Einer hohen Reisenden

[379] Wohin du trittst, wird uns verklärte Stunde,

Dir leuchtet Klarheit frisch vom Angesicht,

Vom Auge Gutheit, Lieblichkeit vom Munde,

Aus Wolken dringt ein reines Himmelslicht.

Der Ungeheuer Schwarm im Hintergrunde,

Er drängt, er droht, jedoch er schreckt dich nicht,

Wie du mit Freiheit unbefangen schreitest,

Das Herz erhebst und jeden Geist erweitest.


So wandelst du, dein Ebenbild zu schauen,

Das majestätisch uns von oben blickt,

Der Mütter Urbild, Königin der Frauen,

Ein Wunderpinsel hat sie ausgedrückt.

Ihr beugt ein Mann, mit liebevollem Grauen,

Ein Weib die Knie, in Demut still entzückt;

Du aber kommst, ihr deine Hand zu reichen,

Als wärest du zu Haus bei deinesgleichen.


Doch schreite weiter, was auch hier sich finde,

Zum Lande hin, dem doch kein andres gleicht,

Wo uns Natur befreit, wie Kunst auch binde,

Der Geist sich stählt, wenn sich das Herz erweicht,

Vor stillem Schaun so Zeit- als Volksgewinde

Zum Abgrund wallt, zur Himmelshöhe steigt:

Dorthin gehörst du, die du schaffend strebest,

Die Trümmer herstellst, Totes neu belebest.
[379]

Führ uns indes durch blumenreiche Matten,

Am breiten Fluß durchs wohlbekannte Tal,

Wo Reben sich um Sonnenhügel gatten,

Der Fels dich schützt vor mächt'gem Sonnenstrahl;

Genieße froh der engen Laube Schatten,

Der reinen Milch unschuldig würd'ges Mahl,

Und hier und dort vergönn, an deinen Blicken,

An deinem Wort uns ewig zu entzücken!


Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Band 1, Berlin 1960 ff, S. 379-380.
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