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[451] Welle um Welle schlug über das Haupt des Ertrinkenden.

Die Fabrik hatte im Winter einige Monate gearbeitet. Die Rübenernte des Gutes war mißraten, der Anbau in der Umgegend, von dem der Freiherr vieles erwartet hatte, war unzureichend gewesen. Manche der kleinen Landwirte hatten ihre Kontrakte nicht erfüllt, andere hatten Schlechtes geliefert. Die Rüben fehlten, es fehlte das Kapital, die Fabrik stand still, die Arbeiter verliefen sich.

Ehrenthal war in die polnische Landschaft gereist, den Freiherrn schüttelte das Fieber der Erwartung. Er bestellte Postpferde, um seinem Bevollmächtigten nachzureisen, er bestellte sie wieder ab, denn ihm graute vor dem Tage des Termins, vor dem Bieten, dem Schacher und der bebenden Angst bis zum Schluß des Protokolls. Und wenn er dem Händler nicht traute, auf den Anwalt in Rosmin konnte er sich sicher verlassen. So kam der finstere Tag, wo Ehrenthal mit dem Brief des Justizkommissarius Walther vor ihn trat. Das Kapital des Freiherrn war nur dadurch zu retten gewesen, daß Ehrenthal die Herrschaft für den Freiherrn erstand. Die Eigentümer der ersten Hypothek von hunderttausend Talern hatten ihn hinaufgetrieben bis hundertundviertausend, dann waren sie fortgefahren, kein anderer Käufer war im Termin erschienen. »Die Herrschaft gehört jetzt Ihnen, Herr Baron«, schloß der Händler. »Damit Sie imstande sind, die[451] Güter zu behaupten, habe ich mit den Eigentümern der ersten Hypothek verhandelt, sie werden Ihnen die hunderttausend auf der Herrschaft stehnlassen. Ich habe für Sie erlegt viertausend Taler und die Gerichtskosten.« Der Freiherr sprach kein Wort, sein Kopf fiel schwer auf das Holz des Schreibtisches. Der Händler erzählte, wie er die Herrschaft für den Freiherrn übernommen hatte. Vor der Tür brummte er: »Es ist vorbei mit ihm. Zum nächsten Quartal verliert er sein altes Gut, und er hat keine Kraft zu behaupten das neue. Zuletzt werde ich kaufen müssen auch die Herrschaft.«

Jetzt nahte der Termin, an dem der Freiherr die Interessen aller geliehenen Gelder bezahlen sollte. Er fuhr umher und suchte wieder Geld. Vergebens. Zuletzt kam er zu Georg Werner, der das Gut seiner Mutter übernommen hatte. Befangen empfing ihn der junge Herr, welcher einige Jahre lang Lenoren seine Huldigungen gegönnt und sich dann vorsichtig zurückgezogen hatte. Die Verlegenheiten des Freiherrn waren kein Geheimnis mehr. Der Gutsnachbar zeigte den Anteil, welcher bei solcher Veranlassung schicklich ist. Er bedauerte sehr, daß dem Freiherrn auf der neugekauften Herrschaft eine so große Hypothek ausgefallen war. »Wen haben Sie zum Termin geschickt?« fragte er.

»Den Hirsch Ehrenthal«, erwiderte der Freiherr gedrückt.

Jetzt wurde der Nachbar beredt. »Ich fürchte«, rief er, »der Mensch hat Sie schlecht vertreten. Ich kenne diesen Wucherer. Er hat uns vor Jahren durch seine Schurkerei um eine große Summe gebracht. Mein Vater hatte auf seinem Gut oben in der Provinz einen Wald geschlagen und das Holz an einen Holzhändler abgeliefert. Ehrenthal machte mit diesem Mann ein Gaunergeschäft, er handelte ihm das Holz zu einem Spottpreise ab, der andere entwich nach Amerika. Die beiden Schurken haben das Geld meines Vaters miteinander geteilt.«

Die Wange des Freiherrn wurde fahl, er stand auf, sprach von seinem Anliegen kein Wort mehr und entwich von der Schwelle des Nachbars wie ein Verbrecher.

Seit dem Tage brütete er in seinem Sessel finster vor sich hin; wenn er ausging, tat er es nur, um sich auf Augenblicke zu betäuben. Er war rauh gegen seine Gemahlin, ganz unzugänglich für die Tochter. Die Frauen litten unsäglich.[452]

Noch eine Hoffnung dämmerte ihm, die Vermittlung Bernhards. Und diesmal hatte er recht, auf dem Wege war noch Rettung zu finden. Aber er ergriff nicht die Hand, die sich ihm uneigennützig darbot, nicht Anton ließ er rufen, sondern einen andern, der ihm unheimlich war, wenn er ihn nicht sah, und dessen trödelhaftes Wesen ihm wohltat, sooft er ihn erblickte. Noch einmal in der letzten Stunde bot ihm das gnadenvolle Schicksal die freie Entscheidung über seine Zukunft. Ach, aber er selbst war nicht mehr frei. Es war der Fluch einer schlechten Tat, der jetzt sein Urteil verwirrte.

Wieder stand Itzig vor ihm, der Freiherr sah die gekrümmte Gestalt von der Seite an: »Der junge Ehrenthal hat sich gegen mich erboten, meine Differenz mit seinem Vater beizulegen.«

Veitel fuhr in die Höhe wie durch einen Schuß getroffen, »der Bernhard!« rief er heftig.

»So ist ja wohl sein Name, er soll krank sein.«

»Er wird sterben«, erwiderte Veitel.

»Wann?« frug der Freiherr mit seinen Gedanken beschäftigt, er verbesserte sich aber sogleich: »Was fehlt ihm?«

»Es sitzt hier«, sagte Veitel auf die Brust zeigend, »es arbeitet wie ein Blasebalg, wenn ein Loch reißt, hört der Wind auf.«

Der Freiherr zeigte ein bedauerndes Gesicht, aber er dachte nur, daß er selbst Eile habe. »Der Kranke soll so viel Einfluß auf seinen Vater besitzen, daß durch ihn die Einwilligung des Ehrenthal zu hoffen ist.«

»Was versteht der Bernhard von Geschäften, er ist ein Narr«, rief Veitel, unfähig, seinen Ärger zu verbergen. »Wenn man ihm ein altes Leder hinlegt, das mit Buchstaben beschrieben ist, so gibt er dafür jede Hypothek; er ist unwissend.«

»Wie ich sehe, gefällt Ihnen dieser Weg nicht?« frug der Freiherr ratlos.

Bevor Itzig antwortete, stand er lange nachdenklich, unruhig fuhren die Augen von dem Freiherrn in die Ecken des Zimmers. Endlich erwiderte er mit plötzlicher Freundlichkeit: »Der gnädige Herr haben recht. Es wird am besten sein, wenn Sie und Ehrenthal an das Bett des kranken Bernhard gehen und dort miteinander abmachen Ihr Geschäft.« Wieder schwieg er eine Weile, und sein Gesicht rötete sich von stürmischen Gedanken. »Wollen[453] der gnädige Herr mir überlassen, Ihnen Tag und Stunde anzusagen, wo Sie am besten sprechen den Bernhard Ehrenthal? Wenn Sie eingetreten sind ins Comtoir, dann werde ich schnell hinaufgehen zu Bernhard und ihm sagen, daß Sie gekommen sind. Unterdes haben Sie die Gnade und warten Sie im Comtoir, und wenn es dauert eine halbe Stunde, bis ich wiederkomme, warten Sie, was auch der Ehrenthal sagt, und wie er auch schreit, warten Sie doch. Wenn ich Sie hinaufhole, wird alles in Ordnung kommen, denn was der Bernhard von seinem Vater will, das kann er machen.«

»Ich werde Ihre Nachricht erwarten«, schloß der Freiherr gepeinigt durch die Aussicht auf den schweren Tag.

Itzig verließ den Freiherrn und stürzte in wilder Aufregung nach seinem Lager im Hause des Pinkus. Heftig lief er in dem kleinen Zimmer auf und ab und ballte die Faust gegen Bernhard. Er öffnete den alten Schreibtisch und zog aus einer verborgenen Schublade zwei Schlüssel, die er auf die Tischplatte legte; immer wieder blieb er davor stehen und starrte sie an. Endlich versenkte er sie in die Tasche und sprang hinunter in die Karawanserei. Dort kauerte in einer Ecke der Galerie Herr Hippus, der kluge Freund Veitels. Hippus war in den letzten Jahren durch den Druck der Verhältnisse verhindert worden, stattlicher, jünger und ehrlicher zu werden, er sah vielmehr ungewöhnlich abgenagt und schadhaft aus. Jetzt hatte er sich in einen Winkel gedrückt, in welchen das warme Sonnenlicht fiel, und las in einem schmutzigen Roman. Als Veitel mit schnellem Schritt eintrat, senkte er den Kopf tiefer in sein Buch und schien an jedem Buchstaben mehr Anteil zu nehmen, als an dem jungen Geschäftsmann vor ihm.

»Macht Euer Buch zu, und hört mich an«, rief Veitel ungeduldig. »Der Rothsattel wird vom Ehrenthal seine Scheine zurückerhalten, er wird mir die Hypothek geben, und ich werde ihm sollen verschaffen die achttausend, welche noch Rest sind.«

»Seht doch, seht«, erwiderte der Alte, sein häßliches Haupt wiegend, »was man nicht alles erlebt! Wenn der Ehrenthal sein Geld an einen Lumpen wegschenkt, der ihm sein Wort gebrochen hat, so wird es Zeit, daß auch wir fromm werden und zur Beichte gehen. Bevor wir weitersprechen, kannst du mir etwas heraufbringen,[454] was ich gern esse und trinke. Ich bin durstig und spreche kein Wort mehr.«

Veitel eilte hinab, das Verlangte zu holen, der Alte sah ihm nach und murmelte: »Jetzt kommt's«, und starrte kopfschüttelnd über das Buch weg.

Als Veitel die geforderte Mahlzeit vor dem Advokaten aufgestellt hatte, frug er kurz: »Wieviel?«

»Dreihundert«, sagte der Alte, »und dafür muß ich mir's noch überlegen. Es ist nicht mein Genre, holder Itzig. In meinem Beruf stehe ich für weniger zu Dienst, wie du zu deiner Zeit erfahren hast; aber bei einer ehrenwerten Arbeit im Stil des Herrn Cartouche und anderer Freunde von dir verlange ich eine bessere Behandlung. Ich bin nur Freiwilliger. Und ich kann nicht sagen, daß ich Vorliebe für solche Geschäfte habe.«

»Hab' ich sie denn?« rief Itzig. »Wenn es ein Mittel gibt, dies zu vermeiden, so sagt's. Wenn Ihr wißt, wie man den Baron und Ehrenthal auseinanderhalten kann und jeden ruinieren durch den andern, so sagt's. Der eigene Sohn Ehrenthals wird Friede machen zwischen den beiden, er wird zwischen ihnen stehen, wie ein nackter Bocher mit Flügeln auf den Bilderbogen steht zwischen zwei Verliebten; und wir werden sein die Geprellten.«

»Wir?« sagte der Alte vergnügt. »Du wirst der Geprellte sein, du Dohle. Was gehn mich deine Geschäfte an?«

»Zweihundert«, rief Veitel sich ihm nähernd.

»Drei«, erwiderte der Alte und trank sein Glas aus, »aber ich tue es nicht allein, du mußt dabeisein.«

»Wenn ich dabeisein will«, sagte Veitel, »so kann ich's allein tun und brauche nichts von Eurer Hilfe. Hört mich an. Ich will machen, daß das Haus leer ist, daß der Ehrenthal und der Baron zu gleicher Zeit aus dem Comtoir hinausgehn; ich will Euch ein Zeichen geben, ob die Papiere auf dem Tisch liegen, oder im Schrank. Es wird finster sein, Ihr werdet haben die Zeit von einer halben Stunde. Ja, ich will zuschließen die Haustür; den Ausgang zur Hintergasse, der gewöhnlich verriegelt ist, werde ich aufmachen. Es ist so sicher, daß ein Kind von zehn Jahren könnte machen das Geschäft.«

»Sicher genug für dich«, sprach der Alte mürrisch, »aber für mich nicht.«[455]

»Wir haben doch versucht, was man machen kann mit dem Gesetz, und es ist nicht gegangen«, rief Veitel, »so muß es gehn wider das Gesetz.« Er schlug mit der Faust auf das Geländer und preßte die Zähne zusammen, daß sie knirschten. »Und wollt Ihr's nicht tun, so soll es doch geschehen; obgleich ich weiß, daß aller Verdacht auf mich fällt, wenn ich während der Zeit nicht in der Stube des Bernhard bin.«

»So ist's recht, du lustiger Itzig«, sagte der Alte und rückte an seiner Brille, um die zornige Entschlossenheit des andern genauer zu betrachten. »Da du so tapfer bist, so will ich dich nicht im Stich lassen; aber dreihundert.«

Der Handel begann. Die beiden drückten sich in die Ecke der Galerie und sprachen leise miteinander bis zur Dunkelheit.

Einige Tage darauf saß Anton in der Dämmerstunde am Lager des kranken Bernhard: »Nur im Sprunge bin ich hergekommen, zu sehn, wie es Ihnen geht.«

»Schwach«, erwiderte Bernhard, »immer noch schwach; das Atmen wird mir schwer. Wenn ich nur ins Freie hinaus käme, nur einmal hinaus aus diesem dunkeln Zimmer.«

»Erlaubt der Arzt Ihnen nicht, auszufahren? Wenn die Sonne warm scheint, komme ich morgen mit einem Wagen, Sie abzuholen.«

»Ja«, rief Bernhard, »Sie sollen kommen. Dann werde ich Ihnen auch etwas erzählen.« Er sah sich vorsichtig um. »Ich habe heut durch die Stadtpost einen Zettel ohne Unterschrift erhalten.« Er zog unter seinem Kopfkissen einen kleinen Brief hervor und übergab ihn mit geheimnisvoller Miene dem Freunde: »Nehmen Sie, vielleicht kennen Sie die Hand. «

Anton ging zum Fenster und las: »Der Baron Rothsattel will Sie heut gegen abend sprechen. Sorgen Sie dafür, daß Sie mit Ihrem Vater allein sind.«

Als Anton den Brief zurückgab, betrachtete Bernhard das Papier andächtig und steckte es wieder unter die Kissen. »Kennen Sie die Hand?« frug er.

»Nein«, erwiderte Anton, »die Schrift scheint verstellt, die Hand des Fräuleins ist es nicht.«

»Wer auch der Schreiber ist«, fuhr Bernhard kleinlaut fort, »ich hoffe Gutes von dem heutigen Abend. Wohlfart, dieser Streit[456] liegt mir mit Zentnerschwere auf der Brust, er nimmt mir den Atem, wie ein Gewicht fühle ich den Druck. Heut soll das besser werden, heut werde ich frei.«

Das Sprechen machte ihm Mühe. Nur in kurzen Sätzen fiel die Rede von seinen Lippen. »Also Wiedersehn auf morgen«, rief Anton. Als er sich erhob, knisterten weiche Damensohlen, die Mutter und Rosalie traten an das Bett des Kranken und begrüßten den Gast. »Wie geht's, Bernhard?« frug die Mutter, »du wirst heut mit deinem Vater allein sein, es ist heut abend große musikalische Akademie, die Rosalie wird auf dem Flügel spielen. Wir haben den Flügel in die Hinterstube gerückt, Herr Wohlfart, damit sie den Bernhard nicht durch ihre Übungen stört.«

»Setze dich noch einen Augenblick zu mir, Mutter«, sagte Bernhard, »ich habe dich lange nicht in deinen schönen Kleidern gesehen. Du siehst heute sehr hübsch aus, ein solches Kleid trugst du, da ich als Knabe das Scharlachfieber bekam. Wenn ich von dir träume, sehe ich dich immer in dem gelben Gewand vor mir. Gib mir deine Hand, Mutter, und wenn du heut abend Musik hörst, denke auch an deinen Bernhard, ich werde hier eine stille Musik machen.«

Die Mutter setzte sich zu ihm. »Er hat wieder das Fieber«, sprach sie zu Anton. Anton stimmte schweigend bei.

»Morgen fahre ich in die Sonne«, rief Bernhard aufgeregt, »das wird mein Vergnügen sein.«

»Der Wagen wartet«, erinnerte Rosalie, »wir müssen mit unsern Kleidern durchs Hinterhaus, wo es so unreinlich ist. Der Itzig hat dem Vater eingeredet, daß der Wagen vorn nicht vorfahren darf, weil er den Bernhard stört.«

»Schlaf wohl, Bernhard«, sagte die Mutter und reichte ihm noch einmal die runde Hand. Die Frauen eilten aus dem Zimmer, Anton folgte ihnen.

»Was sagen Sie zu dem Befinden des Bernhard?« frug die Mutter auf der Treppe.

»Ich halte ihn für sehr krank«, erwiderte Anton.

»Ich habe meinem Mann schon gesagt, wenn es weiter in den Sommer kommt, gehe ich mit Rosalie ins Bad, da wollen wir den Bernhard mitnehmen.«

Anton ging mit schwerem Herzen aus dem Hause.[457]

Es wurde still im Hause, in den Zimmern Ehrenthals hörte man nichts, als die schweren Atemzüge des Kranken. Nur unter ihm im Boden rasselte es. Eine Maus nagte am Holz. Unruhig hörte Bernhard ihr zu. »Wie lange wird sie noch nagen, bis sie sich eine Öffnung ausgehöhlt hat, dann kommt sie zu mir in die Stube.« Ein Frösteln überlief ihn, er warf sich auf seinem Lager herum, die Dunkelheit war ihm heut beengend, die Luft dick. Er klingelte so lange, bis die Aufwärterin kam und die Lampe hereinsetzte. Jetzt sah er sich ermüdet um. Die Stube sah ihm heut alt und verschossen aus, sie kam ihm fremd vor wie ein Gastzimmer und er sich wie ein Fremder, der hier nur zum Besuch war. Teilnahmslos blickte er auf seinen Bücherschrank und auf die Schublade, in welcher die teuren Manuskripte lagen. Den Brandfleck auf der Diele, den Ritz in der Tür, durch den das Licht in der Nebenstube alle Abende durchschimmerte, das alles wollte er morgen verlassen, um mit Anton aus der engen Stube auszuziehn. Er dachte daran, ob sie nicht auf dem Wege fahren könnten, auf dem das Fräulein nach dem Gute fuhr und wieder zurück. Vielleicht würde er sie treffen. Sein Auge strahlte, er hoffte sicher, daß er das Fräulein auf dem Wege treffen müßte. Sie saß stolz aufgerichtet in ihrem Wagen, der Schleier flog um das blühende Gesicht, ihr weißer Arm hob sich und winkte grüßend zu seinem Wagen herüber. Ja, sie erkennt ihn, sie weiß, daß er ihrem Vater einen Dienst geleistet hat, vielleicht läßt sie stillhalten und fragt herüber in seinen Wagen, wie es ihm ergehe. So wird er mit ihr sprechen und den edlen Klang ihrer Stimme hören. Noch einmal wird sie ihm zunicken, dann werden die beiden Wagen auseinander fahren, einer hierhin und der andere dorthin. – Und wohin würde er fahren? »Hinein in die Sonne«, flüsterte er. – Und wieder lauschte er ängstlich auf das Nagen der Maus.

Ein eiliger Fuß durchschritt den Vorsaal, Bernhard richtete sich auf, und das Blut stieg ihm ins Gesicht. Es war der Vater Lenorens, der zu ihm kam. Leise öffnete sich die Tür, eine häßliche Gestalt schlüpfte herein und sah sich scheu im Zimmer um. Erschrocken rief Bernhard: »Was wollen Sie hier?«

Hastig trat Itzig an sein Bett und sprach mit kurzem Atem und einer Stimme, die ebenso gepreßt klang, wie die des Kranken: »Der Baron ist jetzt in das Comtoir gegangen. Er hat mir gesagt,[458] ich soll zu Ihnen gehen und Ihnen zureden, damit Sie die Forderung unterstützen, die er stellt an Ihren Vater.«

»Ihnen hat er das gesagt?« rief Bernhard. »Wie kann der Freiherr einem Mann, wie Sie sind, einen Auftrag geben?«

»Schweigen Sie still«, entgegnete Veitel rauh, »es ist jetzt keine Zeit für Ihr Gerede. Hören Sie meine Worte. Der Baron hat Ihrem Vater mit seinem Ehrenwort eine Sicherheit für zwanzigtausend Taler versprochen und er kann ihm diese Sicherheit nicht geben, weil er dasselbe Dokument einem andern verkauft hat. Er hat sein Wort gebrochen und verlangt jetzt von Ihrem Vater, daß der auf seine gute Sicherheit verzichtet. Können Sie zureden, daß Ihr Vater zwanzigtausend Taler verliert, so tun Sie es.«

Bernhard zitterte, daß ihm die Hände flogen. »Sie sind ein Lügner«, rief er. »Jedes Wort, das aus Ihrem Munde kommt, ist Betrug und Heuchelei und Hinterlist.«

»Schweigen Sie«, wiederholte Veitel in seiner Fieberangst. »Sie sollen Ihrem Vater nicht reden zu Schaden. Dem Baron ist nicht zu helfen, er ist eine Fliege, welche sich die Flügel am Licht verbrannt hat, er kann nur noch kriechen. Und wenn der Ehrenthal als Narr einem schlechten Rat folgt, den Sie ihm geben, weil Sie nichts verstehen, so kann er doch den Freiherrn nicht erhalten auf seinem Gut. Wenn er ihn nicht wirft, so tut's ein anderer. Ich habe keinen Vorteil dabei, wenn ich Ihnen das sage«, fuhr er unruhig fort und horchte nach einem Geräusch vor dem Hause, »ich tu es nur aus Anhänglichkeit an Ihre Familie.«

Bernhard rang nach Luft. »Gehn Sie hinaus«, rief er endlich, »es ist alles Betrug und Lüge auf dieser Welt.«

»Ich hole den Baron und Ehrenthal herauf«, sprach Veitel und stürzte hinaus.

Laut scholl in der Hausflur die zornige Stimme Ehrenthals: »Ich werde gehen zu den Gerichten, ich werde Sie anzeigen und Ihre Intrigen.« Veitel riß die Tür auf. Auf dem Lederstuhl saß der Freiherr und verbarg das Gesicht mit der Hand, vor ihm drohte Ehrenthal im Zorn zitternd, auf dem Pult stand die Kassette des Freiherrn, mit den verhängnisvollen Schuldscheinen und der Hypothek. Veitel rief in das Zimmer: »Hören Sie auf, Ehrenthal, Ihr Bernhard ist sehr krank, er liegt oben allein und ruft nach Ihnen, und ruft nach dem Herrn Baron, er will Sie beide haben an sein Bett.«[459]

»Was ist das?« schrie Ehrenthal, »spielen Sie Intrige hinter meinem Rücken auch mit meinem Sohn?«

»Haben Sie ihm die neue Hypothek gezeigt, die Sie für ihn bestellt haben?« frug Veitel den Freiherrn in fliegender Eile.

»Er hat sie gar nicht sehen wollen«, sagte der Freiherr finster.

»Geben Sie her«, sagte Veitel hastig und legte ein neues Dokument vor Ehrenthal auf den Tisch.

»Sie wollen mir geben ein Stück Papier für mein gutes Geld, einen Wisch, welcher nicht wert ist, daß ich ihn verbrenne.«

»Halten Sie sich nicht auf«, rief Veitel wieder mit ängstlicher Stimme. »Es ist niemand oben beim Bernhard, er schreit nach Ihnen und dem Baron, er wird sich einen Schaden tun. Machen Sie, daß Sie hinaufgehen, er hat gestöhnt, ich soll Sie im Augenblick zu ihm schaffen.«

»Gerechter Gott!« rief Ehrenthal und ergriff seinen Hut, »was ist das wieder? Ich kann nicht kommen zu meinem Sohn, ich habe jetzt Sorge um mein Geld.«

»Er wird sich schreien zu Tode«, rief Veitel wieder, »wegen dem Gelde können Sie nachher noch genug reden. Machen Sie schnell.«

Der Freiherr und Ehrenthal traten aus dem Comtoir. Itzig folgte. Ehrenthal verschloß die Tür, er legte die eiserne Stange vor und befestigte das Vorlegeschloß. Sie eilten die Treppe hinauf, Veitel als letzter. Auf den Stufen klang ein Geldstück, Ehrenthal sah sich um. »Es ist mir aus der Tasche gefallen«, sagte Veitel.

Der Freiherr und Ehrenthal traten in das Zimmer des Kranken, hinter ihnen schob sich Itzig herein und fuhr längs der Wand bis an das Fenster, hinter das Haupt Bernhards, damit dieser ihn nicht erblicke. Der Freiherr setzte sich zu Häupten des Lagers, der Vater an das Fußende; aus der Lampe fiel ein mattes Licht auf die Parteien, welche zu dem Todkranken kamen, um über Kapital und Sicherheit zu hadern. Der Edelmann begann mit köstlicher Rede, er erinnerte sich der früheren Besuche Bernhards und sprach von der Hoffnung, ihn bald wieder auf seinem Gut zu begrüßen, aber seine Augen sahen furchtsam auf das entstellte Gesicht, und in ihm rief eine Stimme: es war die höchste Zeit. Bernhard saß aufgerichtet in seinem Bett, den Kopf zur Brust hinabgeneigt, er erhob die Hand und unterbrach die Rede des[460] Freiherrn: »Bitte, Herr Baron, sagen Sie mir, was Sie von meinem Vater wollen, und nehmen Sie Rücksicht darauf, daß ich kein Geschäftsmann bin.«

Der Freiherr setzte ihm das auseinander, Ehrenthal versuchte oft, ihn zu unterbrechen, aber Bernhard winkte mit der Hand, worauf der Alte wieder abbrach und sich begnügte, heftig den Kopf zu schütteln und vor sich hin zu brummen.

Als der Freiherr geendet hatte, winkte Bernhard seinem Vater: »Komm näher heran, höre ruhig auf meine Worte.« Der Vater fuhr mit seinem Ohre bis nah an den Mund des Sohnes. »Was ich sage«, sprach Bernhard leise, »ist mein fester Wille, und nicht erst heut bin ich zu dem Entschluß gekommen. Wenn du Geld erworben hast, so war dein Gedanke, daß ich dich überleben sollte und nach deinem Tode dein Erbe werden. War's nicht so?« Ehrenthal nickte stark mit dem Kopf. »Wenn du in mir deinen Erben siehst«, fuhr Bernhard fort, »so höre auf meine Worte. Wenn du mich liebst, so handle nach dem, was ich dir sage. Ich verzichte auf mein Erbteil, während wir beide leben. Was du für mich gesammelt hast, das wirst du umsonst gesammelt haben. Ich verlange nichts für meine Zukunft. Wenn es mir beschieden ist, wieder gesund zu werden, so will ich mir durch meine eigene Arbeit forthelfen, ich will lernen, auf mich selbst vertrauen; außer deiner Liebe und deinem Segen begehre ich nichts mehr für mich. Daran denke.«

Ehrenthal erhob die Arme und rief: »Was ist das für eine Sprache, mein Bernhard, mein armer Sohn? Du bist krank, du bist sehr krank.«

»Höre mich weiter«, bat Bernhard. »Was du für Recht auf das Gut dieses Herrn hast, das soll hier gleich sein. Du hast lange Jahre mit ihm in Verkehr gestanden, du darfst nicht die Ursache sein, daß seine Familie unglücklich wird. Ich verlange nicht, daß du die große Summe wegschenken sollst, das würde dir zu wehe tun und würde den Herrn demütigen; aber ich fordere von dir, daß du die Sicherheit nimmst, die er dir anbietet. Hat er dir früher anderes versprochen, vergiß das; hast du Papiere in Händen, die ihn ängstigen, gib sie ihm zurück.«

»Er ist krank«, stöhnte der Vater, »sehr krank ist er.«

»Ich weiß, daß dich das schmerzen wird, mein Vater. Seit du[461] aus dem Haus des Großvaters weggingst, als ein armer Judenknabe, barfuß, mit einem Taler in der Tasche, seitdem hast du an nichts anderes gedacht, als an Erwerb. Niemand hat dich etwas anderes gelehrt, dein Glaube hat dich ausgeschlossen von dem Verkehr mit solchen, welche besser verstehn, was dem Leben Wert gibt. Ich weiß, daß es dir ans Herz geht, eine große Summe in Gefahr zu setzen. Aber du wirst es doch tun, du wirst es tun, weil du mich liebst.«

Ehrenthal rang die Hände und sagte unter strömenden Tränen: »Du weißt nicht, was du forderst, mein Sohn! Was du verlangst, das ist ein Diebstahl an deinem Vater. «

Der Sohn ergriff die Hand des Vaters. »Du hast mich immer geliebt. Du hast gewollt, ich sollte anders werden, als du. Du hast immer auf meine Worte gehört, und ehe ich einen Wunsch aussprach, hast du ihn erfüllt. Was ich jetzt von dir will, das ist die erste große Bitte, die ich an dich tue. Und diese Bitte werde ich dir ins Ohr sprechen, solange ich lebe, es ist die erste, mein Vater, und es wird meine letzte sein.«

»Du bist ein törichtes Kind«, rief der Vater außer sich, »du verlangst mein Leben, du verlangst mein ganzes Geschäft.«

»Hole die Papiere«, erwiderte Bernhard. »Ich will mit meinen Augen sehn, wie du dem Herrn zurückgibst, was er geschrieben hat, und wie du aus seiner Hand empfängst, was er dir noch geben kann. «

Ehrenthal holte sein Taschentuch hervor und weinte laut: »Er ist krank. Ich soll ihn verlieren und ich soll verlieren auch mein Geld.« Der Freiherr saß unterdes schweigend auf seinem Stuhl und sah vor sich nieder. An dem Fenster aber ballte Itzig krampfhaft die Hand, und ohne daß er es merkte, zerrte er die Gardine von der Stange.

Der Sohn sah unterdes unverwandt auf die Windungen des Vaters und rief endlich mit Anstrengung: »Ich will es, Vater, hole die Papiere.« Dann sank er in die Kissen zurück. Der Vater wollte sich auf ihn stürzen, aber mit einer kurzen Gebärde des Widerwillens wies Bernhard ihn zurück, und mit Mühe aufatmend, sagte er: »Es ist genug, du tust mir weh.«

Da fuhr Ehrenthal auf, ergriff seinen Comtoirleuchter und wankte aus dem Zimmer. Still war es in dem Raum, nur die[462] ängstlichen Atemzüge der Zurückbleibenden wurden gehört. Immer noch saß der Freiherr gebeugt, aber in der Abspannung fühlte er etwas durch seine Seele zucken, was aussah wie Freude. Er sah eine Stelle an seinem Himmel, wo die Sonne aus den dunkeln Wolken brach. Er war gerettet. Sein Ehrenwort war ihm zurückgegeben, und neue achttausend Taler von dem Manne am Fenster in Aussicht. Jetzt konnte er wieder aufblicken, er durfte wieder sein Haupt hoch tragen. Er faßte die Hand des Kranken, drückte sie und sagte ihm leise: »Ich danke Ihnen, mein Herr, o wie danke ich Ihnen, Sie sind mein Retter, Sie schützen meine Familie vor Verzweiflung und mich vor der Schande.«

Bernhard hielt die Hand des Freiherrn fest, und ein seliges Lächeln flog über sein Gesicht. Unterdes schlug am Fenster einer mit den Zähnen zusammen in verzweifelter Spannung und preßte seinen Leib fest an die Mauer, um das Fieber zu bändigen, das ihn schüttelte.

So blieb es lange still in der Stube, niemand sprach, Ehrenthal kam nicht zurück. Plötzlich wurde die Entreetür aufgerissen, in voller Furie stürzte ein Mann in das Zimmer, das Gesicht verstört, die Haare zerrauft. Es war Ehrenthal. – Er hielt das flackernde Licht in der Hand, aber nichts anderes.

»Verschwunden!« schrie er und schlug die Hände zusammen, daß das Licht auf den Boden fiel. »Alles ist fort, gestohlen ist alles.« Er stürzte an dem Bett seines Sohnes nieder und streckte die Arme nach dem Kranken aus, als wollte er Hilfe von ihm erflehen. Der Freiherr sprang auf, nicht weniger entsetzt, als Ehrenthal. »Was ist gestohlen?« rief er den andern an.

»Fort ist alles«, stöhnte Ehrenthal, nur auf seinen Sohn blickend, »die Verschreibungen sind fort, die Hypotheken sind fort. Ich bin beraubt«, schrie er aufspringend, »Diebstahl, Einbruch! Schickt nach der Polizei!« Und wieder stürzte er hinaus, der Freiherr hinter ihm.

Betäubt, halb ohnmächtig sah Bernhard ihnen nach. Da trat vom Fenster er, der zurückgeblieben war, an das Bett. Der Kranke warf sein Haupt zur Seite und starrte auf den Mann, wie der ermattete Vogel auf die Schlange. Es war das Gesicht eines Teufels, in das er blickte, rotes Haar stand borstig in die Höh, Höllenangst und Bosheit saß in den häßlichen Zügen. Bernhard[463] schloß die Augen und hielt die Hand vor. Aber das Gesicht kam näher an ihn heran und eine heisere Stimme flüsterte in sein Ohr.

Unterdes standen unten im Comtoir zwei Männer einander gegenüber und sahen einander mit nichtssagenden Blicken an. Die Kassette mit ihrem Inhalt war verschwunden, was der Freiherr auf das Pult gelegt hatte, war verschwunden. Ehrenthal hatte mit seinen Schlüsseln geöffnet wie immer, nichts an den Schlössern war versehrt, alles im Comtoir lag an seiner Stelle. Wenn in dem offenen Geldschrank Geld fehlte, so konnte es nur wenig sein. An den wohlverwahrten Fensterladen war keine Spur von Verletzung, es blieb unbegreiflich, wie die Dokumente genommen waren.

Die beiden Männer liefen in den Hausflur, dort leuchteten sie umher, hinter der Treppe, hinter einer alten Kiste, in dem Eingang zum Keller, in dem schwarzen Hofraum, nirgend war etwas zusehen. Sogar die Haustür war verschlossen; sie erinnerten sich, daß der vorsichtige Buchhalter beim Heraufgehen das getan hatte. Und wieder rannten sie zurück in das Comtoir und durchsuchten jeden Winkel immer hastiger, immer angstvoller. Dann saßen sie einander gegenüber mit blutlosen Wangen in einer Angst, welche mit jeder Minute stieg, jeder dem andern mißtrauend, jeder mit feindlichem Blick auf den andern schielend, ob nicht ein Zeichen das böse Gewissen verrate. Und wieder sprangen beide auf und überschütteten einander mit Vorwürfen, wie sie die Verzweiflung eingibt, und während sie wie Wilde gegeneinander die Hand erhoben, empfanden beide, daß der andere ebensoviel verliere, als der eine, und daß sie Grund hatten. Ihre Stimmen zu mäßigen, damit kein Fremder ein Zeuge des Auftritts werde.

Aus Ehrenthals Comtoir waren die Papiere verschwunden in dem Augenblick, wo er widerwillig dem Drängen seines Sohnes nachgab, sich mit dem Freiherrn zu versöhnen. Er hatte noch kaum in die Versöhnung gewilligt, er allein war gegangen, die Papiere zu holen. Würde man ihm glauben, daß sie gestohlen waren? Würde sein eigener Sohn ihm glauben?

Und wieder dem Freiherrn hing an den Papieren alles, o sein Verlust war der größte. Eben erst hatte er sich einer Hoffnung auf Rettung hingegeben, jetzt sank er in einen Abgrund, dessen[464] Tiefe das Auge des Fallenden noch gar nicht ermessen konnte. In fremden Händen waren die Scheine. Wenn der Dieb sie zu benutzen verstand, ja wenn der Diebstahl nur vor Gericht angezeigt wurde, so war er verloren. Und wenn sie sich nicht wiederfanden, auch dann war er rettungslos verloren. Jahrelang konnte es dauern, bis ihm die verlorenen Hypotheken vom Gericht neu ausgefertigt wurden, und sein Schicksal mußte sich in Wochen entscheiden. Er war nicht imstande, sich mit dem feindseligen Ehrenthal auseinanderzusetzen, er war nicht imstande, andern Gläubigern Deckung zu geben. Jetzt war er unrettbar verloren. Vor ihm lagen Armut, Verfall, Schande. Wieder fiel ihm jenes Ehrengericht ein, seine Kameraden und der unglückliche junge Mann, der sich selbst gerichtet hatte. Er hatte damals den Toten ansehn müssen, er wußte, wie einer aussah, der so gestorben war. Er wußte jetzt auch, wie man dazu kam, so zu sterben. Sonst hatte ihn gegraut, wenn er an das Bild des Toten dachte, jetzt fühlte er kein Grauen mehr. Seine Lippen bewegten sich, und wie im Traume sprach er zu sich selbst die tröstenden Worte: das ist die letzte Hilfe.

So saßen die beiden Männer einander gegenüber und brüteten vor sich hin, und die Minuten, welche über ihr Haupt zogen, entstellten ihr Antlitz und ihr Urteil.

Hastiger flackerte das Licht, die Tür wurde aufgerissen, langsam wendeten die beiden ihr Gesicht dem Eintretenden zu. Ein häßlicher Kopf erschien an der Tür, und ein wilder Ruf wurde gehört: »Hinauf, Hirsch Ehrenthal, Euer Sohn stirbt.« Die Erscheinung verschwand, mit einem lauten Schrei stürzte Ehrenthal nach der Tür, der Freiherr wankte als ein müder Mann zum Hause hinaus.

Als der Vater am Bett seines Sohnes niederfiel, hob sich noch einmal seine weiße Hand drohend in die Höh, dann sank ein toter Leib zurück. Bernhard fuhr nach der Sonne.

Draußen war ein warmer Abend. Ein leichter Wolkendunst bedeckte die Sterne des Nachthimmels, aber ein heimliches Dämmerlicht erhellte die Erde. Von dem blühenden Gebüsch der öffentlichen Anlagen trieb der Luftzug balsamische Düfte in die Straßen der Stadt. Langsam zogen die heimkehrenden Spaziergänger an den Häusern entlang, es wurde ihnen schwer, die südliche[465] Luft zu verlassen und sich in ihre Mauern einzuschließen. Behaglich dehnte sich der Bettler auf der Schwelle des steinernen Palastes; jeder Gesell, der ein Liebchen hatte, eilte heut zu ihr und führte sie durch die Straßen; wer müde war, heut vergaß er die Arbeit des Tages, wer Kummer hatte, heut fühlte er ihn wenig, wer sonst das ganze Jahr allein stand, heut suchte er den Nachbarn auf. Vor den Türen standen die Leute, plauderten und lachten, die Kinder spielten auf der Straße, sie haschten einander in der Dämmerung und tanzten auf den Granitplatten des Pflasters. Heut schmetterte die Nachtigall im Bauer ihr bestes Lied, sie sang, daß der schöne Frühsommer da sei, die glückliche Zeit, wo das Leben leicht wird, und die Hoffnungen sich zur Blüte entfalten.

Durch die Schwärme der Spaziergänger schritt schwerfällig die hohe Gestalt eines Mannes, den Kopf auf der Brust. Seine Pferde stampften ungeduldig auf das Pflaster und erwarteten die Rückkehr des Herrn, um ihn aus dem Gewühl der Arbeiter in das vornehme Quartier zu führen. Sie warteten umsonst bis in die Nacht hinein; der, dem sie dienten, hatte sie vergessen. Er hörte nichts von dem Ruf der Nachtigall und trat durch den Kreis der tanzenden Mädchen, ohne einen Laut von den fröhlichen Kinderstimmen zu vernehmen. Sein Haupt war ihm schwer, und träge der Zug seiner Gedanken. So kam er aus der Stadt in die Anlagen, er stieg langsam einen blumengeschmückten Hügel hinan und setzte sich dort ermüdet auf eine Bank. Unten vor seinen Füßen zog der dunkle Strom dem Meere zu, ihm gegenüber erhoben sich die gewaltigen Massen des alten Doms. Der Fluß vor ihm war bedeckt mit Holzflößen, welche vom Oberlauf des Stroms herkamen, um weit hinab zu fahren bis in die Nähe der See. Auf den Flößen standen die Hütten der Ruderknechte und kleine Feuer, an denen die Leute ihre Abendkost bereiteten. Durch die stille Luft klang zuweilen das laute Gelächter oder ein roher Schrei der Fährleute zu ihm herauf. Das flutende Wasser, die kühnen Umrisse der Türme, den duftigen Wolkenschleier hoch oben sah er wie im Nebel, nur ein Gedanke blitzte in seinem finstern Gemüt auf, wie der feurige Punkt dort unten auf dem Fluß. Auch er hatte mit geflößtem Holz Geschäfte gemacht und das Geld, das er dabei gewonnen, wurde von andern ein Sündengeld genannt. Es[466] war fremdes Eigentum, wie die Summe, die der Mann mit der Pistole genommen hatte. Er stand hastig auf und eilte den Hügel hinab.

In einer Allee hoher Platanen lief er hin und her, und wieder blieb er ermüdet stehen und stützte seinen Rücken an einen Baumstamm. Vor ihm stiegen die Schornsteine des Quartieres auf, in dem sich die Fabriktätigkeit der Stadt angesiedelt hatte, eine Reihe riesiger Obelisken ragte hoch über die Dächer der Menschenwohnungen. Er wußte, was das bedeutete, eine solche Säule in die Wolken bauen. Auch er hatte in den Grund des Baues alles hineingeworfen, was ihn bis daher schützend umgeben hatte, seine Kraft, sein Geld, seine Ehre. Mit schlaflosen Nächten, mit grauem Haar hatte sein Wahnwitz ein solches Monument bezahlt, es war die Leichensäule seines Geschlechts, die er auf seinem Gut aufgebaut hatte, und was er hier vor sich sah in dem undeutlichen Lichte der Nacht, das war ein ungeheurer Kirchhof, viele schattenhafte Denkmäler, unter welchen der Seelenfrieden glücklicher Menschen eingesargt lag. Und er nickte mit seinem Haupte und sagte, so daß er selbst die Worte vernahm: »Das war das letzte.« Er richtete sich auf und schritt seinem Hause zu.

Auf dem Wege empfand er, wie behaglich ihm war, an das zu denken, was ihn von solchen häßlichen Bildern befreien konnte. So trat er in sein Haus. Er machte ein freundliches Gesicht, als ihm die Lampe des Flurs auf die Augen schien. Als er in dem Entree stand, hörte er in dem Zimmer der Baronin sprechen. Lenore las vor. Er hörte zu und merkte, was sie vorlas, war aus einem Roman. Er durfte die Frauen nicht erschrecken. Aber es war ein Hinterzimmer im Hause, abgelegen, die Stube daneben unbewohnt, dorthin mußte er gehen. Als er noch so stand, öffnete sich die Tür, und die Baronin sah heraus. Unwillkürlich fuhr sie zurück, als sie ihn an der Tür erblickte. Er lächelte und trat mit munterem Schritt in das Zimmer. Seiner Frau gab er die Hand, er strich über Lenorens Haupt und beugte sich nieder, um zu sehen, was sie las. Die Baronin klagte, daß sie den Tee ohne ihn getrunken, und er scherzte über ihre Ungeduld, die den Lieblingstrank nicht erwarten konnte. Dabei dachte er, daß es ihm selbst auf eine Stunde durchaus nicht ankomme. Er trat zu dem Bauer, in welchem zwei kleine Vögel aus fremdem Lande schlafend auf[467] der Stange saßen, dicht aneinandergedrängt, ein Köpfchen an das andere gelehnt; er steckte den Finger zwischen die metallenen Stäbe, als wollte er sie streicheln, und sagte gedankenlos: »Die sind zur Ruh gegangen.« Dann nahm er die Kerze aus der Hand des Bedienten und schritt nach der Tür seines Zimmers. Als er den Griff anfaßte, bemerkte er, daß das Auge seiner Frau ängstlich auf ihn gerichtet war, er wandte sich noch einmal zu ihr und nickte ihr freundlich zu. Dann schloß er die Tür. Er holte einen polierten Kasten aus seinem Schreibtisch und trug ihn mit dem Licht nach der Eckstube des Hauses. Hier war er sicher, niemanden zu stören.

Langsam lud er. Während des Ladens sah er auf die eingelegte Arbeit des Kolbens. Es war die mühsame Arbeit eines armen Teufels von Büchsenmacher, seine Bekannten hatten sie oft bewundert; die Pistolen selbst waren ein Geschenk des Generals, der bei seiner Hochzeit den Brautvater seiner elternlosen Gemahlin gemacht hatte. Schnell drückte er den Ladestock in den Lauf; dann sah er hinter sich, wenn er fiel, wollte er nicht auf dem Boden liegen. Er durfte die, welche eintraten, nicht durch den häßlichen Eindruck erschrecken, den ihm der Kamerad auf der Diele gemacht hatte.

Er setzte das Eisen an seine Schläfe. Da wurde der gellende Schrei einer Frau gehört, sein Weib stürzte in das Zimmer; sein Arm wurde mit der Kraft der Verzweiflung gefaßt, er zuckte zusammen, der Finger berührte den Drücker. Ein Feuerstrahl und ein Knall, und er sank in das Sofa zurück und fuhr ächzend mit beiden Händen nach seinen Augen.

Im Hause des Händlers aus dem Zimmer des Toten stieg ein Vater das Licht in der Hand die Treppe hinab in das Comtoir. Ängstlich leuchtete er auf das Pult, in den Schrank, in alle Ecken des Raumes, er setzte sich nieder, schüttelte den Kopf und wunderte sich. Dann verschloß er sein Comtoir, stieg wieder hinauf und fiel mit Stöhnen und Geschrei an dem Bett nieder. So trieb er es die ganze Nacht hindurch, klagend und suchend, ein verstörter, abgelebter, zugrundegerichteter Mann.[468]

Quelle:
Gustav Freytag: Soll und Haben. München 1977 bzw. 1978, S. 451-469.
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