Neunzehntes Kapitel
Ein kleiner Hauskrieg, bei welchem Hans eigensinnig wird

[258] Erstaunt gewahrte Dorothee, daß es während ihrer Beichte in der Kirche schon ganz hell geworden war. Über die Berge herein, welche hart vor den hohen Kirchenfenstern zu stehen schienen, leuchtete und funkelte es so goldig blendend, daß das Mädchen auf den Stufen unter dem Chorbogen ganz gewiß einen Fehltritt getan hätte, wenn es hier nicht gar zu gut »zu Hause« gewesen wäre. Selbst mit geschlossenen Augen mußte sie hier durchkommen und kam auch wirklich mit geschlossenen Augen durch. Wie sie nun die Augen sich erholen lassen wollte von dem grellen Glanze und ihr Blick in dem noch etwas dunkleren unteren Schiffe der Kirche zu ruhen suchte, gewahrte sie erschrocken die vielen Andächtigen, deren Augen recht ernste Fragen an sie zu richten schienen. Als sie endlich in ihrem Stuhl ankam, verkündete feierliches Glockenläuten den sofortigen Beginn der Frühmesse. Sie hatte also das erste Glockenzeichen gänzlich überhört und war demnach mehr als eine Viertelstunde, ja, nach dem Tagen zu schließen, sogar mehr als eine halbe Stunde im Beichtstuhl gewesen. Was mußten diese Leute jetzt über sie denken, und was erst, wenn man sie unter der vom Pfarrer gelesenen Messe nicht mit den andern, die gestern und heute beichteten, zur Kommunionbank gehen sah? –

Einen Augenblick beschäftigte und plagte Dorotheen hauptsächlich diese Frage, doch kaum länger als einen Augenblick, während manches andere Mädchen an ihrem Platze darüber gewiß den beklagenswerten Seelenzustand sowohl als auch alles andere gänzlich vergessen hätte. Die Lossprechung – hätten die meisten gerechnet – war ja schon morgen, am Fest Allerheiligen, von einem weniger scharfen Geistlichen der Nachbargemeinde zu bekommen; aber von denen, die heute da in der Kirche waren, und von allen, welche mit diesen in den nächsten vierzehn Tagen redeten, war man darum noch keineswegs losgesprochen. Ja bei diesen ging's[259] gewiß erst recht an, wenn jetzt auch noch ein fremder Geistlicher aufgesucht wurde. In der Regel kann so ein Mädchen aus eigener Erfahrung wissen, was man alles über ein nicht absolviertes Beichtkind denkt und wie erbarmungslos jedermann darüber herzieht. War es doch gewöhnlich schon selber dabei, wenn des Unglücklichen ganzer Lebenslauf durchgegangen, wenn alle seine Beziehungen und Verhältnisse siebenmal umgekehrt wurden, um das entweder herauszufinden oder hineinzulegen, was etwa heute im Beichtstuhl hängen geblieben war. Das ist vielen die erste, die größte und sogar die einzige Sorge; drum denkt man, wenn man so ein junges Mädchen von gewöhnlichem Schlag ist – Mannsbilder sind viel weniger ängstlich –, wie herrlich es doch wäre, wenn ihm nun auf einmal recht grausam übel würde und seine Wangen erblassen täten, daß man es kaum noch zu erkennen vermöchte. Doch das Gesicht brennt, die Pulse fliegen, und von so einer schönen Ohnmacht ist gar keine Rede. Trotzdem steckt man schon unter dem Staffelgebet den schweren silbernen Rosenkranz ein, als ob es gleich aus wäre, beim Gloria setzt man sich nieder, stützt unter dem Evangelium das Köpfchen auf die ein wenig zitternde Rechte, während die Linke das schneeweiße Schnupftuch und den von der Stuhlnachbarin entlehnten Rosmarinstengel festhält. Schon vor der Wandlung scheint es trotz allem Riechen nicht mehr zum Aushalten, nach derselben aber wankt die Bedauernswerte zur Kirche hinaus. Während nun die anderen Beichtkinder zur Kommunionbank hinlenken, steht sie draußen bei einem Brunnen, und wenn sie sich von jemand gesehen glaubt, wird Wasser getrunken, mehr, als man sonst am heißesten Sommertage für menschenmöglich gehalten hätte.

Dorothee kam zu dem allem nicht. Demütig und ohne sich noch um die anderen Leute zu kümmern, kniete sie vor dem Muttergottesaltar in ihrem Stuhl und fragte sich nun, wie es denn möglich gewesen, daß im Beichtstuhl nach so vielen guten Vorsätzen sie solcher Eigensinn habe ankommen können. Freilich sah und fühlte sie, daß Hans in Zukunft ihr nicht[260] mehr gefährlich sei, aber war es nicht dennoch ihre Pflicht, dem Beichtvater zu folgen? Sie wünschte seinen Rat, um dann aus und draus zu sein, und nun hatte sie ihm nicht einmal gesagt, was beim Erforschen des Gewissens sich zwar noch nicht zeigte, doch im Beichtstuhl ihr auf einmal kam wie eine höhere Eingebung, die sie aber statt dankbar und demütig nur trotzig machte ... Wär's möglich gewesen, so würde sie jetzt, gleich mitten unter der Messe, wieder in den Beichtstuhl gegangen sein und das Versprechen gemacht haben. Aber dann hielt sie das nur wieder für Angst vor dem Urteil der Menschen und sagte sich, daß das – wenigstens jetzt – zur Beruhigung ihres eigenen Gewissens noch durchaus nicht nötig sei. Entschieden hatte der Geistliche das Ganze noch weniger verstanden als sie selbst, das schienen schon seine wunderlichen Fragen zu beweisen. Warum sich also noch viel um sein Urteil kümmern, wenn man ein viel richtigeres gewonnen hatte? Sie war ja nun losgesprochen von ihrer Last, fühlte sich wieder eins mit sich selbst, und das blieb die Hauptsache. Anders reden hätte sie sollen; aber es war in sie gefahren wie wohl auch in den Jos am Kirchweih fest. Nun, für sie, die dadurch ins klare kam, hatte sogar das sein Gutes. Vielleicht konnte also doch auch dem Burschen etwas Wünschenswertes aus jener traurigen Geschichte kommen. Unter der Messe betete sie fast mehr für ihn als für sich selbst, wobei ihr so wohl zumute wurde, daß sie es kaum bemerkte, wie die anderen Beichtkinder zur Kommunionbank schritten und nun aller Blicke sich von neuem auf sie zu richten begannen.

Es heißt allgemein: Der Schein trügt. Richtiger wär's wohl, wenn man sagte: Der Mensch betrügt sich selbst, denn er hat seine Freude, trotz aller Erfahrung, am Scheine. Kommt man einmal mit Bauern und Bäuerinnen auf das Kapitel von Schein und Sein, ja dann lächeln sie recht vornehm und richten die Köpfe gehörig auf; da dürfen sie die Meinung um so herzhafter sagen, weil das nun sie selber gar nichts angeht. Es gilt nur den hoffärtigen Stadtleuten in ihrer teuern Herrlichkeit,[261] die nicht kalt und nicht warm zu machen vermag. Sie aber, die Bauern, haben diesen Fehler nicht und sind nicht eitel. Was würden die Leute dazu sagen, wenn auch sie sich um den Schein kümmerten, sich etwa gar über den Stand kleiden und gnädige Herren spielen wollten? Dadurch müßte man ja den Kredit und sogar für die Kinder oft die schönsten Aussichten auf eine gute Versorgung verlieren. Drum doch beileibe keinen Aufwand machen um des Scheins willen wie die Stadtleute, viel lieber zu demütig, zu einfach und ärmlich! Es ist doch weit genug bekannt, wie einer steht und daß er es leicht großartiger geben, viel mehr Aufwand machen könnte, wenn er dazu nicht zu bescheiden wäre und eben an. Einfachheit und Sparsamkeit seine größte, seine einzige Freude hätte.

Dorothee, die bisher stets ziemlich unbeachtet gebliebene Magd, galt und hielt sich selbst für gleichgültig gegen Urteil und Meinung derjenigen, an die sie nicht durch ihre Dienstpflicht gebunden war. Heute aber zeigte sie das auf eine Weise, die der erwähnten Gleichgültigkeit anderer Bauern so ziemlich glich. Sie blieb ruhig an ihrem Platze, als die anderen die Kirche verließen, und zog abermals ihr Gebetbüchlein heraus. Daran konnte man sehen und sollte sehen, wie leicht sie diese Blicke ertrug, wie wenig sie sich um die vielleicht entstandenen Gedanken kümmerte und wie stark ihr gutes Gewissen sie machte. In ihrem Büchlein stand freilich ganz anderes, aber davon sah sie nichts, schon weil sie es lange verkehrt in der Hand hielt. Sie kam erst darauf, als ihr Auge einem auf sie gerichteten Blicke des Pfarrers, der wegen Unwohlsein die Kirche bald nach der Messe wieder verließ, ins Büchlein zu entrinnen suchte. Sie fand und las das Gebet einer christlichen Hausmagd, wodurch sie nun wieder an die vielen Arbeiten erinnert wurde, die ihrer auf dem Stighofe warteten und noch morgens, vor dem Beginn des eigentlichen Gottesdienstes, verrichtet werden mußten. Sie schloß das Büchlein, steckte den Rosenkranz ein, dachte wieder an den Stighof und kam nun von neuem ins Grübeln und Sinnen[262] hinein. Aber je mehr die, welche sie aus dem Beichtstuhl und später nicht zur Kommunion gehen sahen, die Kirche verließen, desto herzhafter gab sie sich nun sogar in den Stücken recht, die ihr sonst noch wenigstens etwas bedenklich erschienen. Sie wiederholte sich noch einmal jedes Wort des Kaplans und ihre Antworten, dabei richtete sie das Köpfchen immer mehr auf, und sie trug es wirklich so hoch wie sonst nur selten, als sie endlich die Kirche verließ.

Und schnellen Schrittes, dem heiteren Herbstmorgen, der Berg und Tal vergoldete, fröhlich entgegenlächelnd, ging sie kurz darauf durch Argenau hinein. Den Begegnenden, die sich ein wenig stellen und ein Gespräch mit ihr anfangen wollten, wünschte sie nur einen guten Morgen, aber nicht aus übler Laune, sondern weil ihr einfiel, daß es schon vor einer Weile sieben geläutet hatte. Da durfte sie neben und unter ihr kein Gras mehr wachsen und keinen Reifen vergehen lassen, wenn sie noch in der Küche und überall rechtzeitig fertig sein wollte, so daß die Stigerin keine Veranlassung mehr zu neuem Tadel fand. Und das sollte sie nicht. Lange genug schon hatte Dorothee hier, wenigstens halb und halb, das Gnadenbrot gegessen. Jetzt aber mochte sie nichts mehr geschenkt. Nur Magd wollte sie sein, eine fleißige, ja eine unentbehrliche Magd für ein gehöriges Hauswesen, wie das auf dem Stighof war. Dann konnte dem Vater und ihr das Gerede nicht lange schaden, welches über sie in Umlauf kam und vielleicht von heute an sogar noch ein wenig ärger wurde. »Gott und gute Menschen haben mir zu einer Zeit geholfen, wo ich selber gar nichts war als ein armes, hilfloses Ding, für das niemand als sein Elend um Hilfe, um Erbarmen flehte. Gott und gute Menschen sind aber überall und helfen, wenn man redlich das Seine tut.« So tröstete sich das Mädchen, als allerlei trübe Gedanken kommen und ihm schwer, recht schwer machen wollten. Sie dachte daran, wie wunderbar Gott sie bisher geführt, wie ihr noch nie unbelohnt blieb, was sie tat, und wieviel sie der Stigerin zu verdanken habe. Dafür wollte sie nun doch auch etwas sein in der Stunde der[263] Prüfung und ihrer Erzieherin Ehre machen. Als Jos gestürzt, aus seiner Bahn geworfen, scheinbar vernichtet zu Hause lag, bekam Hans aus der Unterredung des Doktors mit dem Vorsteher einen Respekt vor ihm, daß es eine Freude war. Das galt ihr für ein Muster und Beispiel, daß sie sich's gar nicht anders gewünscht hätte.

Es war ihr ordentlich lieb, noch keinen Rauch ob dem hohen Hausdach zu sehen. Das Kochen war ja ihre Arbeit, und heute wollte sie zeigen, wie leicht sie auch eine versäumte halbe Stunde wieder einzubringen imstande sei.

Fröhlich sprang sie die Treppe hinauf, und ohne vorher sich umgekleidet zu haben, eilte sie in die Küche, wo sie einstweilen Wasser zum Kaffee obs Feuer bringen wollte. Noch kein Verweis der zuweilen etwas strengen Stigerin hatte sie so erschreckt wie jetzt die Entdeckung, daß hier schon gekocht worden, und ihre Stimme war unsicher, als sie, in die Stube tretend, den am großen runden Tische sitzenden Hausgenossen einen guten Morgen wünschte.

»Für heute«, bemerkte die Stigerin etwas rauh, »ist's mit dem guten Morgen schon fast zu spät.«

»Ja«, stammelte Dorothee, »verspätet hab' ich mich allerdings, und viel ärger, als ich selbst meinte; aber –«

»Aber!« fiel die Stigerin hastig ein. »Wenn Weihnachten auf einen Freitag fällt, so hört das Fastengebot auf, und Fleisch darf essen, wer will und bis man genug hat. Du bringst wohl auch so ein Aber mit, welches die alte Hausordnung über den Haufen wirft? Ist's nicht ein Ereignis wie das, welches am Heiligen Tage gefeiert und anpsalmiert wird, wenn einmal jedermann dich ansieht und etwas dabei denkt? Das, wirst du gewähnt haben, sei schon wert, daß man von der Regel abgehe und eine halbe Stunde Dienst versäume?«

Dem armen Mädchen war das Wasser in die Augen gekommen, es schwieg.

»Ja, du kannst mir nun wieder Augen machen«, eiferte die Bäuerin, »es gibt Flecken, welche die salzigste Träne nicht mehr aus dem Lebenswandel waschen kann.«[264]

Dorothee wollte nun auch reden, doch die Stigerin ließ ihr noch kein Wort. »Kurz und gut!« rief sie, »heut' machest du mich nicht mehr zum Narren wie vor Jahren einmal, als ich dich in einer bösen Stunde zum erstenmal sah. Wär' ich da nicht gar zu gut gewesen und hätte dich an uns gebunden, so hätten wir heut' auf dem Stighof einen besseren Morgen als den, welchen du uns hintennach noch wünschen kannst. Wir haben dich emporziehen wollen, und nun drückst du uns hinab. Der faule Apfel steckt nur die frischen an. Ich hätte wohl wissen sollen, daß es gar nie anders, nie umgekehrt gehen kann, aber ich bin immer viel zu gut.«

So ging es noch lange fort, bis das Mädchen endlich erfuhr, daß die Stigerin schon alles wisse, was heute in der Kirche beobachtet wurde. Es gelte, so klagte die Mutter, schon überall für eine ausgemachte Sache, daß heute sich öffentlich bestätiget habe, was über Hansen und seine Magd schon seit länger in Umlauf gekommen sei. Man sage sogar schon, Hansen wäre wohl vor kurzem beim Beichten um kein Härlein besser als ihr gegangen, wenn er auch so redlich gewesen wäre wie sie oder so klug, um die Sache richtig beurteilen zu können. »Nun darüber«, schloß die Stigerin, »haben wir noch viel zu reden. Was man so sagt unter den Leuten, ist nicht wie Siegel und Brief, darum darf man sich nie gar zu viel kümmern, aber denn doch auch nie so wenig, daß man in deiner heutigen Lage noch die Stirn hat, den Leuten eine halbe Stunde lang ohne Not groß in den Augen zu sein und wie eine Schandtafel für unsere ganze Verwandtschaft dazustehen, und besonders für den großen Einfaltspinsel da!«

Das war für Hansens Geduld zuviel auf einmal, wie wenig es auch immer scheinen mochte im Verhältnis zu dem, was er sonst immer ziemlich geduldig über sich ergehen ließ. Wenn er allein bei der Mutter war, so tadelte diese schließlich immer nur seine Unempfindlichkeit, wovon auch zuerst die Rede gewesen sein mochte. Heute aber ließ er sie dazu nicht mehr kommen. Was die Mutter über Dorotheen sagte, tat ihm um so weher, weil auch er sich recht von Herzen über[265] das Mädchen ärgerte. Was denn hatte sie, die er für die Unschuld selber hielt, so Großes zu beichten, daß der Kaplan es ihr nicht einmal abnehmen konnte? Sollte er sich auch hier wieder betrogen haben? Noch wollte er es nicht glauben, aber das »Einfaltspinsel« der Mutter traf ihn doch schmerzlicher als gewöhnlich und brachte ihn in jene Stimmung, wo er um jeden Preis widersprechen mußte, gerade wie wenn dadurch das etwa verlorene Ansehen rasch wieder zu gewinnen wäre. »Wenn die Geschichte mich besonders viel angeht«, sagte er, »so sollte doch auch ich das erste Recht haben, darüber zu reden. Ein bißchen predigen werd' ich wohl auch können, sonst müßt' ich ja gar keinen Blutstropfen von meiner Mutter haben. Aber zu einer gehörigen Predigt und schon voran als Fundament gehört ein schönes Evangelium. Für ein solches nun kann man denn doch die Vermutung und das Durcheinander von lieblosem Geschwätz nicht halten. Zuerst, bevor man anderen die Wege weisen kann, muß man doch auch selber wissen, woran man ist. Ihr Weiber wollt alles mit Reden richten, ich aber kann und mag niemand die Meinung sagen, solang ich noch gar keine eigene Meinung habe. Kurz und gut, in die jetzige Schwätzerei hinein will ich nicht noch ärger verwickelt werden.«

»Eben darum, du Verblendeter, Undankbarer, hab' ich mich wehren wollen.«

»Zu spät, wie gewöhnlich«, bemerkte Hans bitter.

»Warum zu spät?«

»Man hätte dem Krämer kein Türlein offen lassen dürfen, wenn der seinen Unrat nicht hereinbringen sollte.«

»Du hast aber schon früher mit dieser Verwandtschaft zu tun gehabt.«

»Ja, und jetzt möcht' ich gleich alles wiederholen, was damals gegen den alten Sünder gesagt wurde. Dorotheen hat nur er so ins Geschrei gebracht. Aber mit derlei Mitteln fängt man Hansen nicht. Da gewinnt der Krämer wenig und macht seine Zusel nur noch unglücklich wie die gute Angelika.«

»An der Geschichte bin aber ich nicht schuldig.«[266]

»Dann ist die Lehre, die man daraus nehmen kann, um so wohlfeiler.«

War Dorothee zum Teil froh, daß das Wetter sich so auf eine andere Seite zu ziehen schien, so tat es ihr doch recht von Herzen weh, Mutter und Sohn so unfreundliche Worte wechseln zu hören. Solche Hauskriege waren ihr immer ungemein peinlich, wenn sie selbst auch nichts zur Veranlassung derselben beitrug; heute aber hätte sie um alles in der Welt nicht mehr länger dabei zu sein vermocht. Für sich selbst hatte sie schon eine kurze Verteidigungsrede nicht eben von höflichster Art zusammengestellt. Die würde sie gehalten haben, wenn's noch länger in dem Ton fortgegangen wäre, welchen die Stigerin anfänglich anschlug. Jetzt aber vermochte sie das rechte Wort nicht mehr zu finden. Geräuschlos verließ sie die Stube, ohne noch an ihren Kaffee zu denken, der eingeschenkt auf dem Tische stand. Sie hatte weder Hunger noch Durst und war herzlich froh, daß es in der Küche noch so manches anzurichten gab, obwohl sie nicht mehr mit der Freudigkeit arbeiten konnte, die ihr noch vor einer halben Stunde gar alles leicht gemacht hätte.

Unterdessen verteidigten sich Mutter und Sohn immer tapferer; die Worte wurden um so weniger gewogen, als man endlich gewahr wurde, daß die Magd sich entfernt hatte. Die Stigerin sagte Hansen, er dürfe sich schon ein wenig einreden lassen, denn er habe doch für nichts Talent als für seinen Stall, aber auch das nur so, daß er nicht einmal auf seinen Kopf ein Kälblein für zehn Taler kaufen dürfe. In dem Stück arte er ganz nur seinem Vater nach. Dagegen gute Blutstropfen hab' er von dem Seligen keine geerbt. Der habe doch seine Schwächen gekannt und sei daher immer fügsam und nachgiebig gewesen.

Über seinen Vater nun ließ Hans nicht so leicht etwas kommen, wie sorgfältig man es auch, gleich einer bösen Pille, ins Zwetschkenfleisch versteckte. Ja er konnte der Mutter gegenüber es offen aussprechen, daß er den Guten noch jetzt bedauere und als großen Dulder verehre. Die Stigerin kam[267] daher jetzt nur noch in der größten Erregung auf ihren Mann zu sprechen; dann verlor sie überhaupt alle Kraft zum Überlegen, während Hans gerade im Zorn am klarsten zu denken schien. Auch heute sprach er sich so klar und entschieden aus, wie man es von ihm wohl nie erwartet hätte. Er sagte: »Ich hab' auch noch Blut von anderen Leuten und schlage vielleicht nicht ganz aus der Art, wenn ich zuweilen ein bißchen eigensinnig bin und glaube, meine Herzensangelegenheiten – das sind wichtigere als die des Stalles – gehen niemand mehr an als mich.«

»Redet man so jetzt?« rief die Stigerin aufspringend. »Bin ich die Mutter, oder bist du sie?«

Hans saß ruhig am Tisch und machte ein ganz ernsthaftes Gesicht.

»Wenn du mein Mann wärst«, sagte die Stigerin nach einer Weile, »so ließe sich das noch viel eher ertragen. Man weiß ja schon, wie die Männer alle sind. Dir aber, dem eigenen Kinde, das ich so klein und schwach gesehen, das ich mit soviel Mühe gehen lehrte und groß zog, dir kann und will ich den heutigen Morgen nie mehr vergessen. Das gräbt sich tief, tief ins Herz und tut recht grausam weh!« Sie zog das Taschentuch heraus und bedeckte das Gesicht. »Tut man doch heut' wieder einmal, und weiß kein Mensch, warum es nötig wär'!« murrte Hans, der sich schon etwas schwächer fühlte.

»Nur deinetwegen, zu deinem Wohl.«

»Oho!«

»Ja, so ist's, und wenn du nicht eben der Hans wärst, müßtest du das auch einsehen.«

»Ich bin aber der Hans«, sagte der Bursche, herzlich froh, daß die Mutter so schnell wieder in eine andere Tonart überging.

»Ja, du siehst und merkst immer nichts, bis dir eine Kuh auf den Fuß tritt.«

»Ich merke wohl, wie man jeden Zufall hereinzieht, um dem guten Mädchen, der Dorothee, böses Spiel zu machen.«[268]

»Nennst du das einen Zufall, daß ihr Beichtvater sie nicht einmal mehr lossprechen kann?«

»Der Kaplan hat nicht so viel erfahren, als ich in der letzten Zeit an dem Mädchen gesehen habe.«

»Was hast du denn gesehen?«

»Seit im Sommer«, erzählte Hans, »die Zeit weiß ich nicht mehr so genau, kommt mir die Magd in gar allem ganz verändert vor. Nach der Kirchweih schien es mir mehrmals, als ob eine böse Krankheit in ihr stecken müsse. Trotzdem war sie unermüdet früh und spät wie sonst, ja fast noch fleißiger, wenn es sein konnte. Nur zuweilen, wenn sie sich nicht gesehen wähnte, stand sie wie angenagelt und gebannt oder als ob sie etwas recht schwer drücke. Dann und wann hätt' ich sie von Herzen gern heimgeschickt ins Bett, aber wenn ich sie noch so freundlich anreden wollte, erschrak sie und redete so heillos närrisches Zeug, daß ich ihr im Ärger darüber zuerst vielmal kein gutes Wort mehr gönnen konnte. Jetzt aber weiß ich, daß man viel von dem, was sie über sich selbst und über andere sagt, bei weitem nicht so grell nehmen muß, wie sie es gibt. Es wär' gut gewesen, wenn das auch der Kaplan gewußt hätte.«

Die Stigerin, welche aufmerksam zugehört hatte, sagte mit seltenem Ernst: »Ich fürchte, daß auch du das nicht kennst, will aber Gott auf den Knien danken, wenn du wenigstens keine Schuld hast.«

Hans besann sich: »Das wegen dem Jos auf der Kirchweih allerdings hat sie sich recht grausam zu Herzen genommen. Fast nur um sie darüber hinauszubringen, hab' ich dann ihren Bruder anstellen wollen, da sein Herumstreichen ihr viel Kummer machte.«

»Sie hätt' wohl den Jos lieber gehabt?«

»Nein, sie hat nach der Kirchweih gesagt, der werde dem Stighof nicht mehr dienen.«

Die Stigerin ward immer nachdenkender. Immer schneller zog sie den langen Rosenkranz zwischen den rundlichen Fingern herum. Plötzlich warf sie ihn auf den Tisch, und im[269] nächsten Augenblick würde Hans ihre Gedanken erfahren haben, wenn nicht eben Dorothee zur Tür hereingekommen wäre. Sie bat um Erlaubnis, nach dem Gottesdienste den Vater zu besuchen, und schloß mit der Bemerkung, daß sie noch selten mit einer solchen Bitte gekommen sei.

Diese Bemerkung war so überflüssig, daß die Stigerin, nachdem sie kurz ja gesagt, der wieder Forteilenden beinahe ängstlich nachsah. »Da ist nicht alles in Ordnung«, flüsterte sie, »so scheu, so blaß. Es ist, wie ich dachte. Für das Mädchen ist Heiraten das beste, für dich aber nicht, wenn du dir nichts vorwerfen mußt.«

»Ich weiß nichts.«

»Nun, angelogen hast du mich noch nie. Dummheiten machst du schon, aber Schand' auf die Verwandtschaft und ein Mädchen ins Unglück bringen wirst du nicht. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, drum wird es wohl der Jos sein. Wenn wir den Spitzbuben doch nur nie ins Haus gelassen hätten!«

»Eine Liebschaft?« fragte Hans ängstlich.

»Eine Verführung, und wenn du noch nichts gemerkt hast, so bist du dümmer als dumm.«

»Da kenn' ich mich freilich nicht aus.«

»Aber ich ganz gut. Alles wird nun dich dafür hernehmen, drum ist's wohl das beste, wenn man ihr so schnell als möglich zum Heiraten hilft. Einige hundert Gulden Heiratsgut können wir den beiden schon geben, und dann geht's.«

Hans war auf einmal ein ganz anderer. »Jos«, rief er, »der Lümmel, hätte das Mädchen verführt? So hätten sie uns hintergangen, und nun sollten wir noch Geld ausgeben und ihnen zusammenhelfen? Na, so dumm ist denn der Hans doch nicht!«

»Nur nicht so laut; sie könnte dich hören.«

»Sie soll und jedermann soll hören, daß der Hans nicht auf den Kopf gefallen ist.«

»Aber damit verdirbst du mir dann meinen Plan.«

»Das will ich auch, wenn er so ist, daß eine Schlechtigkeit dabei noch belohnt werden soll!«[270]

»Nun, dann magst du es haben, wenn drei Gemeinden von dir reden. Und das kommt gewiß, wenn wir nicht helfen. Ich möchte Dorotheen gleich rufen.«

»Nein, Mutter! Die drei Gemeinden sollen sich heiser krähen, wenn sie mir nur nicht so eine Dummheit nachreden können.«

»Aber–«

»Nichts da! Jetzt läutet es schon bald in die Kirche, und wir sind noch nicht einmal gehörig angelegt. Es wär' doch sicher Sünde, wenn wir wegen derlei Schneckentänzen auch nur ein halbes Vaterunser versäumen täten.«

Das alles sagte Hans in einem Atemzug und verließ dann hastig die Stube.

Quelle:
Franz Michael Felder: Reich und Arm, in: Sämtliche Werke. Band 3, Bregenz 1973, S. 258-271.
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