ins Freie; sie ist schon lange verschwunden ...

Der Kapitän wurde still und stiller, seine Stimme klang hohl; »ein melancholischer Kapitän«, hieß es im Publikum; der Direktor kündigte ihm, und er bekam kein neues Engagement. Er lobte niemanden mehr ins Gesicht wegen seines Talentes und verhöhnte niemanden mehr hinter seinem Rücken wegen seiner Talentlosigkeit. Er sagte nicht mehr: »Rom ist die Hauptstadt der Welt und ich bin der erste Schauspieler von Rom!« Er blieb vom Theater fort, kein Mensch sah ihn mehr, weder auf dem Korso, noch beim Marforio, noch in der Konditorei, um Kritiken zu lesen und über die Kritiker zu schimpfen.[16]

An einem Abend brachte Pierrot Colombinen nach Hause, das heißt die beiden gingen zusammen nach Colombinens Stube. Plötzlich faßte Colombine auf ihr Herz und schrie leise auf; da war eine dunkle, schmale Nebengasse; sie riß sich von Pierrot los, lief in die Gasse. Pierrot lief hinter ihr her, sie war wie vom Boden verschluckt. Pierrot sagte ärgerlich vor sich hin: »Wenn der junge Conte wenigstens noch Geld hätte, aber der Alte hält die Quattrini fest«; dann ging er nach Hause.

Aber Colombine war nicht zu dem jungen Conte gegangen, der sie vielleicht erwartete. Sie wußte ja nicht, daß der Kapitän hier wohnte, in dieser elenden Gasse; sie lief in ein baufälliges Haus, das durch Balken gestützt wurde, die selber schon vermodert waren, eilte eine Steintreppe hinauf; sie kannte das Haus nicht; eine Tür stieß sie auf, da lag auf einem elenden Bett der kranke Kapitän. »Kommst du endlich?« fragte er, »ich habe mich so gesehnt, daß du kommst; nun sterbe ich bald.« »Nein,« rief sie, »du sollst nicht sterben«, und sie warf ihr Umschlagetuch ab und stand da in ihren roten Schuhen, dem grünen Tarlatanröckchen und roten Mieder. Dann kniete sie vor seinem Bett nieder und legte ihr Händchen auf sein Herz; das Herz pochte müde. »So wird es besser«, sagte sie, und er nickte ihr traurig zu. Dann war es lange still in dem armseligen Gemach, dann schlummerte der Kranke ein. Stundenlang kauerte sie vor ihm und hielt die Hand auf seinem Herzen; endlich fröstelte sie, sie stieg auf den Tisch, wo eine Brotkruste und ein halber Ziegenkäse lag neben einem Fiasko mit Wein; sie wickelte sich in ihr Tuch, rollte sich zusammen wie ein Kätzchen und schlief ein.

Am anderen Morgen fiel schräg ins Zimmer ein Sonnenstrahl. Der Kapitän war erwacht; lange lag er still und sah auf die Schlafende; endlich dehnte die sich, öffnete blinzelnd die Augen. »Ich sterbe noch nicht, ich werde wieder gesund«, rief der Kapitän.

Quelle:
Paul Ernst: Komödianten- und Spitzbubengeschichten, München 1928, S. 13-17.
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