Achtes Kapitel

[27] »Der Wagen! sie kommen, sie kommen!« – rief mein Heinrich, den ich auf den Weg geschickt hatte, mir am folgenden Abend entgegen. Mit einem Sprunge war ich aus Mariens Fenster, über den Bach, und schnell bis zum äußersten Gipfel meiner Eiche hinauf.

Der Wagen hielt, Heinrich öffnete den Schlag, und – o Gott, wie ward mir! – umfaßte Marie mit einer unerhörten Dreistigkeit, und hob sie, wie im Triumphe, aus den Wagen.

»Wer ist er, mein Freund?« – fragte Mariens Begleiterin, und Mariens Auge ruhte auf der herkulischen Gestalt. –[27] Ach, wie mir der Gedanke das Herz zerriß! er war doch noch männlich schöner, als ich – freylich auch ein Jahr älter. –

»Ich bin des Pachters Sohn,« – antwortete er mit einem Anstande, der mich zur Verzweiflung brachte, – »der junge Herr und ich wir sind Milchbrüder, und nun soll ich ihn begleiten, wenn er auf Reisen geht. Sollte noch irgend etwas fehlen,« – fuhr er fort, indem er die Hausthür öffnete – »so will ich bitten, daß Ihro Gnaden mich mit Ihren Befehlen beehren: es wird augenblicklich herbeygeschafft werden.«

Jetzt waren sie im Hause, und jetzt kochte mein Blut. Wie viel kostete es mich auf meiner Eiche den Augenblick abzuwarten, wo Marie in ihr Zimmer treten würde! – ach, ein Augenblick, nach dem ich so lange geschmachtet hatte. Endlich[28] öffnete sich die Thür, und – sollte ich meinen Augen trauen! – nur Marie und Heinrich traten herein, und sogleich schloß sich die Thüre wieder.

Mariens Blick fiel zuerst auf einen großen Rosenstrauch, den ich auf ihren Tisch hatte setzen lassen. Sogleich pflückte Heinrich die schönste Rose davon ab. »Ach, Schade!« – rief Marie. »Schade?« – wiederholte Heinrich – indem er ihr die Blume anboth – »o mein Gott! was wäre wohl Schade!« – und seine großen, brennenden Augen vollendeten die Ausrufung.

Jetzt trat das andere Frauenzimmer in die Thür, und jetzt konnte ich mich nicht mehr halten. Unvermerkt sprang ich vom Baume, und eilte den Verräther – so nannte ich ihn in meinem Herzen – aufzusuchen, und ihn augenblicklich zur Rede zu stellen.[29]

Quelle:
Karoline Auguste Ferdinandine Fischer: Gustavs Verirrungen. Leipzig 1801, S. 27-30.
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