Vierter Auftritt


[287] Die Vorigen. Äbtissin. Zwei Nonnen.


EUGENIE.

Betäubt, verworren, mit mir selbst entzweit

Und mit der Welt, verehrte heil'ge Jungfrau,

Siehst du mich hier. Die Angst des Augenblicks,

Die Sorge für die Zukunft treiben mich

In deine Gegenwart, in der ich Lindrung

Des ungeheuren Übels hoffen darf.

ÄBTISSIN.

Wenn Ruhe, wenn Besonnenheit und Friede

Mit Gott und unserm eignen Herzen sich

Mitteilen läßt, so soll es, edle Fremde,

Nicht fehlen an der Lehre treuem Wort,

Dir einzuflößen, was der Meinen Glück

Und meins, für heut' so wie auf ewig, fördert.

EUGENIE.

Unendlich ist mein Übel, schwerlich möcht'

Es durch der Worte göttliche Gewalt

Sogleich zu heilen sein. O nimm mich auf

Und laß mich weilen, wo du weilst, mich erst

In Tränen lösen diese Bangigkeit

Und mein erleichtert Herz dem Troste weihen![287]

ÄBTISSIN.

Wohl hab' ich oft im heiligen Bezirk

Der Erde Tränen sich in göttlich Lächeln

Verwandeln sehn, in himmlisches Entzücken,

Doch drängt man sich gewaltsam nicht herein:

Gar manche Prüfung muß die neue Schwester

Und ihren ganzen Wert uns erst entwickeln.

HOFMEISTERIN.

Entschiedner Wert ist leicht zu kennen, leicht,

Was du bedingen möchtest, zu erfüllen.

ÄBTISSIN.

Ich zweifle nicht am Adel der Geburt,

Nicht am Vermögen, dieses Hauses Rechte,

Die groß und wichtig sind, dir zu gewinnen.

Drum laßt mich bald vernehmen, was ihr denkt.

EUGENIE.

Gewähre meine Bitte, nimm mich auf!

Verbirg mich vor der Welt, im tiefsten Winkel,

Und meine ganze Habe nimm dahin.

Ich bringe viel und hoffe mehr zu leisten.

ÄBTISSIN.

Kann uns die Jugend, uns die Schönheit rühren,

Ein edles Wesen, spricht's an unser Herz,

So hast du viele Rechte, gutes Kind.

Geliebte Tochter! komm an meine Brust!

EUGENIE.

Mit diesem Wort, mit diesem Herzensdruck

Besänftigst du auf einmal alles Toben

Der aufgeregten Brust. Die letzte Welle

Umspielt mich weichend noch. Ich bin im Hafen.

HOFMEISTERIN dazwischentretend.

Wenn nicht ein grausam Schicksal widerstünde!

Betrachte dieses Blatt, uns zu beklagen.


Sie reicht der Äbtissin das Blatt.


ÄBTISSIN die gelesen.

Ich muß dich tadeln, daß du wissentlich

So manch vergeblich Wort mit angehört.

Ich beuge vor der höhern Hand mich tief,

Die hier zu walten scheint.[288]


Quelle:
Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Band 5, Hamburg 1948 ff, S. 287-289.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Die natürliche Tochter
Goethes Werke: Band III. Götz von Berlichingen. Egmont. Clavigo. Stella. Die Geschwister. Iphigenie auf Tauris. Torquato Tasso. Die natürliche Tochter

Buchempfehlung

Auerbach, Berthold

Barfüßele

Barfüßele

Die Geschwister Amrei und Dami, Kinder eines armen Holzfällers, wachsen nach dem Tode der Eltern in getrennten Häusern eines Schwarzwalddorfes auf. Amrei wächst zu einem lebensfrohen und tüchtigen Mädchen heran, während Dami in Selbstmitleid vergeht und schließlich nach Amerika auswandert. Auf einer Hochzeit lernt Amrei einen reichen Bauernsohn kennen, dessen Frau sie schließlich wird und so ihren Bruder aus Amerika zurück auf den Hof holen kann. Die idyllische Dorfgeschichte ist sofort mit Erscheinen 1857 ein großer Erfolg. Der Roman erlebt über 40 Auflagen und wird in zahlreiche Sprachen übersetzt.

142 Seiten, 8.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Frühromantik

Große Erzählungen der Frühromantik

1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.

396 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon