Erste Begegnung

[187] Lieblich war sie als Kind, schwarzäugig; schimmernde Blässe,

Wie sie die Perle dir zeigt, lag ihr um Wangen und Stirn,

Daß fremdartig sie fast im Kreise der blonden Geschwister

Wie ein südlich Gewächs unter den heimischen stand.

Aber ich sah sie zuerst elfjährig am Ufer des Meeres,

Da sie vom Bad heimkam in der Gespielinnen Schwarm,

Froh des köstlichen Tags; denn im Seewind rauschte die Brandung

Hoch, und im sonnigen Blau flatterte weißes Gewölk.

Leicht wie ein Rehlein sprang sie dahin, lang flog ihr das dunkle

Haar, zum Trocknen gelöst, über die Hüften herab.

Doch mich rührte die feine Gestalt, mich rührte des Auges

Ahnungsseliger Glanz, der wie ein Rätsel mich zog;

Und wie Jünglinge sind, die blitzschnell jeder Empfindung

Folgen, beflügelten Schritts eilt' ich der Lieblichen nach,

Und von hinten sie leis an den zierlichen Schultern ergreifend,

Lehnt' ich im Scherz ihr Haupt sacht an die Brust mir empor.

Aber sie machte sich los, und tief aus schattigen Wimpern

Unbeschreiblichen Blicks schaute sie lange mich an

Vorwurfsvoll und freundlich zugleich. Da zuckte das Herz mir,

Wie in des Weidmanns Hand über verborgenem Quell

Plötzlich die Rute sich rührt. Nicht weiß ich, war es der Blick nur,

War es ein Zukunftshauch, was mir die Seele bewegt?[187]

Doch wie ein Träumender schritt ich hinaus in die Dünen, und lang noch

Dacht' ich des lieblichen Kinds, das ich am Hafen gesehn.

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 2, Leipzig und Wien 1918, S. 187-188.
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