Pierrot und Colombine

[57] Die arme Colombine ist krank, sterbenskrank. Vor ihrem ärmlichen Lager sitzt auf einem Stuhl Pierrot, verzweifelt den Kopf auf die Hände gestützt.

»Soll ich denn schon sterben«, klagt sie; »ich bin doch noch so jung, und wie viele Leute leben, die alt sind und kein Talent haben! Ach, Pierrot, ich fürchte mich so vor dem Tod.« Hier weint Pierrot; sie lacht leise auf und sagt: »Wie komisch es aussieht, wenn du weinst! Diese Bewegung mußt du festhalten, sie wirkt ... Aber, weißt du, was mir das Schrecklichste ist? Wir Schauspieler sind doch exkommuniziert, kein Priester darf uns die letzte Ölung reichen. Ich habe ja immer darüber gelacht, weißt du, mit dem dicken Priester, der so lustig war, der damals abends so oft zu uns kam und mit uns aß, und eine Salamiwurst mitbrachte und den großen Fiasco Wein, den er fast ganz allein austrank. Weißt du noch, wenn du ihn nachmachtest, wie er den Fiasco hob und den Weinstrahl mit dem Munde auffing?« Sie lacht und denkt an den komischen Priester. »Aber der würde mir jetzt auch nicht die letzte Ölung reichen. Und wo komme ich dann hin?«

Pierrot tröstet sie und sagt: »Ich habe gehört, daß es für die Schauspieler einen besonderen Himmel gibt.« »Glaubst du das?« fragt sie ihn eifrig. »Versprich mir, daß es so ist.« Pierrot verspricht es, und sie fährt fort: »Wie reizend, wenn wir dann so ganz unter uns sind! Ob der Direktor auch hineinkommt? Aber das versprichst du mir auch, wenn ich begraben bin, dann setzt du mir einen Leichenstein, auf dem mein Name steht.« »Das ist eigentlich verboten«, antwortet Pierrot zögernd; »wir werden ja draußen auf dem Anger verscharrt.«[58] »Auf dem Anger?« ruft Colombine entsetzt. »Waren denn deine Eltern nicht auch beim Theater, weißt du denn das nicht?« fragt Pierrot. »Eigentlich weiß ich es ja«, entgegnet sie zögernd. Dann fährt sie fort: »Nein, einen Leichenstein will ich haben, ich habe auch gespart dafür.« Sie sucht das Geld aus ihrem Bettstroh zusammen, lauter Kupferstücke. »Du sollst darauf schreiben: Sie war die Colombine ihres Jahrhunderts.« Weinend nimmt Pierrot das Geld. »Weshalb sind wir denn eigentlich nur exkommuniziert?« fragt Colombine schmollend. »Die Priester gehen doch selber ins Theater und verkehren so gern mit uns, sie sind auch gern einmal lustig, weil sie sonst immer so ernst sein müssen. Sie sagen, es ist für die Gesundheit gut, wenn man zuweilen lacht; und die Leute lachen doch über uns; die Arzte werden doch nicht exkommuniziert! Meinst du, weil wir zuweilen unanständig sind? Aber daran haben wir doch keine Schuld, das will das Publikum doch!«

Es ist die Zeit, wo der Arzt kommt. Pierrot trocknet sich die Tränen und geht. Er geht traurig die Treppe hinunter, durch die Straßen, denkt an Colombinen, an den Arzt, der Colombinen auch liebt, wie es scheint; der Arzt ist ein junger Mann, der nur einige Monate in Rom bleibt, weil er sich in Neapel niederlassen will; aber Pierrot ist nicht eifersüchtig; erstens liegt ihm die Eifersucht nicht, und dann – eine Sterbende!

Auf der Straße begegnet ihm ein Mann mit einem großen Vogelbauer, in dem zwei reizende Kanarienvögel sitzen. Wie gebannt bleibt Pierrot stehen, der Mann erzählt ihm, daß er die Vögel verkaufen will, rühmt sie, nennt den Preis, irgendeinen Preis, der ihm gerade einfällt. Pierrot hört natürlich nicht auf den Preis, der ist ja Nebensache, aber er denkt: wie wunderhübsch wäre es für Colombinen, wenn er ihr die Vögel brächte; welche Zerstreuung hätte sie, wie würde sie lachen! Er sucht das Geld zusammen, das sie ihm für den[59] Leichenstein gegeben hat, es sind gerade acht Paoli; fünf beschließt er für die Vögel zu bezahlen. Der Mann hat dreißig verlangt, Pierrot bietet natürlich zunächst nur drei, um angemessen auf fünf steigen zu können, und so kann man sich vorstellen, daß die Beiden eine lange Weile mit dem Handeln beschäftigt sein werden. Das Handeln ist ja eines der größten Vergnügen, die es gibt; man muß sich von beiden Seiten nur Zeit dazu nehmen, und Zeit haben die Beiden auch.

Inzwischen also besucht der Arzt Colombinen. Er ist also ein junger Arzt, er ist auch ein guter Arzt. Er hat gleich gemerkt, daß Colombinens Krankheit nicht so gefährlich ist. Um es kurz zu sagen, er war gestern abend mit dem Ehepaar zusammen in einer Gastwirtschaft, und der Wirt, welcher ein Jäger war, hatte Vögelchen; eigentlich waren es nur Sperlinge, aber er behauptete, es seien Lerchen, weil es besser klingt, wenn man von Lerchen spricht. Sie waren so niedlich angerichtet, auf Holzspießen, in einer Reihe immer ein Vögelchen, dann ein Stück Speck, wieder ein Vögelchen, wieder ein Stück Speck; und weil sie so niedlich angerichtet waren und so gut schmeckten und so lustig knackten zwischen den Zähnen, deshalb hatte Colombine wohl etwas zu viel gegessen.

Also der Arzt besucht Colombinen und ist jung, Colombine ist gar nicht so krank wie sie denkt, und der Arzt will noch diesen Abend nach Neapel abreisen; Pierrot aber handelt inzwischen eine lange Zeit mit dem Mann um die Kanarienvögel. Wirklich bekommt er sie für fünf Paoli; er nimmt das Bauer in die Hand und geht glücklich zu Colombinen, eine wunderschöne Melodie vor sich hinträllernd; er nimmt an, daß der Arzt sie nun verlassen hat.

Aber wie er ankommt, findet er das Zimmer leer; auf dem Tisch liegt ein Brief für ihn; er enthält zärtliche Abschiedsworte, denn sie ist mit dem Arzt nach Neapel gereist.

Was soll er nun mit den Kanarienvögeln machen? Er setzt[60] die Kanarienvögel auf den Tisch und weint. Dort liegt noch ein Unterröckchen von ihr, da stehen ein Paar zierliche kleine Schuhe; die Absätze sind schiefgetreten; er erinnert sich, wie er ihr Vorstellungen gemacht, daß von dem Röckchen die Stoßkante herunterhing und daß die Absätze schief getreten waren; nun ist sie fort, nie wird er sie wiedersehen, denn kontraktbrüchig ist sie auch geworden, und der Direktor wird sie nicht wieder annehmen, wenn sie auch zurückkehrt.

Es klopft an die Tür und der Kapitän kommt, um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen; betrübt erzählt ihm Pierrot alles; und auch der Kapitän wischt sich eine Träne aus dem Auge. Der Direktor kommt, der Notar, Isabelle und Silvie kommen, um sich zu erkundigen; sie setzen sich auf den Bettrand, auf die paar alten Stühle um den Tisch, auf dem der Bauer mit den Kanarienvögeln steht; die Kanarienvögel singen nicht, denn die Weibchen sind bei diesen Tieren stumm.

Pierrot erzählt alles, wie er Colombinen geliebt hat, und weint; die Andern trösten ihn; Isabelle streichelt ihm die Hand, Silvie streichelt ihm den Kopf. Er er zählt, wie er sie zuerst sah, wie es Frühling war und die ersten Krokus aus der Erde kamen und das Theater leer wurde; wie er sie nach Hause brachte, dichtete, sang; wie er mit ihr Rollen einstudierte und Extempores erfand; die berühmten Extempores von Colombinen stammten alle von Pierrot; und endlich erzählt er auch, wie er die Kanarienvögel gekauft hat.

Silvie sitzt ihm jetzt gegenüber; und wie magnetisch voneinander angezogen, finden sich ihre Füße unter dem Tisch; und indes Pierrot sich die Tränen trocknet, drückt er zärtlich mit seinem Fuß Silviens Fuß.

Quelle:
Paul Ernst: Komödianten- und Spitzbubengeschichten, München 1928, S. 57-61.
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