[166] Bei einem östlichern Volke, den Arabern, finden wir herrliche Schätze an den Moallakat. Es sind Preisgesänge, die aus dichterischen Kämpfen siegreich hervorgingen; Gedichte,[166] entsprungen vor Mahomets Zeiten, mit goldenen Buchstaben geschrieben, aufgehängt an den Pforten des Gotteshauses zu Mekka. Sie deuten auf eine wandernde, herdenreiche, kriegerische Nation, durch den Wechselstreit mehrerer Stämme innerlich beunruhigt. Dargestellt sind: festeste Anhänglichkeit an Stammgenossen, Ehrbegierde, Tapferkeit, unversöhnbare Rachelust, gemildert durch Liebestrauer, Wohltätigkeit, Aufopferung, sämtlich grenzenlos. Diese Dichtungen geben uns einen hinlänglichen Begriff von der hohen Bildung des Stammes der Koraischiten, aus welchem Mahomet selbst entsprang, ihnen aber eine düstre Religionshülle überwarf und jede Aussicht auf reinere Fortschritte zu verhüllen wußte.
Der Wert dieser trefflichen Gedichte, an Zahl sieben, wird noch dadurch erhöht, daß die größte Mannigfaltigkeit in ihnen herrscht. Hiervon können wir nicht kürzere und würdigere Rechenschaft geben, als wenn wir einschaltend hinlegen, wie der einsichtige Jones ihren Charakter ausspricht. »Amralkais Gedicht ist weich, froh, glänzend, zierlich, mannigfaltig und anmutig. Tarafas: kühn, aufgeregt, aufspringend und doch mit einiger Fröhlichkeit durchwebt. Das Gedicht von Zoheir scharf, ernst, keusch, voll moralischer Gebote und ernster Sprüche. Lebids Dichtung ist leicht, verliebt, zierlich, zart; sie erinnert an Virgils zweite Ekloge: denn er beschwert sich über der Geliebten Stolz und Hochmut und nimmt daher Anlaß, seine Tugenden herzuzählen, den Ruhm seines Stammes in den Himmel zu erheben. Das Lied Antaras zeigt sich stolz, drohend, treffend, prächtig, doch nicht ohne Schönheit der Beschreibungen und Bilder. Amru ist heftig, erhaben, ruhmredig; Harez darauf voll Weisheit, Scharfsinn und Würde. Auch erscheinen die beiden letzten als poetisch-politische Streitreden, welche vor einer Versammlung Araber gehalten wurden, um den verderblichen Haß zweier Stämme zu beschwichtigen.«
Wie wir nun durch dieses wenige unsere Leser gewiß aufregen, jene Gedichte zu lesen oder wieder zu lesen, so fügen wir ein anderes bei, aus Mahomets Zeit, und völlig im Geiste[167] jener. Man könnte den Charakter desselben als düster, ja finster ansprechen, glühend, rachlustig und von Rache gesättigt.
1
Unter dem Felsen am Wege
Erschlagen liegt er,
In dessen Blut
Kein Tau herabträuft.
2
Große Last legt' er mir auf
Und schied;
Fürwahr, diese Last
Will ich tragen.
3
»Erbe meiner Rache
Ist der Schwestersohn,
Der Streitbare,
Der Unversöhnliche.
4
Stumm schwitzt er Gift aus,
Wie die Otter schweigt,
Wie die Schlange Gift haucht,
Gegen die kein Zauber gilt.«
5
Gewaltsame Botschaft kam über uns,
Großen, mächtigen Unglücks;
Den Stärksten hätte sie
Überwältigt.
[168]
6
Mich hat das Schicksal geplündert,
Den Freundlichen verletzend,
Dessen Gastfreund
Nie beschädigt ward.
7
Sonnenhitze war er
Am kalten Tag,
Und brannte der Sirius,
War er Schatten und Kühlung.
8
Trocken von Hüften,
Nicht kümmerlich,
Feucht von Händen,
Kühn und gewaltsam.
9
Mit festem Sinn
Verfolgt' er sein Ziel,
Bis er ruhte;
Da ruht' auch der feste Sinn.
10
Wolkenregen war er,
Geschenke verteilend;
Wenn er anfiel,
Ein grimmiger Löwe.
[169]
11
Staatlich vor dem Volke,
Schwarzen Haares, langen Kleides,
Auf den Feind rennend
Ein magrer Wolf.
12
Zwei Geschmäcke teilt' er aus,
Honig und Wermut,
Speise solcher Geschmäcke
Kostete jeder.
13
Schreckend ritt er allein,
Niemand begleitet' ihn
Als das Schwert von Jemen,
Mit Scharten geschmückt.
14
Mittags begannen wir Jünglinge
Den feindseligen Zug,
Zogen die Nacht hindurch,
Wie schwebende Wolken ohne Ruh.
15
Jeder war ein Schwert,
Schwertumgürtet,
Aus der Scheide gerissen
Ein glänzender Blitz.
[170]
16
Sie schlürften die Geister des Schlafes,
Aber wie sie mit den Köpfen nickten,
Schlugen wir sie,
Und sie waren dahin.
17
Rache nahmen wir völlige;
Es entrannen von zwei Stämmen
Gar wenige,
Die wenigsten.
18
Und hat der Hudseilite,
Ihn zu verderben, die Lanze gebrochen,
Weil er mit seiner Lanze
Die Hudseiliten zerbrach.
19
Auf rauhen Ruhplatz
Legten sie ihn,
An schroffen Fels, wo selbst Kamele
Die Klauen zerbrachen.
20
Als der Morgen ihn da begrüßt',
Am düstern Ort, den Gemordeten,
War er beraubt,
Die Beute entwendet.
[171]
21
Nun aber sind gemordet von mir
Die Hudseiliten mit tiefen Wunden.
Mürbe macht mich nicht das Unglück,
Es selbst wird mürbe.
22
Des Speeres Durst ward gelöscht
Mit erstem Trinken,
Versagt war ihm nicht
Wiederholtes Trinken.
23
Nun ist der Wein wieder erlaubt.
Der erst versagt war,
Mit vieler Arbeit
Gewann ich mir die Erlaubnis.
24
Auf Schwert und Spieß
Und aufs Pferd erstreckt ich
Die Vergünstigung,
Das ist nun alles Gemeingut.
25
Reiche den Becher denn,
Oh! Sawad Ben Amre:
Denn mein Körper um des Oheims willen
Ist eine große Wunde.
[172]
26
Und den Todeskelch
Reichten wir den Hudseiliten,
Dessen Wirkung ist Jammer,
Blindheit und Erniedrigung.
27
Da lachten die Hyänen
Beim Tode der Hudseiliten.
Und du sahest Wölfe,
Denen glänzte das Angesicht.
28
Die edelsten Geier flogen daher,
Sie schritten von Leiche zu Leiche,
Und von dem reichlich bereiteten Mahle
Nicht in die Höhe konnten sie steigen.
Wenig bedarf es, um sich über dieses Gedicht zu verständigen. Die Größe des Charakters, der Ernst, die rechtmäßige Grausamkeit des Handelns sind hier eigentlich das Mark der Poesie. Die zwei ersten Strophen geben die klare Exposition, in der dritten und vierten spricht der Tote und legt seinem Verwandten die Last auf, ihn zu rächen. Die fünfte und sechste schließt sich dem Sinne nach an die ersten, sie stehen lyrisch versetzt; die siebente bis dreizehnte erhebt den Erschlagenen, daß man die Größe seines Verlustes empfinde. Die vierzehnte bis siebzehnte Strophe schildert die Expedition gegen die Feinde; die achtzehnte führt wieder rückwärts; die neunzehnte und zwanzigste könnte gleich nach den beiden ersten stehen. Die einundzwanzigste und zweiundzwanzigste könnte nach der siebzehnten Platz finden; sodann folgt Siegeslust und Genuß beim Gastmahl, den Schluß aber[173] macht die furchtbare Freude, die erlegten Feinde, Hyänen und Geiern zum Raube, vor sich liegen zu sehen.
Höchst merkwürdig erscheint uns bei diesem Gedicht, daß die reine Prosa der Handlung durch Transposition der einzelnen Ereignisse poetisch wird. Da durch, und daß das Gedicht fast alles äußern Schmucks ermangelt, wird der Ernst desselben erhöht, und wer sich recht hineinliest, muß das Geschehene, von Anfang bis zu Ende, nach und nach vor der Einbildungskraft aufgebaut erblicken.
Ausgewählte Ausgaben von
West-östlicher Divan
|
Buchempfehlung
Im Jahre 1758 kämpft die Nonne Marguerite Delamarre in einem aufsehenerregenden Prozeß um die Aufhebung ihres Gelübdes. Diderot und sein Freund Friedrich Melchior Grimm sind von dem Vorgang fasziniert und fingieren einen Brief der vermeintlich geflohenen Nonne an ihren gemeinsamen Freund, den Marquis de Croismare, in dem sie ihn um Hilfe bittet. Aus dem makaberen Scherz entsteht 1760 Diderots Roman "La religieuse", den er zu Lebzeiten allerdings nicht veröffentlicht. Erst nach einer 1792 anonym erschienenen Übersetzung ins Deutsche erscheint 1796 der Text im französischen Original, zwölf Jahre nach Diderots Tod. Die zeitgenössische Rezeption war erwartungsgemäß turbulent. Noch in Meyers Konversations-Lexikon von 1906 wird der "Naturalismus" des Romans als "empörend" empfunden. Die Aufführung der weitgehend werkgetreuen Verfilmung von 1966 wurde zunächst verboten.
106 Seiten, 6.80 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.
424 Seiten, 19.80 Euro