Die Elster und der Sperling

[193] Ein Sperling ließ sich's auf den Stöcken

Des Weinbergs recht vortrefflich schmecken

Und schluckte still die besten Beeren ein.

Die Elster sah's mit scheelem Blicke

Und wollte von des Sperlings Glücke

Nicht bloß ein ferner Zeuge sein.

Sie hüpfte zu den vollen Trauben.

»Wie? darf ich meinen Augen glauben?

O welcher Vorrat! Ja, gewiß,[193]

So reif, Herr Sperling, und so süß

(Denn Sie verstehn sich auf die Trauben)

War, was nun auch der Winzer spricht,

Der Wein seit vielen Jahren nicht.«

Der Winzer hört der Elster Lobgedicht

Und zwingt die Gäste fortzufliegen.

»O!« sprach der Sperling, »welch' Vergnügen

Entziehst du mir, du Schwätzerin!

Willst du der Frucht in Ruh' genießen,

So muß es nicht der ganze Weinberg wissen.

Siehst du denn nicht, wie still ich bin?

Drum schweig' und komm', den Berg noch einmal durchzustreifen.«


Sie thut's und frißt mit ihm ganz still.

»Ein einzig Wort, Herr Spatz, ich kann es nicht begreifen,

Warum mir's itzt nicht schmecken will;

Die Trauben sind ja reif. Doch still!

Der Winzer läßt sich wieder hören.

Drum weißt du, was ich machen will?

Ich nehme von den blauen Beeren

Mir eine Traube mit, sie ruhig zu verzehren.

Komm' mit mir unter jenen Baum.«

Sie nimmt die Traube mit; und kaum

Erreichte sie den sichern Baum,

So schrie sie laut: »O Sperling, welche Freude!

Wie glücklich sind wir alle beide!

In Wahrheit, glücklich bis zum Neide.«

So schrie sie noch, als schon ein Schwarm von Elstern kam

Und das gepriesne Glück ihr nahm.


Du, der sein Glück der ganzen Welt entdeckt,

O Schwätzer! lern' ein Gut genießen,

Das, weil es wenig Neider wissen,

Uns sichrer bleibt und süßer schmeckt![194]

Quelle:
Christian Fürchtegott Gellert: Werke, Band 1, Frankfurt a.M. 1979, S. 193-195.
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