Schicksalslied

[404] Starr und unwandelbar

Mit ehernen Füßen

Durch Zeit und Wechsel

Schreitet das Schicksal,

Nach ewiger Satzung

Unerbittlich

Segen lohnend mit Segen,

Fluch mit Fluch.


Hat die Erde

Blut getrunken,

Aus der rauchenden Scholle

Mit dem Schlangengelock

Steigt die Erinnys;[404]

Nimmer müde,

Dem lechzenden Spürhund gleich,

Keucht sie nach der Fährte des Frevlers

Und singet Eulengesang

In seine Träume.


In selbstgewürktem Netze

Unentrinnbar

Fesselt sie den Flüchtling;

Sein einzeln Haupt

Trifft sie grollend,

Trifft zugleich

Des fluchgezeugten Enkels Schläfe;

Sie legt die Fackel

An den Prachtbau

Ganzer Geschlechter;

Riesig wachsend

Über Völker und Reiche

Gießt sie die volle

Schale des Zorns.


Aber neben

Der Hochherdräuenden,

Wie Mond durch Nächte,

Wandelt auf schwebenden

Sohlen die Gnade,

Himmlisch Erbarmen im Angesicht.


Wehe, wer trotzig

Finsteren Auges

Vorüberschreitet

Der lichten Gestalt;

Verfallen ist er

Dem eisernen Spruche

Der unerbittlichen Rächerin,

Und seiner Frevel

Wird ihm keiner geschenkt.


Aber den Reuigen,

Der mit flehenden Armen

Sich an den Saum[405]

Der Himmlischen klammert

Und selbst die achtlos

Weiterschreitende

Nimmer losläßt:

Lächelnd endlich

Hebt sie empor ihn,

Und wie einst Pallas

Mit dem Gorgoschilde

Den fluchbeladnen

Orestes deckte,

Deckt sie ihn

Mit silbernem Schleier,

Daß ihn die zürnende

Schwester nicht schaut.


Leis auch verwandelt

Sie den Geretteten;

Sein blutig Gewand

Wird weiß wie Wolle

Junger Lämmer,

Und den Entsühnten

Führt sie geflügelt

Hinauf an das Herz

Des ewigen Vaters.


Wähl', o Sterblicher:

Willst du wohnen

Im Bann des Schicksals,

Untertan

Unbeugsamer Satzung?

Willst in der himmlischen

Retterin Arme

Gläubig dich flüchten?

Dein ist die Wahl.

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 1, Leipzig und Wien 1918, S. 404-406.
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