Triumph der Tugend

[20] Zwote Erzählung


Ich fand mein Mädchen einst allein

Am Abend so, wie ich sie selten finde.

Entkleidet sah ich sie; dem guten Kinde

Fiel es nicht ein,

Daß ich so nahe bei ihr sein,

Neugierig sie betrachten könnte.

Was sie mir nie zu sehn vergönnte,

Des Busens volle Blüten wies

Sie dem verschwiegnen, kalten Spiegel, ließ

Das Haar geteilt von ihrem Scheitel fallen,

Wie Rosenzweig' um Knospen, um den Busen wallen.
[20]

Ganz außer mir vom niegefundnen Glück

Sprang ich hervor. Jedoch wie schmollte

Sie, da ich sie umarmen wollte.

Zorn sprach ihr furchtsam wilder Blick,

Die eine Hand stieß mich zurück,

Die andre deckte das, was ich nicht sehen sollte.

»Geh!« rief sie, »soll ich deine Kühnheit dir

Verzeihen; eile weg von hier.«


Ich fliehn? Von heißer Glut durchdrungen –

Ohnmöglich – Diese schöne Zeit

Von sich zu stoßen! Die Gelegenheit

Kömmt nicht so leicht zurück. Voll Zärtlichkeit

Den Arm um ihren Hals gezwungen, stand

Ich neben ihrem Sessel, meine warme Hand

Auf ihrem heißen Busen, den zuvor

Sie nie berühret. Hoch empor

Stieg er und trug die Hand mit sich empor,

Dann sank mit einem tiefen Atemzug er wieder

Und zog die Hand mit sich hernieder.

So stand Dianens Jäger mutig da,

Triumph gen Himmel hauchend, als er sah,

Was ungestraft kein Sterblicher noch sah.


Mein Mädchen schwieg und sah mich an; ein Zeichen,

Die Grausamkeit fing' an, sich zu erweichen,

Geschmolzen durch die Fühlbarkeit.

O Mädchen, soll mit list'gen Streichen

Kein Jüngling seinen Zweck erreichen,

So müßt ihr niemals ruhig schweigen,

Wenn ihr mit ihm alleine seid.


Mein Arm umschlang mit angestrengten Sehnen

Die weiche Hüfte. Fast – fast – doch des Sieges Lauf

Hielt schnell ein glühnder Strom von Tränen

Unwiderstehlich auf.[21]

Sie stürzt' mir um den Hals, rief schluchsend: »Rette

Mich Unglückselige, die niemand retten kann

Als du, Geliebter. Gott! ach hätte

Dir nie dies Herz gebrannt! Ich sah dich, da begann

Mein Elend; bald, bald ist's vollendet.

O Mutter, welchen Lohn

Gab ich den treuen Lehren, die du mir verschwendet,

Dies Herz zu bilden! Mußte sich dein Drohn

So fürchterlich erfüllen:

Würd ich eine Tat

Vor dir verhüllen,

Deinen Rat

Verachten, selbst mich weise dünken,

Würd ich versinken.

Ich sinke schon; o rette mich! –

Sei stark, mein Freund, o rette dich!

Wir beide sind verloren – Freund, Erbarmen!«


Noch hielt ich sie in meinen Armen.

Sie sah voll Angst rings um sich her.

Wie Wellen auf dem Meer,

Des Grund erbebte, schlug die Brust, dem Munde

Entrauscht' ein Sturm. Sie seufzte: »Unschuld – ach, wie klang

Dies Wort so lieblich, wenn in mitternächt'ger Stunde

An meinem Haupt es mir mein Engel sang.

Jetzt rauscht's wie ein Gewitterton vorüber.«

Sie rief's. Es ward ihr Auge trüber,

Sah sternenan. Sie betet': »Sieh

Aus deiner Unschuldswohnung, Herr, auf mich herüber,

Erbarme dich! Entzieh

Der reißenden Gefahr mich. Du

Vermagst's allein; der ist zu schwach dazu,

Der Mensch, zu dem ich vor dir betete.«
[22]

Naht euch, Verführer, deren Wange nie

Von heil'gem Graun errötete,

Wenn eure Hand gefühllos, wie

Die Schnitter Blumen, Unschuld tötete,

Und euer Siegerfuß, darüber tretend, sie

Durch Hohn zum zweiten Male tötete,

Naht euch. Betrachtet hie

Der Vielgeliebten Tränen rollen;

Hört ihre Seufzer, hört die feuervollen

Gebete. Wehe dem, der dann

Noch einen Wunsch zu ihrem Elend wollen,

Noch einen Schritt zum Raube wagen kann!


Es sank mein Arm, aus ihm zur Erd sie nieder,

Ich betet, weint und riß mich los und floh.


Den nächsten Tag fand ich sie wieder

Bei ihrer Mutter, als sie froh

Der freudbetränten Mutter Unschuldslieder

Mit Engelstimmen sang.


O Gott, wie drang ein Wonnestrahl durchs Herz mir! Nieder

Zur Erde blickend stand

Ich da. Sie faßt' mich bei der Hand,

Führt' mich vertraulich auf die Seite

Und sprach: »Dank es dem harten Streite,

Daß du zur Sonn unschuldig blickst,

Beim Anblick jener Heil'gen nicht erschrickst,

Mich nicht verachtend von dir schickst.

Freund, dieses ist der Tugend Lohn;

O wärst du gestern tränend nicht entflohn,

Du sähst mich heute

Und ewig nie mit Freude.«
[23]

Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Band 2, Berlin 1960 ff, S. 20-24.
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