Rheinsage

[11] Am Rhein, am grünen Rheine,

Da ist so mild die Nacht,

Die Rebenhügel liegen

In goldner Mondenpracht.


Und an den Hügeln wandelt

Ein hoher Schatten her

Mit Schwert und Purpurmantel,

Die Krone von Golde schwer.


Das ist der Karl, der Kaiser,

Der mit gewalt'ger Hand

Vor vielen hundert Jahren

Geherrscht im deutschen Land.


Er ist heraufgestiegen

Zu Aachen aus der Gruft

Und segnet seine Reben

Und atmet Traubenduft.


Bei Rüdesheim da funkelt

Der Mond ins Wasser hinein

Und baut eine goldene Brücke

Wohl über den grünen Rhein.


Der Kaiser geht hinüber

Und schreitet langsam fort

Und segnet längs dem Strome

Die Reben an jedem Ort.[11]


Dann kehrt er heim nach Aachen

Und schläft in seiner Gruft,

Bis ihn im neuen Jahre

Erweckt der Trauben Duft.


Wir aber füllen die Römer

Und trinken im goldenen Saft

Uns deutsches Heldenfeuer

Und deutsche Heldenkraft.

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 1, Leipzig und Wien 1918, S. 11-12.
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