Erste Ode

[175] Verpflanze den schönen Baum,

Gärtner, er jammert mich.

Glücklicheres Erdreich

Verdiente der Stamm.


Noch hat seiner Natur Kraft

Der Erde aussaugendem Geize,

Der Luft verderbender Fäulnis,

Ein Gegengift, widerstanden.


Sieh, wie er im Frühling

Lichtgrüne Blätter schlägt!

Ihr Orangenduft

Ist dem Geschmeiße Gift.


Der Raupen tückischer Zahn

Wird stumpf an ihnen,

Es blinkt ihr Silberglanz

Im Sonnenscheine.


Von seinen Zweigen

Wünscht das Mädchen

Im Brautkranze,

Früchte hoffen Jünglinge.
[175]

Aber sieh, der Herbst kömmt,

Da geht die Raupe,

Klagt der listigen Spinne

Des Baums Unverwelklichkeit.


Schwebend zieht sich

Von ihrer Taxuswohnung

Die Prachtfeindin herüber

Zum wohltätigen Baum.


Und kann nicht schaden.

Aber die Vielkünstliche

Überzieht mit grauem Ekel

Die Silberblätter,


Sieht triumphierend,

Wie das Mädchen schaurend,

Der Jüngling jammernd

Vorübergeht.


Verpflanze den schönen Baum,

Gärtner, er jammert mich.

Baum, danke dem Gärtner,

Der dich verpflanzt!

Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Band 2, Berlin 1960 ff, S. 175-176.
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