Vierter Auftritt


[242] Eugenie, nachher Hofmeisterin außen.


EUGENIE eine Brieftasche hervorziehend.

Und nun geschwind zum Pergament, zum Griffel!

Ich hab' es ganz, und eilig fass' ich's auf,

Was ich dem Könige zu jener Feier,

Bei der ich, neugeboren durch sein Wort,

Ins Leben trete, herzlich widmen soll.


Sie rezitiert langsam und schreibt.


Welch Wonneleben wird hier ausgespendet!

Willst du, o Herr der obern Regionen,

Des Neulings Unvermögen nicht verschonen?

Ich sinke hin, von Majestät geblendet.

Doch bald getrost zu dir hinauf gewendet

Erfreut's mich, an dem Fuß der festen Thronen,

Ein Sprößling deines Stamms, beglückt zu wohnen,

Und all mein frühes Hoffen ist vollendet.

So fließe denn der holde Born der Gnaden!

Hier will die treue Brust so gern verweilen

Und an der Liebe Majestät sich fassen.

Mein Ganzes hängt an einem zarten Faden,

Mir ist, als müßt' ich unaufhaltsam eilen,

Das Leben, das du gabst, für dich zu lassen.


Das Geschriebene mit Gefälligkeit betrachtend.


So hast du lange nicht, bewegtes Herz,

Dich in gemeßnen Worten ausgesprochen!

Wie glücklich, den Gefühlen unsrer Brust

Für ew'ge Zeit den Stempel aufzudrücken!

Doch ist es wohl genug? Hier quillt es fort,

Hier quillt es auf! – Du nahest, großer Tag,[242]

Der uns den König gab und der nun mich

Dem Könige, dem Vater, mich mir selbst

Zu ungemeßner Wonne geben soll.

Dies hohe Fest verherrliche mein Lied!

Beflügelt drängt sich Phantasie voraus,

Sie trägt mich vor den Thron und stellt mich vor,

Sie gibt im Kreise mir –

HOFMEISTERIN außen.

Eugenie!

EUGENIE.

Was soll das?

HOFMEISTERIN.

Höre mich und öffne gleich!

EUGENIE.

Verhaßte Störung! Öffnen kann ich nicht.

HOFMEISTERIN.

Vom Vater Botschaft!

EUGENIE.

Wie? vom Vater? Gleich!

Da muß ich öffnen.

HOFMEISTERIN.

Große Gaben scheint

Er dir zu schicken.

EUGENIE.

Warte!

HOFMEISTERIN.

Hörst du?

EUGENIE.

Warte!

Doch wo verberg' ich dieses Blatt? Zu klar

Spricht's jene Hoffnung aus, die mich beglückt.

Hier ist nichts zum Verschließen! Und bei mir

Ist's nirgend sicher, diese Tasche kaum;

Denn meine Leute sind nicht alle treu.

Gar manches hat man schon mir, als ich schlief,

Durchblättert und entwendet. Das Geheimnis,

Das größte, das ich je gehegt, wohin,

Wohin verberg' ich's?


Indem sie sich der Seitenwand nähert.


Wohl! Hier war es ja,

Wo du, geheimer Wandschrank, meiner Kindheit

Unschuldige Geheimnisse verbargst!

Du, den mir kindisch allausspähende,

Von Neugier und von Müßiggang erzeugte,

Rastlose Tätigkeit entdecken half,

Du, jedem ein Geheimnis, öffne dich!


Sie drückt an einer unbemerkbaren Feder, und eine kleine Türe springt auf.
[243]

So wie ich sonst verbotnes Zuckerwerk

Zu listigem Genuß in dir versteckte,

Vertrau' ich heute meines Lebens Glück

Entzückt und sorglich dir, auf kurze Zeit.


Sie legt das Pergament in den Schrank und drückt ihn zu.


Die Tage schreiten vor, und ahnungsvoller

Bewegen sich nun Freud' und Schmerz heran.


Sie öffnet die Türe.


Quelle:
Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Band 5, Hamburg 1948 ff, S. 242-244.
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