Lyde

[12] Eine Erzählung


Euer Beifall macht mich freier,

Mädchen, hört ein neues Lied.

Doch verzeiht, wenn meine Leier

Nicht von jenem heil'gen Feuer

Der geweihten Dichter glüht.


Hört von mir, was wenig wissen,

Hört's, und denket nach dabei:

Daß, wenn zwei sich zärtlich küssen,

Gern sich sehn und ungern missen,

Es nicht stets aus Liebe sei.


Lyde brannt von einem Blicke

Für Aminen, er für sie;

Doch ein widriges Geschicke

Hinderte noch beider Glücke,

Ihre Eltern schliefen nie.
[12]

Wachsamkeit wird euch nichts taugen,

Wenn die Töchter unser sind;

Eltern, habet hundert Augen,

Mädchen, wenn sie List gebrauchen,

Machen hundert Augen blind.


Listig hofft sie, eine Stunde

Ihre Wächter los zu sein.

Endlich kommt die Schäferstunde,

Und von ihrem heißen Munde

Saugt Amin die Wollust ein.


So genoß, entfernt vom Neide,

Er noch manchen süßen Kuß.

Doch er ward so vieler Beute

Überdrüssig. Jede Freude

Endigt sich mit dem Genuß.


Ist wohl bei des Blutes Wallen,

Denkt er, immer Liebe da?

Liebt sie mich denn wohl vor allen?

Oder hab ich ihr gefallen,

Weil sie mich am ersten sah?


Einst spricht er, dies auszuspüren:

»Ach, wie quält mein Vater mich!

Fern soll ich die Herde führen –

Himmel! Dich soll ich verlieren!

Ha, das Leben eh'r als dich!


Liebste, nein, ich komme wieder,

Doch der beste Freund von mir«

(Hier sah sie zur Erde nieder)

»Singet angenehme Lieder,

Diesen Freund, den laß ich dir.«
[13]

Lyde denkt an keine Tücke,

Weint und geht es weinend ein.

Ungern flieht Amin sein Glücke,

Listig bleibt der Freund zurücke,

Oft ist er mit ihr allein.


Viel singt er von Glut und Liebe,

Sie wird feurig, er wird kühn.

Sie empfindet neue Triebe,

Und Gelegenheit macht Diebe.

Endlich – Gute Nacht, Amin.


Kinder, seht, da müßt ihr wachen,

Euch vom Irrtum zu befrein.

Glaubet nie den Schein der Sachen,

Sucht euch ja gewiß zu machen,

Eh ihr glaubt, geliebt zu sein.


Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Band 2, Berlin 1960 ff, S. 12-14.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
(Gedichte. Nachlese)
Die Leiden des jungen Werther: Reclam XL - Text und Kontext
Faust: Der Tragödie erster und zweiter Teil. Urfaust
Faust Eine Tragödie: Erster und zweiter Teil
Die Leiden des jungen Werther (insel taschenbuch)
Königs Erläuterungen: Textanalyse und Interpretation zu Goethe. Die Leiden des jungen Werther. Alle erforderlichen Infos für Abitur, Matura, Klausur und Referat plus Musteraufgaben mit Lösungen

Buchempfehlung

Ebner-Eschenbach, Marie von

Ein Spätgeborner / Die Freiherren von Gemperlein. Zwei Erzählungen

Ein Spätgeborner / Die Freiherren von Gemperlein. Zwei Erzählungen

Die beiden »Freiherren von Gemperlein« machen reichlich komplizierte Pläne, in den Stand der Ehe zu treten und verlieben sich schließlich beide in dieselbe Frau, die zu allem Überfluss auch noch verheiratet ist. Die 1875 erschienene Künstlernovelle »Ein Spätgeborener« ist der erste Prosatext mit dem die Autorin jedenfalls eine gewisse Öffentlichkeit erreicht.

78 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.

468 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon