[In tausend Formen magst du dich verstecken]

[113] In tausend Formen magst du dich verstecken,

Doch, Allerliebste, gleich erkenn ich dich;

Du magst mit Zauberschleiern dich bedecken,

Allgegenwärt'ge, gleich erkenn ich dich.


An der Zypresse reinstem, jungem Streben,

Allschöngewachsne, gleich erkenn ich dich;

In des Kanales reinem Wellenleben,

Allschmeichelhafte, wohl erkenn ich dich.


Wenn steigend sich der Wasserstrahl entfaltet,

Allspielende, wie froh erkenn ich dich;

Wenn Wolke sich gestaltend umgestaltet,

Allmannigfalt'ge, dort erkenn ich dich.


An des geblümten Schleiers Wiesenteppich,

Allbuntbesternte, schön erkenn ich dich;

Und greift umher ein tausendarm'ger Eppich,

O Allumklammernde, da kenn ich dich.


Wenn am Gebirg der Morgen sich entzündet,

Gleich, Allerheiternde, begrüß ich dich;

Dann über mir der Himmel rein sich ründet,

Allherzerweiternde, dann atm' ich dich.


Was ich mit äußerm Sinn, mit innerm kenne,

Du Allbelehrende, kenn ich durch dich;

Und wenn ich Allahs Namenhundert nenne,

Mit jedem klingt ein Name nach für dich.[114]

Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Band 3, Berlin 1960 ff, S. 113-115.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
West-östlicher Divan
West-oestlicher Divan: Stuttgart 1819
West-oestlicher Divan: Stuttgart 1819
West-östlicher Divan. Zwei Bände
West-östlicher Divan
West-östlicher Divan (insel taschenbuch)