ABSCHIED VERGILS

[117] Die stunde glaub ich war es wo gen morgen

Den berg zuerst der Venus strahlen krönen

Die immer brennend scheint von liebessorgen.


Mir war ich stünd im traum vor einer schönen

Und jungen frau die durch die fluren ginge

Und blumen pflückte unter diesen tönen:


Es wisse jeder wie mein name klinge ·

Dass ich die Lea bin und kreisend schlage

Die schönen hände und mir kränze schlinge.


Ich schmücke mich eh ich den spiegel frage ·

Doch schwester Rahel mag nur in sich saugen

Die eigne zier und sizt so alle tage.[117]


Sie ist entzückt von ihren schönen augen ·

Ich bin es von dem schmucke meiner hände.

Wie ihr die schau so will das werk mir taugen. –


Schon waren durch der frühen dämmrung brände

So jene wanderer am meisten loben

Die nächten nah dem heimischen gelände


Die finsternisse ringsumher verstoben

Und auch mein schlaf mit ihnen.. und beim steigen

Sah ich die beiden meister schon erhoben.


›Die süsse frucht die zwischen allen zweigen

Der mensch mit eifer zu erringen trachte:

Heut wird sie alle deine sehnsucht schweigen.‹


Mit einem solchen grossen wort bedachte

Vergil mich dass noch niemals irdische zunge

Mir ein entzücken diesem ähnlich brachte.


Zur höhe zu gelangen trieb im sprunge

Der wunsch den wunsch · so dass bei jeder biege

Ich fühlte wie mein flügel wuchs zum schwunge.[118]


Dann sah ich unter uns die ganze stiege

Durcheilt und wie am obersten gemäuer

Der blick des Meisters mir entgegenfliege.


Er sprach: Das zeitliche und ewige feuer

Hast du geschaut o Sohn und in dem kreise

Wohin du nun gehst bin ich selbst ein neuer.


Hier zog dich her der Dichter und der Weise.

Zum führer nimm nun einzig dein verlangen ·

Denn du bist ausser schlucht und steilem gleise.


Die sonne sieh! sie strahlt auf deinen wangen.

Das land gedeiht hier ohne vorbereiter ·

Sieh! blumen gras und bäume fruchtbehangen!


Hier triffst du bald die schönen augen heiter

Die weinend mich entsandten beim beginne.

Ruh hier solange oder wandle weiter!


Nicht wirst du wort und wink von mir mehr inne.

Dein geist ist fest und heil und frei von frone.

Nun wäre fehl zu folgen andrem sinne![119]


Hier krön ich dich mit mitra und mit krone!


Fegefeuer · XXVII. Gesang · 94–142.

Quelle:
George, Stefan: Dante. Die göttliche Komödie. Gesamt-Ausgabe der Werke, Band 10/11, Berlin 1932, S. 117-120.
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