1806

[24] 241.*


1806, 11. Januar.


Mit Friedrich Wilhelm Riemer

»An der Newtonischen Lehre ist schon so viel verändert und herumgeflickt worden, und doch meinen die Herren, sie hätten noch die alte. Sie ist ein wahrer Bettlermantel, der schon aus den Flicken der vierten, fünften Generation besteht, den die Prorectoren umthun, und immer wieder Doctoren dieser Bettlerfacultät creiren.«[24]


242.*


1806, 16. Januar.


Mit Friedrich Wilhelm Riemer

Der Mensch, wenn er wider Willen von einer Maxime, Art zu sein oder zu handeln, lassen soll und zur entgegengesetzten, bisher von ihm gehaßten übergehen, muß erst von dieser einigen sichtlichen Vortheil, der den Schaden durch den Verlust jener überwiegt, erhalten haben, ehe er ihr ganz von Herzen beitritt und mit ihr eins wird.[24]


243.*


1806, 16. Januar.


Bei der Herzogin Amalie

Goethes und Wieland's .... Kampfgespräch kam über Tischbein's Zeichnungen her, die er kürzlich an[24] die Herzogin-Mutter geschickt. Unter dem Lobe, das ihnen Goethe ertheilte, sprach er viel von Talent und Übung in der Kunst, welche durchaus zu ehren und zu preisen wäre, sollte es auch nur an dem Manne sein, welcher einst vor Alexander dem Großen die Hirsekörner durch ein Nadelöhr geworfen hätte. Es war artig, wie Wieland noch lange ruhig zuhörte und endlich gleich wieder bei den Hirsekörnern anfing, welche Kunst er so dumm und albern fand, daß er den Mann noch ganz besonders hätte strafen lassen, daß er so unendlich viel Zeit darauf verwendet hätte. Alle Künste der Technik, wodurch die Engländer sich auszeichneten, behauptete Goethe, wären durch diese Geduld und Anhaltsamkeit entstanden, und Alexander als Monarch hätte ganz unrecht gehabt den Mann so verächtlich zu behandeln; er hätte vielmehr zu den Umstehenden sagen sollen: Seht! dieser Mann hat es durch außerordentliche Geduld und Übung zu solch einer Fertigkeit gebracht; könntet ihr es nicht in etwas Gescheidterm auch so weit bringen?[25]


244.*


1806, 24. Januar.


Aus dem Vortrag für Damen

Noch lieber möchte ich [Henriette v. Knebel] Dir [Karl v. Knebel] von Goethes letztem Vortrag vom vorigen Mittwoch Bericht abstatten können, der mir[25] ganz außerordentlich wohlgefiel. Es war das angenehmste Gefühl, sich mit ihm gleichsam auf eine höhere Stufe gestellt zu sehen, und wirklich, die schönste menschliche Natur belebte sich auf's neue in ihm. Er sprach von dem Bezug, den der Mensch zu sich selbst und zu den Dingen außer ihm hat, so reich, reif und mild, daß ich wirklich noch nie so habe sprechen hören. Ich wünschte, er hätte die Rede aufgeschrieben; mich dünkt, sie allein müßte ihm den Ruhm eines seltnen Menschen machen. Ich selbst dünkte mich glücklicher und vornehmer durch die unzähligen Fäden, durch die wir mit Himmel und Erde zusammenhängen. Es ist eine wahre Freude, wenn der Geist wie die Natur alt und doch so verjüngt sich darstellt – ein kräftiger, erfreulicher Frühlingshauch.[26]


1488.*


1806, Januar.


Mit Johann Heinrich Voß d. J.

Goethe ist nicht wie er sein sollte. Seine Nieren sind wahrscheinlich desorganisirt. Er hat täglichen Blutabgang durch den Urin, oft aber stockt dieser und dann ist er sehr krank. Ich glaube, daß er alt werden kann, aber gesund wird er nie wieder. Gott erhalte ihm nur seine frohherzige Laune. Neulich sagte er: »Wenn mir doch der liebe Gott eine von den gesunden Russennieren schenken wollte, die zu Austerlitz gefallen sind!«[294]


1559.*


1806, Anfang.


Mit Charlotte von Stein

Goethe ist wieder recht krank. Seine Krankheit ist periodisch: er bekömmt sie alle drei oder vier Wochen. Er sagte mir: er nehme jetzt Bilsenkraut statt Opium dafür; dies thäte ihm besser.

Neulich [15. Januar] wurde seine alte ›Stella‹ gegeben; er hat aus dem Drama eine Tragödie gemacht. Es fand aber keinen Beifall. Fernando erschießt sich, und mit dem Betrüger kann man kein Mitleid haben. Besser wäre es gewesen, er hätte [nur?] Stella sterben lassen; doch nahm er mirs sehr übel, als ich dies tadelte.[105]


245.*


1806, März.


Mit Friedrich Wilhelm Riemer

»Lichtenberg's Wohlgefallen an Caricaturen rührt von seiner unglücklichen körperlichen Constitution mit her, daß es ihn erfreut, etwas noch unter sich zu erblicken. – Wie er sich wohl in Rom gemacht haben würde beim Anblick und Einwirkung der Kunst? Er war keine konstructive Natur wie Äsop und Sokrates, nur auf Entdeckung des Mangelhaften gestellt.«[26]


246.*


1806, April.


Mit Friedrich Wilhelm Riemer

»Es giebt Tugenden, die man, wie die Gesundheit, nicht eher schätzt, als bis man sie vermißt; von denen nicht eher die Rede ist, als wo sie fehlen; die man stillschweigend voraussetzt; die dem Inhaber nicht zu Gute kommen, weil sie in einem Leiden, in der Geduld bestehen. Sie scheinen, wo sie sind, nur aus einer Abwesenheit von Kraft und Thätigkeit zu bestehen, und sie sind die höchste Kraft, nur nach innen gewandt und zur Abwehr äußeren Unglimpfs, nur als Gegendruck gebraucht. Hammer zu sein scheint Jedem rühmlicher und wünschenswerther, als Ambos, und doch was gehört nicht dazu, diese unendlichen, immer wiederkehrenden Schläge auszuhalten.«[27]


247.*


1806, 10. Mai.


Mit Friedrich Wilhelm Riemer

»Es ist lächerlich, wenn die Philister sich der größern Verständigkeit und Aufklärung ihres Zeitalters rühmen und die frühern barbarisch nennen. Der Verstand ist so alt, wie die Welt, auch das Kind hat Verstand:[27] aber er wird nicht in jedem Zeitalter auf gleiche Weise und auf einerlei Gegenstände angewendet. Unser Zeitalter wendet seinen ganzen Verstand auf Moral und Selbstbetrachtung; daher er in der Kunst und wo er sonst noch thätig sein und mitwirken muß, fast gänzlich mangelt. Die Phantasie wirkte in frühern Jahrhunderten ausschließend und vor, und die übrigen Seelenkräfte dienten ihr; jetzt ist es umgekehrt, sie dient den andern und erlahmt in diesem Dienst.

Die frühern Jahrhunderte hatten ihre Ideen in Anschauungen der Phantasie; unseres bringt sie in Begriffe. Die großen Ansichten des Lebens waren damals in Gestalten, in Götter gebracht; heutzutage bringt man sie in Begriffe. Dort war die Productionskraft größer, heute die Zerstörungskraft, oder die Scheidekunst.«[28]


248.*


1806, Mai und Juni.


Mit Adam Oehlenschläger


a.

Goethe.. empfing mich väterlich; ich aß oft bei ihm, und ich mußte ihm meinen ganzen »Aladdin« und »Hakon Jarl« aus dem Stegreif deutsch vorlesen. Da machte ich mich denn vieler Dänismen schuldig; er verwarf sie aber nicht alle; er meinte, die beiden verwandten[28] Sprachen, aus Einer Wurzel entsprungen, könnten einander mitunter mit guten Worten schwesterliche Geschenke machen. »Hm! Das ist hübsch,« sagte er mitunter, wenn ich etwas vorlas. »Sagen sie denn das so deutsch?« frug ich. »Nein, wir sagen es nicht, könnten es aber sagen.« – »Soll ich denn ein andres Wort brauchen?« – »Nein, thun Sie das nicht.« – Einen Mann, der mich in Berlin gekannt hatte und nach Weimar kam, fragte Goethe: »Kennen Sie etwas von Oehlenschläger?« – »Nein!« war die Antwort; »aufrichtig, ich mag die deutsche Sprache nicht radebrechen hören.« – »Und ich,« antwortete Goethe mit imposantem Gefühle, »mag die deutsche Sprache sehr gern in einem poetischen Gemüthe ent stehen sehen.«

– – – – – – – –

Das Nibelungenlied war eben herausgekommen, und Goethe las uns einige Gesänge vor. Weil nun vieles in der alten Sprache mit altdänischen Worten verwandt ist, so konnte ich ihnen manches deuten, was die andern nicht gleich verstanden. »Sieh einmal!« rief dann Goethe lustig, »da haben wir wieder den verfluchten Dänen!« – »Nein, Däne!« sagte er einmal in demselben Tone: »hier kommt etwas, was Ihr doch nicht hättet sagen können:


Es war der große Siegfried, der aus dem Grase sprang,

Es ragete ihm vom Herzen eine Speerstange lang. –[29]


Es ragete ihm vom Herzen eine Speerstange lang« – wiederholte er staunend, die Worte stark betonend, in seinem Frankfurter Dialect: »Das ist capital!«

Einmal bei Tische sprach er so feurig und mit so vieler Achtung und Kraft für Bürgerrecht und Bürgerehre gegen einen kalten Hofmann, der zur Unzeit über das wackere Betragen eines Bürgers spotten wollte, daß ich es nicht lassen konnte, als der Fremde weg war, ihm um den Hals zu fallen und ihn zu küssen. »Ja, ja, lieber Däne!« sagte Goethe: »Ihr meint's auch treu und gut in der Welt.«

– – – – – – – –

Als ich wegreiste, schrieb ich eine dänische Übersetzung des Erlkönigliedes in's Stammbuch des jungen Goethe und zum Schluß die deutschen Zeilen:


Erinnern Sie sich, wenn längst ich schied,

Bei der Überesetzung des Vaters Lied

Des Dichters vom Lande, wo Nacht und Wind,

Und Elf' und Schauder zu Hause sind.

In Weimar weht es schon mehr gelind;

Gott segne den Vater mit seinem Kind.


»Ja, ja!« sagte Goethe, als er es gelesen hatte, mir freundlich in's Auge blickend und die Hand auf meine Schulter legend: »Ihr seid ein Poet.«

– – – – – – – – –

Goethe hatte versprochen, meinen »Hakon Jarl«, wenn er von mir schriftlich übersetzt wäre, auf die deutschen Bühnen zu bringen.[30]


b.

Zwar hatte Oehlenschläger während seines längeren Aufenthaltes in Halle die Fertigkeit, sich in der deutschen Sprache mit Leichtigkeit auszudrücken, immer mehr ausgebildet, aber seine Rede, wenn auch ungehemmt, war nichts weniger als fehlerfrei. Er wagte es dem großen Dichter Scenen an seinem »Aladdin«, der noch nicht deutsch erschienen war, unmittelbar aus dem Dänischen in's Deutsche zu übersetzen. Vielleicht waren eben die Fehler ihm pikant; viele gewagte Constructionen, viele wunderbare Äußerungen, wie sie einem Deutschen nie eingefallen wären, ergötzten Goethe nicht allein, sondern schienen ihm bemerkenswerth und bedeutend. »Die uns verwandten Dänen,« hörte ich ihn sagen, »könnten wohl unsere Sprache bereichern, und was wir, von der einseitigen Ausbildung ergriffen, nur zu tadeln geneigt sind, verdiente wohl nicht selten unsere Aufmerksamkeit.« Die gesunde, ursprüngliche und aus einer reinen Quelle hervorsprudelnde Eigenthümlichkeit gefiel ihm sehr.


c.

Wie Goethe sich die Insolenz des wandernden Antiquarius [Arendt] hatte gefallen lassen, so ertrug er auch andere Unarten des freilich schönen und liebenswürdigen Oehlenschläger, der sich überdies damals als angehender, aber vielversprechender Dichter empfahl. Beinah ein halbes Jahr hielt er sich in Weimar und[31] Jena abwechselnd auf und war häufiger Tischgenosse Goethes und in allen Weimarischen und Jenaischen Zirkeln gern gesehen. Jetzt nur von seiner sonderbaren Angewöhnung zu reden, so hatte er – wohl kann man sagen – die Wuth, unversehens einhalbdutzendmal hintereinander mit allen fünf Fingern schlenkernd so zu knacken, daß man darüber erschrak, irgend eine Verletzung fürchtend, ja sie beinah an sich zu empfinden glaubend. Goethe sagte eine Zeitlang nichts dazu, als sich aber die Sache zu oft repetirte, bat er ihn mit freundlicher Verwunderung über die seltsame Gymnastik in seinem treuherzigen und familiären Tone: »Thut mir das nicht zuleide!« oder »Laßt mir das unterwegs; Ihr wißt, daß es mir fatal ist« und dergleichen. Die Vermahnung hielt freilich nicht lange vor, und zwischendurch entwischte doch wieder ein halber Knick oder Knack, der dann gutmüthig überhört wurde.

G. wußte... uns andern dieses gefährlich klingende Manoeuvre physiologisch und astrologisch zu erklären ....[32]


249.*


1806, 30. Juni.


Mit Friedrich Wilhelm Riemer

Als wir auf der Reise nach Franzenbrunn in Asch übernachten mußten und daselbst »Die Hussiten vor Naumburg« in einer Scheune gegeben wurden, wovon[32] wir Spaßes halber einen Act mit ansahen, sagte Goethe: Er könne mit Recht hier anwenden: »Und hätt' ich Flügel der Morgenröthe und flög' an die äußersten Ende der Erde«, so würde seine [Kotzebue's] Hand mich doch treffen u.s.w. – Übrigens sei Kotzebue ein vortrefflicher Mann: was für eine Menge Menschen er abspeise, die wie hungrige Raben auf ihn warteten.[33]


1489.*


1806, Juli (?).


Über Carl August Böttiger

Hier eine hübsche Böttiger-Goethe-Anekdote, welche mir [Arndt] mein Graf Geßler erzählt hat. Goethe[294] war in Karlsbad, kam von einem Morgenspaziergange zu Hause und sagte: »Man stößt in der Welt doch immer und allenthalben auf unsaubere Geister: da habe ich von fern einen Mann vorbeirutschen gesehen, der Kerl hat mich ordentlich erschreckt; ich glaubte den leibhaftigen Böttiger erblickt zu haben.« »O!« erwiederte der Freund, »Ihre Augen hoben sich da nicht versehen: Sie haben wirklich den Leibhaftigen gesehen.« Bei diesen Worten rief Goethe aus wie einer, der von einem Schrecken wieder aufathmet: »Gottlob, gottlob! daß Gott nicht ein zweites solches A...gesicht geschaffen hat.«[295]


250.*


1806, 10. oder 18. August.


Mit Carl Ludwig von Knebel

[Heinrich Luden hatte nach seiner Berufung als Professor nach Jena einen vorläufigen Besuch dort gemacht und dabei sogleich durch Vermittelung des zufällig auch anwesenden Hufeland Einladung zu einer Abendgesellschaft zu Knebels erhalten, um Goethe da kennen zu lernen. Vorher machte er einen Spaziergang und erzählt dann weiter:]


Hufeland war schon zum Herrn v. Knebel gegangen und hatte dem Kellner aufgetragen, mir zu sagen, daß ich mich beeilen möchte. Ich wechselte schnell mein Kleid, ging nicht ohne einige Beklommenheit rasch fort und mochte etwa um halb 9 Uhr im Knebel'schen Hause eintreffen. An der Treppe kam mir die Frau v. Knebel entgegen, eine sehr hübsche und äußerst lebendige Dame. »Aber Herr Professor!« sagte sie nach der ersten Begrüßung, »Sie haben lange auf sich warten lassen. Drinnen ist eine große Verstimmung: der Geheime[33] Rath ist sehr eigen; er will auf niemand warten, sondern verlangt, daß alle Welt auf ihn warten soll. Es hat nicht viel gefehlt, so wäre er wieder fortgegangen.« – »Sie erschrecken mich, gnädige Frau!« antwortete ich. »Es thut mir um so mehr leid, da Se. Excellenz recht hat. Indeß hoffe ich, Verzeihung zu erhalten. Sollte aber meine Entschuldigung nicht ausreichen, so hoffe ich, Sie werden mir beistehen, und einer schönen Frau wird es ja leicht gelingen, auch die Verdrießlichkeit einer Excellenz in Heiterkeit umzuwandeln.« Frau v. Knebel führte mich in das Zimmer; »Hier ist der Zauderer!« sagte sie. In dem Zimmer befanden sich außer den Herren v. Knebel und Hufeland nur Goethe und Riemer, der Goethe zu begleiten pflegte. Alle standen schweigsam da; kein Gesicht zeigte sich freundlich: Hufeland sah gutmüthig vor sich hin, Riemer gleichgültig, Knebel verlegen, Goethe verdrießlich. Knebel, gegen Goethe gewendet, wies mit der Hand nach mir her: »Herr Professor Luden.« Goethe machte eine kleine verstümmelte Bewegung, in welcher kaum der Anfang zu einer Verbeugung zu erkennen war, ohne nur ein Wort zu sagen. Das war die ganze Vorstellung, und vielleicht war sie die beste; denn nun brauchte ich auch nichts zu sagen und hatte doch Zeit gehabt, mir den Heros anzusehen. Ich wandte mich daher sogleich an den Herrn v. Knebel: »Frau v. Knebel hat mir soeben gesagt, daß auf mich gewartet worden ist; das thut mir unendlich leid, aber[34] ich glaube, Absolution von meiner Sünde zu verdienen, auch ohne Buße. Eine Stunde war mir nicht bestimmt, und als Neuling bin ich natürlich unbekannt mit der Weise der Götter in diesem Lande. Was ich diesen Morgen aus diesen Fenstern gesehen hatte, das übte auf mich eine unwiderstehliche Anziehungskraft: ich mußte die Herrlichkeiten, den Fluß, die Berge, alles soweit als möglich in der Nähe sehen. Also bin ich hinausgelaufen, habe die Fluren durchstreift und mehre Berge bestiegen, und in meiner Begeisterung habe ich nicht an die Zeit gedacht und vergessen, daß der Rückweg so lang zu sein pflegt, als der Anmarsch. So habe ich mich in aller Unschuld verspätet.« Während ich diese Worte sprach, ließ Goethe einpaar Male ein beifälliges »Hm! hm!« vernehmen und Knebel warf sein gewöhnliches »Jo, jo!« hinein. Endlich sagte Goethe: »Die Entschuldigung des Herrn Professors ist ausreichend; wir wollen ihm vollkommene Absolution ertheilen unter der Bedingung, daß er künftig, da er nunmehr mit der Weise der Götter in diesem Lande bekannt geworden ist, pünktlicher sei.« Ich sprach sogleich das Gelübde aus. »So ist,« rief Frau v. Knebel, »mein Beistand, den ich dem Herrn Professor zugesagt, wohl gar nicht nöthig?« – »Gar nicht, schöne Frau!« antwortete Goethe; »aber wir müssen die Zeit wieder einbringen, darum geben Sie uns nur bald zu essen und zu trinken!«

Fünf Minuten nachher saßen wir um einen runden[35] Tisch ..... Anfangs wurde hin und hergeplaudert in gewöhnlicher Weise, kaum aber mochte eine Viertelstunde verlaufen sein, so hatte Goethe es übernommen, die Gesellschaft zu unterhalten. Und er unterhielt sie auf eine bewunderungswürdige Weise; er erzählte Anekdoten und Abenteuer von seinen Reisen, im besondern von seinem letzten Aufenthalte im Karlsbade, charakterisirte die Menschen auf das Lebendigste, warf mit Scherzen und Witzworten um sich und schien aus seinem unermeßlichen Vorrathe um so freigebiger und lieber mitzutheilen, je aufmerksamer wir sämmtlich auf seine Worte waren und je dankbarer für seine Mittheilungen. Die Gesellschaft wurde ungemein lebendig und brach zuweilen in ein schallendes Gelächter aus, nur dem Lachen der unsterblichen Götter vergleichbar. An diesem Lachen nahm Goethe selbst nur mäßigen Antheil, schien aber mit großer Lust in dasselbe hineinzuschauen und nur den Wunsch zu haben, es nicht ausgehen zu lassen. Im allgemeinen hatte er das Wort ganz allein, nur Herr v. Knebel ließ sich sein Hausrecht nicht nehmen, brach hier und dort ein und gab damit Veranlassung zu neuen Witzen und Anekdoten. Wir übrigen machten alles mit Lachen gut; zuweilen jedoch richtete Goethe auch wohl eine Frage an diesen oder jenen und im besondern wiederholt an mich, sei es, daß er seine erste Unfreundlichkeit noch mehr gutmachen, sei es, daß er mir, dem Ankömmling, wie man zu sagen pflegt, auf den Zahn fühlen wollte. Und in[36] der Stimmung, in welcher ich war, blieb ich eben keine Antwort schuldig. Einpaar Male sang auch Frau v. Knebel ein Goethe'sches Lied nach Zelter's Composition sehr schön; sie wurde zuerst durch Hufeland ersucht, der, wie er versicherte, eine wahre Sehnsucht hatte, die herrliche Stimme dieser Frau einmal wieder zu hören; alsdann wünschte Goethe selbst, daß sie noch einmal singen möchte. Er fühlte wohl, wie Hufeland, daß der ganzen Gesellschaft eine Erholung Bedürfniß sei, und Frau v. Knebel erfüllte bereitwillig die ausgesprochenen Wünsche .... Nach den Gesängen aber ging es von neuem weiter in der alten Weise.

Mehr als eine Anekdote, die von Goethe erzählt ward, ist mir noch im Gedächtniß. Aber sie zu erzählen, wage ich nicht; jedesfalles würde das Anmuthigste und Pikanteste fehlen: Goethes Augen, Stimme und Geberdenspiel; denn er erzählte nicht bloß, sondern er stellte alles mimisch dar. Besonders kam er wiederholt auf zwei alte Gräfinnen, mit welchen er in Verkehr gebracht worden war. Sie hätten einen unermeßlichen Umfang gehabt und deswegen eine bewunderungswürdige Unbeweglichkeit gezeigt, sobald sie einmal Platz genommen. Dabei hätten sie eine große Geläufigkeit der Zunge behalten und ein endloses Geschwätz geführt. Ihre Stimme sei jungfräulich gewesen, sei aber oft, wenn sie lebhaft geworden, oder das Gefühl ihrer Würde an den Tag zu legen für nöthig gehalten, bald in ein artiges Krähen, bald in ein girrendes Zwitschern[37] übergegangen. »Mir selbst,« sagte Goethe, »waren die wunderlichen Kugelgestalten dieser Damen am merkwürdigsten. Ich konnte nicht begreifen, wie es einem Menschen, Mann oder Weib, gelingen könne, es zu einer solchen Masse zu bringen; auch hätte ich die Dehnbarkeit der menschlichen Haut nicht für so grenzenlos gehalten. Sobald ich aber die Ehre erhielt, einmal mit den edlen Damen zu speisen, wurde mir alles klar. Wir andern wissen doch wahrlich auch, was essen und trinken heißt, und ich denke, wir geben unserer vortrefflichen Wirthin einen schlagenden Beweis, aber ein solches Essen – vom Trinken sage ich nichts – überstieg doch meine Vorstellungen. Jede der beiden Damen nahm z.B. sechs harte Eier zum Spinat, schnitt jedes Ei in der Mitte durch und warf nun das halbe Ei mit so großer Leichtigkeit hinunter, wie der Strauß ein halbes Hufeisen.« Übrigens theilte Goethe noch einzelne Bemerkungen der edlen Damen mit über die Wirkungen des Karlsbader Sprudels auf ihren Körper, über die Zeitläufe und über die Gesellschaften, und einzelne Urtheile über Schriftsteller und Kunstwerke, die prächtig waren, naiv, drollig, barock, toll. Und ernsthaft setzte er alsdann hinzu: es sei viel Wahres in diesen Bemerkungen und Urtheilen, und er habe manches von den Damen gelernt.

Noch eine Anekdote mag mitgetheilt werden, weil sie uns ungemein ergötzte durch die Weise, in welcher sie erzählt wurde. Ich will sie mit Goethes Worten[38] wiedergeben; die Weise muß freilich ein Jeder hinzudenken.

»In meiner Art auf und ab wandelnd, war ich seit einigen Tagen an einem alten Manne von etwa 78 bis 80 Jahren häufig vorübergegangen, der auf sein Rohr mit einem goldenen Knopfe gestützt dieselbe Straße zog, kommend und gehend. Ich erfuhr, es sei ein vormaliger hochverdienter General aus einem alten, sehr vornehmen Geschlechte. Einige Male hatte ich bemerkt, daß der Alte mich scharf anblickte, auch wohl, wenn ich vorüber war, stehen blieb und mir nachschaute. Indeß war mir das nicht auffallend, weil mir dergleichen wohl schon begegnet ist. Nun aber trat ich einmal auf einem Spaziergang etwas zur Seite, um, ich weiß nicht was, genauer anzusehen. Da kam der Alte freundlich auf mich zu, entblößte das Haupt ein wenig, was ich natürlich anständig erwiederte, und redete mich folgendermaßen an: ›Nicht wahr, Sie nennen sich Herr Goethe?‹ – Schon recht. – ›Aus Weimar?‹ – Schon recht. – ›Nicht wahr, Sie haben Bücher geschrieben?‹ – O ja. – ›Und Verse ge macht?‹ – Auch. – ›Es soll schön sein.‹ – Hm! – ›Haben sie denn viel geschrieben?‹ – Hm! es mag so angehen. – ›Ist das Versemachen schwer?‹ – So, so! – ›Es kommt wohl halter auf die Laune an? ob man gut gegessen und getrunken hat, nicht wahr?‹ – Es ist mir fast so vorgekommen. – ›Na schauen S'! da sollten Sie nicht in Weimar[39] sitzen bleiben, sondern halter nach Wien kommen.‹ – Hab' auch schon daran gedacht. – ›Na schauen S'! in Wien ist's gut; es wird gut gegessen und getrunken.‹ – Hm! – ›Und man hält was auf solche Leute, die Verse machen können.‹ – Hm! – ›Ja, dergleichen Leute finden wohl gar – wenn S' sich gut halten, schauen S', und zu leben wissen – in den ersten und vornehmsten Häusern Aufnahme.‹ – Hm! ›Kommen S' nur! Melden S' sich bei mir, ich habe Bekanntschaft, Verwandtschaft, Einfluß. Schreiben S' nur: Goethe aus Weimar, bekannt von Karlsbad her. Das letzte ist nothwendig zu meiner Erinnerung, weil ich halter viel im Kopf habe.‹ – Werde nicht verfehlen. – ›Aber sagen S' mir doch, was haben S' denn geschrieben?‹ – Mancherlei, von Adam bis Napoleon, vom Ararat bis zum Blocksberg, von der Ceder bis zum Brombeerstrauch. – ›Es soll halter berühmt sein.‹ – Hm! Leidlich. – ›Schade, daß ich nichts von Ihnen gelesen und auch früher nichts von Ihnen gehört habe! Sind schon neue verbesserte Auflagen von Ihren Schriften erschienen?‹ – O ja! Wohl auch. – ›Und es werden wohl noch mehr erscheinen?‹ – Das wollen wir hoffen. – ›Ja, schauen S', da kauf' ich Ihre Werke nicht. Ich kaufe halter nur Ausgaben der letzten Hand; sonst hat man immer den Ärger, ein schlechtes Buch zu besitzen, oder man muß dasselbe Buch zum zweiten Male kaufen; darum warte ich, um sicher zu gehen, immer den Tod[40] der Autoren ab, ehe ich ihre Werke kaufe. Das ist Grundsatz bei mir, und von diesem Grundsatz kann ich halter auch bei Ihnen nicht abgehen.‹ – Hm!« –

Die Sitzung dauerte bis gegen 1 Uhr. Etwa in der letzten halben Stunde wurde die Unterhaltung matter, ja flau. Endlich sah Goethe nach der Uhr. Wir erhoben uns. Goethe sagte alsdann noch jedem einzelnen einige verbindliche Worte; zu mir sagte er: »Es freuet mich wirklich, Herr Professor, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben. Ich hoffe, das wird weiter führen. Sie werden gewiß oft nach Weimar kommen, alsdann bitte ich, mich zu besuchen. In Jena wird es Ihnen schon gefallen, wenn Sie sich nur erst gewöhnt haben.« Nach diesen Worten, welche ich so gut, als ich vermochte, beantwortete, wandte er sich ab und ging ein paar Schritte weiter, drehte sich aber sogleich wieder um: »Man muß nichts verschieben. Mit einem neuen Freunde muß man doch auch ein ernstes Wort sprechen, und dazu sind wir heute nicht gekommen. Die Nachwirkung des Bades hat uns auf tolle Dinge gebracht und das ist für alle recht gesund gewesen. Ich reise aber erst übermorgen nach Weimar [?] und habe morgen den Morgen frei. Kommen Sie früh zu mir.« Er bestimmte 8 Uhr. Hierauf gingen wir vier Gäste zusammen nach der Stadt zurück, aber in tiefem Schweigen. Am Thore trennten wir uns; Goethe und Riemer gingen um den Graben, Hufeland und ich in die Stadt und nach der Sonne.[41]


251.*


1806, 19. August.


Mit Heinrich Luden

Goethe empfing mich ungemein heiter und freundlich, lobte meine Pünktlichkeit und erinnerte sich mit Vergnügen an den gestrigen Abend. Alsdann ging er ans Fenster. »Es ist ein schöner Tag,« sagte er, »warm bei bedecktem Himmel. Ich denke, wir gehen in den Garten.« Wir gingen und wandelten auf und ab, kreuz und quer, und ließen uns auch von Zeit zu Zeit etwas nieder. Er fragte mich zuvörderst über die Städte, in welchen ich mich in den letzten Jahren aufgehalten hatte, über Göttingen und über Berlin. Über Göttingen nicht viel; denn er kannte die Anstalten und Einrichtungen selbst genau; unter den gelehrten Männern schien ihn eigentlich nur Blumenbach zu interessiren, und mit Blumenbach war ich nur sehr wenig bekannt geworden. Mehr über Berlin. Er erkundigte sich nach Menschen und Dingen. Ich vermochte über das Meiste Auskunft zu geben; denn ich war mit den bedeutendsten Männern, die damals in Berlin lebten, das Militär ausgenommen, entweder in Verkehr oder doch in Berührung gewesen. Goethe schien mit mei ner Auffassung der Dinge und mit meinen Urtheilen über die Menschen keineswegs unzufrieden zu sein.

Er hörte mich ruhig an, ließ zuweilen ein beifälliges[42] »Hm! Hm!« vernehmen und sprach sich auch wohl zustimmend aus, bald erläuternd, bald bestätigend. Damals hatte ich die Gewohnheit, meine ausgesprochenen Ansichten, Meinungen oder Urtheile mit einem tüchtigen Worte aus dem »Faust« zu bekräftigen; eine Gewohnheit, der ich nicht gänzlich entsagt habe bis diesen Tag. Ich muß aber bemerken, daß hier nur von dem alten »Faust« die Rede ist, von dem Fragmente, das sich noch nicht für eine Tragödie gab, wie er im 7. Bande von Goethes Schriften, Leipzig bei Göschen 1790, zu finden ist. Als ich nun einige Male diesen »Faust« angeführt hatte, sagte Goethe, den bisherigen Gang des Gespräches abbrechend:

»Sie scheinen sehr belsen im ›Faust‹. Hat das wunderliche Gedicht auch Sie so stark angezogen?«

Ich glaube, Ew. Excellenz, ich würde den »Faust« vom Anfange bis zum Ende herrecitiren können; nur die tolle Wirthschaft in der Hexenküche dürfte mich in einige Verwirrung bringen.

»Wo und wie haben Sie die Bekanntschaft gemacht? Doch wohl in Berlin; denn in Göttingen bekümmert man sich wohl nicht viel um den tractatum de Fausto.«

So arg, Ew. Excellenz, ist die Philisterei denn doch in Göttingen nicht, und ich habe wirklich in Göttingen viel Interesse für den Faust gefunden. Ich selbst hatte ihn aber schon vor acht Jahren, als ich in Bremen auf der Schule war, gelesen, aber freilich damals nicht[43] mit sehr großer Theilnahme. Ich hatte nämlich als Knabe in meinem Geburtsorte ein Puppenspiel gesehen, »der Erzzauberer Dr. Faust« genannt. Das Ding mochte schlecht genug sein, ergötzte oder ergriff mich jedoch unbeschreiblich. Bald nachher fiel mir das bekannte Volksbuch, das in Köln, denke ich, gedruckt ist, in die Hände, und regte meine Phantasie gewaltig an. Als mir daher in Bremen, etwa im J. 1797 oder 1798, der Goethe'sche »Faust« vor die Augen kam, griff ich mit beiden Händen zu, fand aber meinen alten Faust nicht wieder. Indeß las ich fleißig in demselben, viele Reime, Kernsprüche enthaltend, blieben mir im Gedächtnisse hängen, und ich warf diesen und jenen häufig in ein Gespräch hinein, oft zu rechter, zuweilen wohl auch zu unrechter Zeit, niemals jedoch verfehlten sie ihre Wirkung auf meine jungen Genossen. Während meines Aufenthaltes in Göttingen, vom J. 1799 an, kamen einige Studirende aus Jena nach dieser Universität. Es waren zum Theil schon reifere Jünglinge. Einige waren Fichte's Zuhörer gewesen; viele hatten Schelling gehört und die Schlegel; auf alle hatte das damalige philosophische und ästhetische Treiben in Jena eingewirkt, und das Theater in Weimar hatten sie nur so oft versäumt, als der leere Beutel Einsprache that. Mehrere von diesen jungen Männern wurden mir befreundet; unter ihnen ein Dr. Winkelmann.

»Winkelmann?«

Ja, Ew. Excellenz, Winkelmann aus Braunschweig,[44] ein Verwandter des berühmten Winkelmann. Es war eine große derbe Gestalt. Aber auf dem unbehülflichen Rumpf saß ein sehr schöner Kopf.

»Ich glaube ihn gesehen und auch einige Worte mit ihm gesprochen zu haben.«

Er rühmte und freute sich dieser Ehre. – Da nun mein häufiges Berufen auf den »Faust« zunächst die Veranlassung zu unserer näheren Bekanntschaft gegeben hatte, so wurde der »Faust« gar oft der Gegenstand unserer Gespräche, unserer Discussionen und Disputationen.

»Wie so? wie kam es denn unter ihnen zu Disputationen?«

Meine Freunde hatten den Kopf voll von allerlei Ansichten und Ideen, die mir nicht immer recht klar und faßlich waren, sprachen dieselben in Worten aus, die mir oft wunderlich vorkamen, schienen aber doch so viel bei diesen Worten zu denken, daß sie unsereinen halb vornehm, halb mitleidig anblickten, so daß man nicht umhin konnte, ein Mal heraus zu fahren und den Selbstseligen entgegen zu treten.

»Ich kenne das! Aber was brachten sie denn über den ›Faust‹ vor, diese Philosophen?«

Genau, Ew. Excellenz, wüßte ich das in der That nicht mehr zu sagen; auch würde ich es vor Ihnen nicht ohne einige Befangenheit aussprechen können.

»Sagen Sie es nur immer ganz unbefangen. Es würde mir doch interessant sein, zu hören, wie von den[45] jungen Leuten die Ideen ihrer Lehrer aufgefaßt werden. Denn diese Ideen waren es doch wohl im Grunde, welche sie sich in ihrem Kopf und auf ihre Weise zurechtgelegt hatten.«

Ohne Zweifel. Es waren aber lauter »hohe Intuitionen«. Es waren mystische Worte, die aus dem Ungeheuern hervorzukommen und an das Ungeheuere gerichtet zu sein schienen. Sie verwarfen meine Auffassung des Einzelnen im »Faust«, welchem ich den Sinn gab, der in den Worten liegt, und behaupteten, man müsse sich zu der Anschauung des Geistes erheben, aus welchem das Einzelne hervorgegangen sei. In der Anschauung dieses Geistes aber erkenne man und müsse man erkennen, daß dieses Fragment, »Faust« genannt, ein Bruchstück aus einer großen, erhabenen, ja göttlichen Tragödie sei. In dieser Tragödie, wenn sie einst vollendet erscheine, werde der Geist der ganzen Weltgeschichte dargestellet sein; sie werde ein wahres Abbild des Lebens der Menschheit sein, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft umfassend. In Faust sei die Menschheit idealisirt; er sei der Repräsentant der Menschheit. Bei seinem Auftritt in dem Fragmente habe er sich schon von dem Unendlichen, oder dem Absoluten, nicht nur losgerissen, sondern er sei auch schon von dem Gefühle des Unglückes dieser Losreißung durchdrungen. In ihm sei die Sehnsucht nach der Wiedervereinigung erwacht; aus dieser Sehnsucht sei sein Durst nach Wissen und Erkennen hervorgegangen;[46] er habe in demselben nach allen Seiten ausgegriffen, und alle Wissenschaften »durchaus mit heißem Bemühn studirt«. Aber er habe das Unendliche nicht zu erkennen vermocht; denn das Unendliche sei nicht zu erkennen, sondern es müsse angeschaut und gelebt werden. Deßwegen habe er Zweifel gegen all sein Wissen gefaßt, und all sein Erkennen für nichts erachtet; er sei in Verzweifelung gerathen, und habe diese Verzweifelung in sinnlichen Genüssen zu betäuben gesucht, ohne jemals das Streben nach dem Unendlichen aufzugeben. So sei er verirrt, so zu Schlechtigkeiten und Verbrechen gekommen, zu welchen Mephistopheles, die Personification des bösen Princips, ihm gerathen, ihn verleitet und unterstützt habe. Auf diesem Wege der Verirrung, den übrigens Faust stets richtig erkenne, wandele derselbe noch, wo das Fragment abbricht; »er taumele noch von Begierde zu Genuß, und verschmachte noch im Genuß vor Begierde«. Aber schon ekele ihm »vor dem Gefährten, obgleich er denselben nicht mehr entbehren könne«. Aber er sei schon zu dem Gefühle gekommen, daß dieser Gefährte »ihn kalt und frech vor ihm selbst erniedrige«. Das sei ein Beweis, daß er bald zurückkehren werde zu der Wahrheit, zu dem Unendlichen, und daß er alsdann dieses Unendliche nicht mehr zu erkennen suchen, sondern daß er es anschauen, daß er es leben, und durch dieses Leben des Unendlichen oder im Unendlichen selig sein werde. Das sei der Gang der Menschheit, das der Geist der Weltgeschichte. –[47] In diesen oder ähnlichen Worten, welche mir ungefähr dasselbe zu bedeuten schienen, theilten meine Freunde ihre Jenaische Weisheit mit, und dieselben Phrasen habe ich später auch in Berlin häufig genug anhören müssen.

»Haben Sie Schlegel's Vorlesungen beigewohnt?«

Nein, Ew. Excellenz. Ich habe nur einpaar Male hospitirt. Überhaupt bin ich in Berlin nur Fichte's Zuhörer gewesen, und auch nur in den wissenschaftlichen Vorträgen, nicht in den populären.

»Sie scheinen also nicht viel auf Schlegel zu halten, oder sind wohl selbst ein Gegner?«

Keinesweges. Ich verehre Schlegel's Verdienste um die deutsche Literatur auf das Höchste, und bin ihm selbst große Dankbarkeit schuldig; denn ich habe manches von ihm gelernt und bin, was ich noch höher anschlage, oftmals mächtig durch ihn angeregt wor den zum Lernen und Denken. Seinen Vorträgen aber konnte ich nicht wohl beiwohnen, weil sie für die Ordnung meiner Zeit unbequem fielen. Auch bedurfte ich des Zuhörens kaum; denn mein Freund Kohlrausch schrieb fleißig und verständig nach und erstattete mir immer getreulich Bericht zu gegenseitiger Besprechung. Und endlich muß ich auch gestehen, daß ich lieber las, was Schlegel geschrieben hatte, als anhörte, was er sagte. Seine Persönlichkeit hatte für mich etwas Störendes. Übrigens habe ich bei den Worten, daß ich in Berlin dieselben Phrasen hätte anhören müssen, die ich in Göttingen angehört hatte, durchaus nicht an Schlegel gedacht.

[48] »Aber Sie haben nicht blos angehört, sondern Sie haben disputirt.«

Nur in Göttingen mit meinen jungen Freunden. In Berlin habe ich die Redensarten nur angehört, habe zugestimmt und zuweilen etwa gelacht.

»Gelacht?«

Versteht sich: in mich hinein.

»Aber eben damit haben Sie stillschweigend das Disputiren fortgesetzt. Sie sind nicht zu der Meinung Ihrer Gegner übergegangen, sondern in der Opposition geblieben. Sie haben Ihre Argumente also fortwährend für stark genug gehalten um die Gegner aus dem Felde zu schlagen. Darf man denn die Gründe nicht kennen, mit welchen Sie gestritten haben?«

In der That, Ew. Excellenz, würde ich kaum im Stande sein, vor Ihnen diese Gründe auszusprechen. Sie waren gar verschieden, heute andere, als gestern, wie der Augenblick sie eingab. Auch waren sie von sehr verschiedener Art.

»Es würde mich doch interessiren, sie kennen zu lernen, wenigstens in der Hauptsache. Auch scheint mir billig, da Sie so gütig gewesen sind, die Meinungen des einen Theiles mitzutheilen, die entgegenstehenden Meinungen auszusprechen. Und thun Sie das nur mit völliger Unbefangenheit; vergessen Sie, daß der Dichter des ›Faust‹ mit Ihnen spricht.«

Meine Freunde aus Jena waren natürlich sämmtlich große Philosophen. Ich war im ersten Jahre[49] meines Universitätslebens nicht eben zum Studium der Philosophie angeregt; denn die Lehrer in Göttingen, Buhle und Bouterwek, verstanden es, bei aller Gelehrsamkeit, keinesweges, für dasselbe zu begeistern. Jene Freunde nöthigten mich zu diesem Studium, und ich stürzte mich hinein mit dem feurigsten Eifer. Ich studirte die Schriften von Kant und Fichte, auch alles was von Schelling und Hegel ausging, und las alles, was die Schlegel schrieben und diejenigen, die auf deren Seite standen, wie z.B. die »Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders« und vieles Andere. Aber zugleich pflegte ich meine alte Liebe für die Geschichte, und Thibaut hatte mich durch sei nen anmuthigen Vortrag für die Mathematik gewonnen. So kam es denn, daß ich durch die Intuitionen nicht geblendet wurde, daß ich verlangte, ein Begriff müsse bei dem Worte sein, daß ich Worte verwarf, welche sich einstellten, wenn Begriffe fehlten, wie trefflich sich auch mit denselben streiten ließ. Wir disputirten über alle Gegenstände der Philosophie, zuweilen ich allein gegen mehrere, zuweilen unterstützt von göttingischen Freunden, besonders von einem herrlichen Jüngling Ebers aus Hannover, einem tüchtigen Philologen, Wolf's Schüler, mit welchem ich den Plato las. Unser Streit wurde zuweilen so heftig, daß wir die Freundschaft aufkündigten und grimmig auseinander liefen; aber am folgenden oder am dritten Tage suchten wir uns wieder auf und wandelten mit einander auf der alten Bahn, als wäre[50] nichts vorgefallen. Bei diesen Disputationen kamen wir denn auch oft auf den »Faust« zurück, und ich holte bald dieses, bald jenes Geschütz aus meinem Arsenal hervor, um den Bau meiner Freunde zu beschießen.

»Das ist recht hübsch. Ich hätte kaum geglaubt, daß man es in dieser Weise in Göttingen getrieben habe. Ihre übrigen Disputationen würden uns zu weit führen; was Sie aber gegen die Ansichten Ihrer Freunde vom ›Faust‹ vorgebracht haben, wäre ich wohl begierig der Hauptsache nach zu erfahren. Gelang es Ihnen, den Feind mit Ihrem Geschütz aus dem Felde zu treiben?«

Nein, Ew. Excellenz; aber ich habe ihn doch zuweilen in seinem Lager stark beunruhigt. Mehr war nicht zu gewinnen; denn, wer Recht behalten will und hat nur eine Zunge, behält's gewiß. Man verwarf meine argumenta ad hominem, und wandte sich mit der Behauptung hinweg, ich stecke noch in der Sphäre des gemeinen Menschenverstandes, und man könne nur mit dem ordentlich disputiren, der sich zu der Höhe der wahren Philosophie erhoben habe. Das mußte ich mir denn wohl gefallen lassen und abwarten, ob der Streit wieder anfangen würde: Gewöhnlich dauerte es nicht lange.

»Nun, so fahren Sie doch eine oder die andere Ihrer Batterien vor, damit man ihre Stärke und Tragweite erkenne.«

[51] Wenn Ew. Excellenz es wollen, so gehorche ich dem wiederholten Befehl; ich muß aber um Nachsicht und zu erwägen bitten, daß ich Student war. Auch können natürlich nur ein paar Beispiele gegeben werden.

»Ganz recht, ganz Recht. Geben Sie nur!«

Meine Freunde hatten, wie gesagt, behauptet: der »Faust« sei oder werde sein eine divina tragoedia, in welcher der Geist der ganzen Weltgeschichte dargestellt, in welcher das ganze Leben der Menschheit sei, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft umfassend. Dieser Behauptung stellte ich den Begriff der Tragödie entgegen, wie derselbe von alten und neuen Philosophen bestimmt worden, und behauptete alsdann, eine Darstellung der Weltgeschichte könne unmöglich eine Tragödie sein. Allerdings gab ich gern zu, daß der bis jetzt geltende Begriff von Tragödie zu eng sein möge. Wie es früher dramatische Dichtungen einer gewissen Gattung gegeben habe, ehe man den Namen Tragödie gefunden und mit demselben jene Gattung bezeichnet habe, so könnten wohl neue Dichtungen nöthigen, den Begriff der Tragödie zu erweitern. Wie man ihn aber auch fassen möge, so lange es ein Begriff bleibe, eine bestimmte Dichtungsgattung umfassend, so lange dieser Gattung andere Gattungen gegenüber ständen, so lange könne und dürfe die Weltgeschichte nicht als Tragödie bearbeitet werden, und eben so wenig als Komödie oder als Schäferspiel. Denn die Weltgeschichte sei, der Idee nach, alles, und Tragödien und Komödien seien kleine[52] Theile derselben. Auch scheine mir die Einschränkung, daß es nicht die Weltgeschichte sei, die dargestellt werde, sondern der Geist der Weltgeschichte, oder, wie auch gesagt worden, der Geist der Menschheit, nicht weiter zu führen; denn leiblich erscheine der Geist der Menschheit doch nicht in dem Fragmente, und werde auch nicht in dem vollendeten »Faust« leiblich erscheinen können, um in eigener Person zu tragiren. Auch begriffe ich nicht, mit wem der Geist der Menschheit, falls er in Person erschiene, tragiren sollte; ich begriffe nicht, wen man diesem Geiste gegenüber oder an die Seite stellen könnte. Ich fürchtete daher, demselben werde nichts übrig bleiben, als endlose Monologen zu halten, oder sich einsam in der freien Luft zu ergehen. Und wie denn der Geist der Menschheit, wie er sich in der Weltgeschichte offenbare, gedacht werden könne? Wir sprächen zwar von einer Geschichte der Menschheit, und von einem Geiste der Geschichte der Menschheit und philosophirten über die Menschheit und ihre Geschichte, aber wir bezögen diese Ausdrücke doch nur aus die Vergangenheit. Von der Zukunft, die sie auch in die göttliche Tragödie hinein ziehen wollten, gelte noch immer Horazens Wort: futuri temporis exitum caliginosa nocte premit Deus. Die Vergangenheit aber, soweit wir dieselbe geschichtlich zu erkennen vermögen, sei sehr kurz, und doch abstrahirten wir aus ihr allein das Leben der Menschheit indem wir aus dem eigenen Geiste und den eigenen Gefühlen hinzuthäten, was uns[53] nöthig oder wünschenswerth zu sein scheine. Es wäre nicht nur möglich, sondern sogar wahrscheinlich, und ich glaubte, wir müßten es wünschen, daß unsere Nachkommen nach 10000 Jahren die Weltgeschichte ganz anders auffaßten, als wir, und in ihr, wenn nicht einen ganz anderen Geist, doch denselben Geist viel klarer, deutlicher und bestimmter erkennen würden; es wäre möglich, daß sie Alles, worin wir es so herrlich weit gebracht zu haben glaubten, nur als Anfänge, als kindische Versuche betrachteten und all unsere Weisheit als knabenhafte Thorheit.

»Hm! Hm!« – (dem Laute nach halb beifällig und halb zweifelnd.) –

Eben deßwegen hielte ich nicht für denkbar, daß irgendeinem Menschen der ungeheuere Gedanke in den Kopf kommen könne, das Leben der Menschheit, wenn nicht für das Theater, doch jedes Falles in dramatischer Weise zu bearbeiten, und am wenigsten könnte ich mir dieses von dem Dichter des »Faust« vorstellen, in dessen übrigen Schöpfungen z.B. in meinen Lieblingsgedichten der »Iphigenia« und dem »Torquato Tasso«, alles so hell und lauter erscheine, so wahr, menschlich und schön, so scharf und gerundet.

Dieses letzte Argument ward aber auf eine Weise schnöbe verworfen, welche ich, da ich ein Mal in das Schwatzen hineingekommen bin, nicht unberührt lassen möchte, weil sie am besten zeigen kann, wie es in den Köpfen einiger meiner Freunde aussah.

[54] »Nun, ich bin begierig!«

Meine Freunde gaben zu, daß der Dichter des »Faust« den Gedanken gar nicht gehabt haben möge, ja vielleicht einen ganz anderen, aber sie behaupteten, daß er diesen Gedanken dennoch gegen sein Wissen und seinen Willen dem Gedichte zum Grunde gelegt und die ganze Dichtung mit demselben durchdrungen habe. Sie sahen nämlich die dichtende Kraft oder den Dichtergeist als eine unabhängige, freiwirkende Gewalt an, welche den Menschen, den man den Dichter zu nennen pflegt, nöthige, zu dichten und so zu dichten, wie er eben dichtet. Sie nahmen an, die Dichtung dringe aus dem s. g. Dichter hervor, wie etwa der Quell aus dem Felsen. Wie alte Theologen sich die Inspiration dachten, als habe der heilige Geist den heiligen Schriftstellern die Hand geführt, damit sie eben schreiben mußten, was sie geschrieben haben, kein Jota zu viel und kein Jota zu wenig, so dachten sie sich den Dichtergeist wie eine mystische Macht, die den Menschen, in welchem sie wohnt oder welchen sie erfaßt, nur als Werkzeug gebraucht, um sich in der Weise vor der Welt zu bewähren, in der sie sich eben bewähren will. Rhythmus, Metrum, Reim, alles ist nicht Werk des dichtenden Menschen, sondern die Wirkung des dichterischen Geistes, welchem der Mensch nicht zu widerstehen vermöge, er möge sich stellen, wie er wolle.

»So? Ei, das ist ja ganz charmant!«

Meine Gegenbemerkungen, z.B., daß zwar Gott[55] nach einem altem Sprichworte, seine Gaben wunderbar vertheile und seinen Freunden vieles im Schlafe gebe, daß ich aber doch, wie hoch ich auch den Dichterehre, nicht umhin könne, nur Einen Geist anzunehmen, der sich zwar im Dichter anders offenbare als im Bildhauer, im Redner, im Geschichtschreiber, der aber doch immer derselbe bleibe; daß ferner die Dichter gerade bei ihren schönsten Werken tüchtige Vorstudien zu machen gehabt hätten, und namentlich der Dichter des »Faust« für den »Götz«, für die »Iphigenia«, für den »Tasso«, ja, daß sich fast alle Gedichte entweder auf Selbsterlebtes oder aus Überliefertes bezögen, und daß das Studium wie das Erleben bei dem Dichter ganz aus dieselbe Weise vorgehe, wie bei anderen Menschen; daß manche Dichter sich Jahre lang mit Entwürfen zu dichterischen Schöpfungen herumgetragen, und diese Entwürfe, zuerst ganz im Allgemeinen aufgefaßt, nach und nach schärfer gestaltet, selbst verändert, auch wohl Winke und Belehrung von kritischen Freunden erhalten und befolgt hätten, ehe sie zu der Ausführung geschritten; daß sie auch die Darstellung selbst nicht selten überarbeiteten, um den Stoff zu reinigen und die Form zu verbessern; die verschiedenen Ausgaben gäben Zeugnisse, daß viele Dichter die Musen um Beistand angeflehet, viele über die Hindernisse geklagt hätten, welche ihnen die Sprache in den Weg lege, und daß es daher offenbar sei, auch der Dichter habe seine Werkstatt, und er empfinde bei der Arbeit dieselben Geburtswehen,[56] an welchen andere Sterbliche zu leiden hätten –

»Da haben Sie wohl Recht.«

– Diese Gegenbemerkungen wurden als unphilosophisch, prosaisch und gemein zurückgewiesen. Und um mich vollends von der Nichtigkeit derselben zu überzeugen, wurde z.B. folgende Anekdote erzählt. Ew. Excellenz wären ein Mal in einem lebhaften Gespräche verwickelt gewesen. Sie hätten an einem Tische gesessen, auf welchem Ihr rechter Arm geruht habe. Während des Gespräches hätten Sie eine Bleifeder ergriffen und ein Stück Papier, beides mechanisch; denn Sie hätten gar nicht hingesehen. Sie hätten angefangen zu zeichnen, die Augen abgewendet und das Gespräch ununterbrochen fortsetzend. Am Ende hätte sich ergeben, daß Sie eine recht schöne Landschaft gezeichnet, und darüber seien Sie höchst verwundert gewesen; denn Sie hätten gar nicht gewußt, daß Sie die Bleifeder in der Hand gehalten, vielweniger, daß Sie gemalt hätten. So habe die dichterische oder die schaffende Kraft in Ihnen sich Ihrer Hand als bloßen Werkzeugs bedient; denn Sie habe sich offenbaren müssen, diese Kraft, und habe sich in diesem Augenblicke nicht anders offenbaren können.

»So?«

Ein zweites Beispiel. Meine Freunde behaupteten, Faust sei, oder solle sein, der Repräsentant der Menschheit und Mephistopheles das personificirte Böse.

[57] Ich leugnete beides. Was Faust sein solle, sagte ich, oder was er einst sein werde, wenn die ganze Tragödie vollendet sei, lasse ich auf sich beruhen. Aber in dem Fragment sei er offenbar nicht Repräsentant der Menschheit, sondern ein einzelner. Neben ihm erschienen ja auch andere Menschen, wie der ehrliche Wagner, die tapferen Burschen, Frosch, Brander, Siebel und Consorten, die lüsterne Frau Marthe und das wunderliebliche Gretchen, welche sämmtlich doch auch zur Menschheit gehörten und, so zu sagen, einen Theil der Menschheit in sich trügen, wenn auch nur einen sehr kleinen. Wollte man aber den Faust etwa einen Repräsentanten der Menschheit nennen, wie ein Gesandter, der Repräsentant eines Reiches oder eines Volkes sei, oder ein Deputirter im englischen Parlamente der Repräsentant einer Grafschaft, einer Stadt, eines Fleckens, so fürchtete ich, es würde ihm nicht möglich sein, seinen Vollmachtsbrief vorzuzeigen. Auch sei es doch sonderbar, daß das Böse, welches sich im Leben der Menschheit finden möge, hier als Person neben dem Repräsentanten der Menschheit als gehorsamer Diener herlaufe und dergleichen mehr.

»Alles Dieses läßt sich hören; es sind jedoch nur Negationen, was Sie vorbringen oder vorgebracht haben, die nicht weiter führen. Indem Sie aber die Ansichten anderer von dem ›Faust‹ zu widerlegen suchten und zu diesem Zweck den ›Faust‹ abermals und abermals lesen mußten, sind Sie ohne Zweifel zu einer eigenen[58] Ansicht von dem wunderlichen Gedicht gekommen, die solchen Gründen als Sie aufgestellt haben, zu widerstehen im Stande ist. Wollen Sie nicht wenigstens zum Schlusse unserer Unterhaltung diese Ansicht, die Sie selbst aus der Lectüre des ›Faust‹ gewonnen haben, mittheilen?«.

In der That, Ew. Excellenz, habe ich wohl Versuche gemacht, die Idee, welche der Dichter darzustellen unternommen habe, aufzufinden, und aus derselben das Einzelne in dem Gedichte zu erklären; es hat auch wohl Augenblicke, vielleicht Stunden und Tage gegeben, in welchen ich an die Richtigkeit dieser Idee geglaubt habe. Aber sie ist mir immer wieder, wie man zu sagen pflegt, unter den Händen zerronnen, und mein Glaube ist verschwunden. Daher, wie ich alles Streiten längst aufgegeben habe, so habe ich auch aller Grübelei entsagt. Ich freue mich dessen, was wir haben, nehme es, wie es vorliegt, und überlasse anderen zu ergründen, was vielleicht unergründlich ist.

»Wie ist denn das möglich?«

Ich lese die einzelnen Scenen, und oft, und mache das Büchlein immer mit neuer Lust wieder auf. Des gelehrten Doctors Selbstpeinigung, die allerdings bei einem Manne von 54 Jahren etwas auffallend ist –

»Warum geben Sie ihm denn grade 54 Jahre?«

Auf und ab. Da Faust sich durch den Hexentrank 30 Jahre vom Leibe schaffen, und doch wohl, weil er nach gewissen Genüssen lüstern ist, nicht als unreifer[59] Bursche erscheinen will, so dächte ich 54 Jahre wären ungefähr ein angemessenes Alter.

»Nun, ich habe Sie unterbrochen, fahren Sie doch fort!«

Des Doctors Selbstpeinigung erregt mein Mitleid und macht mich besorgt für den Mann; seine weisen Lehren gewinnen meinen Beifall, sein Streben nach tieferer Erkenntniß meine Achtung, sein Gebet im Walde greift tief in meine Brust, und sein Gespräch mit Gretchen über Religion spricht lebendig zu meinem Herzen. Bei allen diesen Vorgängen nehme ich ihn, wie er eben erscheint, und suche weder den eitlen Hans in der Hexenküche, noch den groben Gesellen im Verkehre mit Mephistopheles, oder den arglistigen Verführer der Margaretha mit ihm, in jenen Vorgängen, in Übereinstimmung zu bringen. Und auf dieselbe Weise fasse ich die übrigen Personen, wie sie sich eben geben, jedes ihrer Worte in dem einfachen Sinne nehmend, den sie in der Sprache haben.

»Ja; so mögen denn die Orakelsprüche, Sentimentalitäten, Schelmereien, Spitzbübereien und Schweinereien auch ihr Interesse haben. Aber es ist ein kleinliches, ein zerhacktes Interesse. Ein höheres Interesse hat doch der Faust, die Idee, welche den Dichter beseelt hat, und welche das einzelne des Gedichtes zum Ganzen verknüpft, für das Einzelne Gesetz ist und dem Einzelnen seine Bedeutung giebt.«

Darüber könnte freilich der Dichter den besten Ausschluß geben.

[60] »Mit diesem Aufschlußgeben wäre die ganze Herrlichkeit des Dichters dahin. Der Dichter soll doch nicht sein eigener Erklärer sein und seine Dichtung in alltägliche Prosa sein zerlegen; damit würde er aufhören Dichter zu sein. Der Dichter stellt seine Schöpfung in die Welt hinaus; es ist die Sache des Lesers, des Ästhetikers, des Kritikers, zu untersuchen, was er mit seiner Schöpfung gewollt hat.«

Ich gebe dieses alles sehr gern zu, Ew. Excellenz, aber mir scheint doch auch, daß es dem Leser oder Kritiker unmöglich sein werde, die Idee der ganzen Schöpfung anders, als aus der ganzen Schöpfung zu gewinnen.

»Aber wir erkennen doch im Torso den Herkules.«

In tantum, Ew. Excellenz. Wir erkennen in dem schön bearbeiteten colossalen Block, den ich leider nicht gesehen habe, daß derselbe der Rumpf einer kolossalen Statue gewesen sein müsse, und wir sind, so zu sagen, stillschweigend übereingekommen, in dieser Statue den Herkules zu sehen, weil wir sie sonst nicht unterzubringen wissen. Wenn aber irgend ein Zauberer die Statue wieder herstellte und ihr den Torso ohne Fuge und Naht einverleibte: so würde sich doch vielleicht zeigen, daß selbst Winkelmann sich geirrt habe, und daß der Torso nicht einem sitzenden Herkules den Kopf auf die Hand gestützt und das Auge zum Himmel gerichtet angehöret habe. Ich sage, das wäre möglich.

[61] »Soll ich etwa an Statt des Torso die Löwenklaue nennen?«

Wenn uns eine abgeschnittene Klaue dargeboten würde, also ein Fragment eines Löwen, so würden wir gewiß erkennen, daß es eine Löwenklaue sei, aber ich fürchte den Löwen, von welchem sie abgeschnitten ist, würden wir nimmermehr erkennen. Und wenn das Geschlecht der Löwen ausgestorben wäre, und die abgeschnittene Klaue würde einem großen Kenner der Natur vor die Augen gelegt, so würde er gewiß sogleich behaupten, es sei die Tatze eines großen und starken Thieres, etwa aus dem Katzengeschlechte; ob er aber aus dieser Tatze den Löwen, wie er leibt und lebt, zu construiren im Stande fein würde, scheint mir weniger gewiß. So halte ich für unmöglich, daß Jemand den »Faust« zu lesen vermöchte, ohne den großen und gewaltigen Dichtergeist zu erkennen, der, ich möchte sagen, in jeder Zeile wehet und wirkt, einen Dichtergeist, den das Heiligste durchdrungen und das Gemeinste ins Auge gefaßt hat, ohne von demselben besudelt oder nur berührt zu werden. Aber für unmöglich halte ich, aus dem Fragment einen ganzen »Faust« zu construiren, oder in dem Fragment eine Idee aufzufinden, aus welcher die vorliegenden Scenen ebensowohl erklärt werden könnten, als was noch an einem Ganzen fehlen mag.

»Und dennoch hat man allgemein einen Mittelpunkt gesucht, aus welchem heraus das einzelne, sich gegenseitig[62] ergänzend, erwachsen sei und ferner erwachsen könnte. Und große Gelehrte und geistreiche Männer haben es nicht für zu gering gehalten, sich nach diesem Mittelpunkt umzusehen.«

Das zeugt jedes Falles für das allgemeine Bedürfniß eines solchen Mittelpunktes.

»Was hat denn aber dieses Bedürfniß erzeugt? Doch ohne Zweifel das Fragment selbst. Das Einzelne, das Ihnen zu genügen scheint, hat andere nicht befriedigt, und doch haben sie das Büchlein nicht hinweg geworfen, sondern sie haben es festgehalten, oder es von Neuem und abermals wieder in die Hand genommen. Es muß also doch Etwas in dem Büchlein sein und durch das Büchlein hindurch gehen, das auf den Mittelpunkt hinweist, auf die Idee, die in allem und jedem hervortritt.«

Ich habe nicht gerade gesagt, Ew. Excellenz, wenigstens hätte ich nicht sagen sollen, daß mir das Einzelne genüge, sondern ich habe nur sagen wollen, daß ich mich des Vorhandenen freue, und daß ich das tiefere Forschen darum aufgegeben habe, weil meine Versuche mißlungen wären, und weil mir auch die Versuche Anderer mißlungen zu sein schienen. Und dann gestehe ich auch, daß die beständige Erneuerung dieser Versuche, den Mittelpunkt oder die Grund-Idee des Faust aufzufinden nicht gerade so zu erklären sein dürfte, wie Ew. Excellenz sie zu erklären geruhet haben.

[63] »Wie wollten Sie dieselbe denn anders erklären, als aus der poetischen Richtung des Einzelnen, welche auf einen nothwendigen Zusammenhang, also auf einen Mittelpunkt, auf eine Grundidee hinweist überall?«

Das könnte vielleicht aus mehr, als Eine Weise geschehen. Wenn aber Ew. Excellenz mir verstatten wollen, nur eins anzuführen, das mitgewirkt haben könnte zu diesem allgemeinen Eifer in der Erklärung des »Faust«, so möchte ich mir fast erlauben, mit Worten aus dem Faust zu sprechen, wenn es auch Hexen- und Teufelsworte sind:


Aus Eins mach' Zehn

Und Zwei laß gehn,

Und drei mach' gleich,

So bist Du reich.

Und Neun ist Eins,

Und Zehn ist keins.


»Wie gehört diese Hexeneinmaleins hierher? Was wollen Sie damit sagen?«

Mit andern Worten:


– Ein vollkommener Widerspruch.

Bleibt gleich geheimnißvoll für Kluge wie für Thoren.


Und je geheimnißvoller der Widerspruch ist und je rascher sich ein Widerspruch an den anderen drängt, als sollten sie sich gegenseitig, wie ergänzen, so erklären oder auflösen, desto stärker und allgemeiner, denke ich, muß das Verlangen werden, wenn der gemeine Ausdruck verstattet ist, dahinter zu kommen.[64]

»Im Allgemeinen möchte in dieser Bemerkung immer einige Wahrheit sein. Auf den besonderen Fall aber angewandt, scheinen Sie die große Theilnahme, welche der ›Faust‹ gefunden hat, nicht dem Werke selbst, nicht der Macht der Poesie zuzuschreiben, sondern einem mystischen Etwas, das hinter dem ›Faust‹ liegt; die Leser werden nicht angezogen durch das, was ihnen dargeboten ist, sondern durch Etwas, was sie zu suchen veranlaßt werden, und was sie niemals zu finden vermögen.«

So ist es nicht gemeint, Ew. Excellenz. Ich habe ja von mir selbst gesagt, daß ich mich des Gegebenen herzlich erfreue, und ich hätte hinzusetzen können, daß ich des »Faust« erst recht froh geworden bin, seitdem ich mich entschlossen habe, das einzelne zu genießen, und das Suchen nach einer Grundidee, nach einem Mittelpunkt, wodurch mir der Genuß verkümmert worden war, gänzlich auszugeben. Es ist aber eben die Macht der Poesie, welche das ergriffene Gemüth überwältigt und den klügelnden Verstand anreizt, noch einen tieferen Sinn in den Worten und Darstellungen zu vermuthen: er weiß sonst den Eindruck nicht zu erklären; denn er ist eben nicht poetisch, der Verstand. Würden ihm die Widersprüche in schlichter Prosa dargeboten, oder in Reimen ohne Poesie, so würde er die Widersprüche ohne Weiteres als unvernünftig zur Seite schieben.

»Also abermals die Widersprüche? Wollten Sie[65] nicht die Güte haben, den einen oder den anderen dieser Widersprüche etwas näher zu bezeichnen, an welchen Sie Anstoß genommen haben, oder welche Ihnen so geheimnißvoll zu sein scheinen, daß Kluge und Thoren sich zu der Auflösung aufgefordert fühlen?«

Hatte ich ahnen können, daß mir die Ehre zu Theil werden würde, mit Ew. Excellenz diesen Morgen ein solches Gespräch zu führen, so würde ich den »Faust« einmal wieder durchgelesen haben, um Alles frisch und lebendig aufzufassen; denn es ist mir in der letzten Zeit so mancherlei durch den Kopf gegangen, daß eins und das andere im »Faust« doch zurückgetreten ist. Und deßwegen, und weil ich ohnehin doch nur wenig werde vorbringen können, will ich den ganzen wunderlichen Hexenspuk übergehen, obwohl derselbe, als dem Glauben einer früheren Zeit angehörend, mit der Welt, in welcher wir leben, in einem schneidenden Widerspruch steht. Und auch die Geistererscheinungen will ich übergehen, die nicht minder jenes Geheimnißvolle an sich haben, das die Seele stachelt. Selbst den prächtigen Gesellen Mephistopheles will ich nicht anführen, obwohl er wohl Stoff zu mancher Bemerkung darböte. Dieser Teufel ist so stark von der Cultur beleckt worden, daß er ein recht behaglicher Gesellschafter zu sein scheint, sehr verschieden von dem alten Teufel, der wie ein brüllender Löwe herumlief und die Menschen zu verschlingen suchte. Nur die Atmosphäre wird durch ihn, nach Gretchens Bemerkung, etwas[66] schwül gemacht, trotz seines freiherrlichen Benehmens. Da er aber nicht Ein Teufel aus vielen ist, sondern da er sich selbst den Teufel nennt und den Gruß der Seinigen als Junker Satan annimmt, so muß man erstaunen, daß der Fürst der Finsterniß sich soweit herab läßt, den Diener eines so unholden Herrn zu machen; man muß sich wundern, daß er sein großes Reich so lange verlassen kann, um sich um die Seele eines pedantischen Magisters zu bewerben, und man kommt zu dem Schlusse, daß, wenn der Teufel sich so viele Mühe um jede Seele geben muß, die Hölle unmöglich stark bevölkert sein kann. Doch dieses sind nur Einfälle des Augenblickes; ich komme auf den Helden, auf Faust selbst.

Faust ist, wie mir scheint, am besten von dem Dichter selbst bezeichnet worden. Mephistopheles nennt ihn einen »übersinnlichen, sinnlichen Freier«, allerdings nur in Beziehung auf Gretchen; aber es ist wahr in Beziehung auf alles, um das er sich bewirbt, wonach er strebt. In ihm sind unverkennbar zwei Seelen –

»Hm!« –

Diese beiden Seelen, zusammengewachsene Zwillinge, befinden sich mit einander in einem unausgleichbaren Kampfe. Die eine, der göttlichen Natur im Menschen entsprechend, strebt dahin, woher sie stammt, nach dem Göttlichen, nach Wahrheit, Erkenntniß, Licht; die andere, die thierische Natur im Menschen, treibt zu jeglichem sinnlichen Genuß. Das ist nun, meine ich, nichts Unerhörtes;[67] derselbe Kampf findet sich mehr oder minder, verschieden gestaltet und gerührt, in dem Leben eines jeden Menschen; das Abweichende und Widersprechende ist aber, daß sonst die thierische Natur wohl in der Jugend von Zeit zu Zeit den Sieg gewinnt, in späteren Jahren aber von der göttlichen überwunden wird, daß in Faust hingegen die göttliche Natur ein halbes Jahrhundert vorherrschend gewesen ist, und daß alsdann die thierische alle Gewalt dergestalt ausübt, daß er, der alternde Mann mit erkünstelter Jugend, oder vielmehr mit einer Hexenjugend, daß


Er taumelt von Begierde zu Genuß,

Und im Genuß verschmachtet vor Begierde.


Und nur von Zeit zu Zeit erinnern seine Worte, im Widerspruche mit seinen Handlungen, daran, daß einst ein höherer Geist in ihm gelebt und gewirkt hat. Im wirklichen Leben ist das üppige Alter widerwärtig, und ein lockerer Greis eine häßliche Erscheinung; den Faust macht nur die Poesie erträglich. Das ist der erste Widerspruch. Und andere drängen sich hervor.

Faust tritt auf, nachdem er schon Philosophie, Juristerei, Medicin und Theologie mit heißem Bemühen studirt hat. Nun macht er die Entdeckung, daß wir Nichts wissen können, aber zugleich auch die Entdeckung, daß er weder Gut noch Geld, noch Ehr und Herrlichkeit der Welt hat. Darum mag er so nicht länger leben. Aber er weiß auch recht gut,


[68] warum sein Herz

Sich bang in seinen Busen klemmt,

Warum ein unerklärter Schmerz

Ihm alle Lebensregung hemmt.


Denn er antwortet selbst:


Statt der lebendigen Natur,

Da Gott die Menschen schuf hinein,

Umgiebt im Rauch und Moder nur

Mich Thiergeripp und Todtenbein.


Auch verschreibt er sich sogleich ein Recipe:


Flieh! Auf! Hinaus ins weite Land!-

Denn wenn Natur Dich unterweist,

Dann geht die Seelenkraft Dir auf.


Anstatt aber der eignen Vorschrift zu folgen, anstatt sich von allem Wissensqualm zu entladen und in die Natur hinaus zu gehen, ergreift er »das Buch von Nostradamus eigner Hand« und fängt an die Geister zu beschwören. Die Erscheinung bringt ihm nur Schauer, Demüthigung, Verwirrung. In der Fülle der Gesichte aber wird er gestört durch den ehrlichen Wagner, den trocknen Schleicher. Und wie schön und menschlich weiß er, der Mann der Verzweifelung, »des unerklärten Schmerzes«, der unendlichen Sehnsucht, wie schön und menschlich weiß er den redlichen Forscher an die einzige Quelle zu verweisen, aus welcher allein der Mensch sein heiligstes Bedürfniß befriedigen kann.


Das Pergament, ist das der heil'ge Bronnen,

Woraus ein Trunk den Durst auf ewig stillt?

Erquickung hast Du nicht gewonnen,

Wenn sie Dir nicht aus eigner Seele quillt.[69]


Er aber verläßt diese Quelle und ergiebt sich dem Teufel.

Bei seiner ersten Erscheinung mit Mephistopheles spricht er noch eine Sprache, die seines früheren Strebens würdig ist. Er stellt seine Forderungen so hoch, daß man, wenn er auf die Erfüllung bestände, selbst die Ergebung an den Teufel verzeihen, daß man begreiflich finden würde, wie er geglaubt habe, um einen solchen Preis dürfe und müsse er selbst seine Seele verkaufen.


Und was der ganzen Menschheit zugetheilt ist,

Will ich in meinem inneren Selbst genießen,

Mit meinem Geist das Höchst' und Tiefste greifen,

Ihr Wohl und Weh auf meinen Busen häufen.


Diese Worte erregen hohe Erwartung. Sie eröffnen die Aussicht auf Großes, Gewaltiges, Erhabenes. Mephistopheles aber hat den Mann schon durchschauet, das beweiset die schnöde und höhnische Weisheit, welche er dem Manne zu predigen wagt, der alle Wissenschaften studirt hat. Und wenn Faust ihm auch noch ein Mal mit einem scheinbar entschiedenen: »ich will« entgegentritt, so läßt er sich nicht irre machen. Und bald hat er die Freude zu sehen, daß der Held Vernunft und Wissenschaft vergißt oder verräth, daß er mit der feigen Frage:


Wie fangen wir das an?


allem Willen entsagt, daß derselbe sich mit der Antwort begnügt:


Wir gehen eben fort.[70]


Deßwegen höhnt ihn Mephistopheles denn auch noch:


Denn schlepp' ich durch das wilde Leben,

Durch flache Unbedeutenheit,

Er soll mir zappeln, starren, kleben.


Er setzt hinzu, als hätte er die Entdeckung gemacht, daß es kaum der Mühe werth gewesen, sich um diese arme Seele zu bewerben, weil sie ihm doch nicht entgangen sein würde:


Und hätt' er sich auch nicht dem Teufel übergeben,

Er müßte doch zu Grunde gehn.


Und in der That, welchen Gewinn hat denn Faust, der so Großes erstrebte, so Großes wollte, aus dem Bunde mit dem Teufel gezogen? Er hat mit Hülfe desselben ein junges, liebes, unschuldiges Mädchen verführt; das ist Alles. Und für diesen Zweck sind die aufgewandten Mittel etwas groß; denn ein solches Bubenstück ist schon manchem gelungen, ohne daß er einen Bund mit dem Teufel geschlossen, einen Hexentrank verschlungen oder Geschenke der Hölle angewendet hätte, um dem armen Kinde die Augen zu verblenden. Ist es daher zu verwundern, daß so viele, unbefriedigt von einem solchen Resultate, sich gleichsam von der Handlung losreißen, eine hohe Idee hinter derselben suchen, jede Scene, ja jedes Wort symbolisch nehmen, und es nach der Idee des Ganzen erklären oder deuten?

»Alles, was Sie da vorbringen, kann nichts gelten. In der Poesie giebt es keine Widersprüche. Diese sind nur in der wirklichen Welt, nicht in der Welt der Poesie.[71] Was der Dichter schafft, das muß genommen werden, wie er es geschaffen hat. So wie er seine Welt gemacht hat, so ist sie. Was der poetische Geist erzeugt, muß von einem poetischen Gemüth empfangen werden. Ein kaltes Analysiren zerstört die Poesie und bringt keine Wirklichkeit hervor. Es bleiben nur Scherben übrig, die zu nichts dienen und nur incommodiren.«

Eben deßwegen habe ich alles Räsonniren verworfen, und nehme die Handlung rein und lauter, wie sie dargestellt, und jedes Wort, wie es gesprochen worden ist.

»Aber Sie nehmen nur immer die einzelnen Scenen, Sprüche, Wörter, und wollen von dem Ganzen nichts wissen.«

Weil es dem Dichter nicht gefallen hat, uns ein Ganzes zu geben. Wir haben ja nur Bruchstücke.

»Aber eben weil es Bruchstücke sind, müssen sie ja zu einem Ganzen gehören, und im Ganzen poetisch aufgefaßt werden.«

Ich gestehe, daß dazu eine größere poetische Empfänglichkeit gehören würde, als deren ich mich rühmen kann. Sollte es dem Dichter gefallen, einmal das Ganze vorzulegen, so werde ich gewiß versuchen, dieses Ganze in mich aufzunehmen, und die Idee zu erkennen, von welcher er bei seiner Schöpfung ausgegangen ist. Nur würde es mir sehr wehe thun, wenn irgend Etwas von diesem Fragmente, das mir so wohl bekannt und so lieb geworden ist, in dem Ganzen verloren ginge.[72]

»Wie könnten aber diese Bruchstücke in einem Ganzen verloren gehen, aus welchem sie herausgenommen sind? Sie werden in demselben als organische Theile erscheinen und erst ihre wahre Bedeutung erhalten.«

Diese Äußerung Ew. Excellenz scheint zu beweisen, daß das Ganze schon wirklich vorhanden ist. Aldann würde ich mich unendlich freuen, wenn es bald erschiene, und durch die Erscheinung würde auch allem Streit ein Ende gemacht werden.

»Es ist vorhanden, noch nicht alles geschrieben, aber gedichtet. – Nun? Sie schweigen? Sie sehen mich ungläubig an?«

Wie könnte ich wagen, den Worten Ew. Excellenz meinen Glauben zu versagen? Ich bin nur überrascht und muß beschämt meinen Irrthum und meine Schwäche bekennen.

»Wie so? – Beichten Sie einmal!«

Da Ew. Excellenz die Gnade gehabt haben, mir so lange geneigtest zuzuhören, daß ich selbst betreten bin über alles, was ich zu sagen mir erlaubt habe, so will ich denn auch ehrlich bekennen, daß ich wirklich oft, weil ich es glaubte, auch behauptet habe, dieses sogenannte Fragment gehöre keinesweges einem Ganzen an, aus welchem es als Bruchstücke, gleichsam zur Probe mitgetheilt wäre und sei auch nicht im Geist eines Ganzen gedichtet, ja es sei kein dramatisches Werk, möge man es eine Tragödie nennen oder anders, das irgend eine Idee, irgend einen Gedanken, abgerundet[73] und vollendet darstellen und zur Anschauung bringen solle, – es sei kein solches dramatisches Werk möglich, in welches diese Bruchstücke dergestalt eingefugt werden könnten, daß sie als organische Theile des Ganzen, ergänzend und ergänzt, erscheinen könnten. Allerdings könnten noch viele Scenen hinzugefügt werden, im Anfang, am Ende, in der Mitte, diese Scenen würden ohne Zweifel von demselben hohen Dichtergeiste Zeugniß geben, der uns aus dem gegenwärtigen »Faust« so gewaltig anspräche, auch möchten sie durch die Namen Faust, Mephistopheles, Gretchen, Wagner mit dem vorliegenden Fragment in Verbindung gebracht werden können und uns bekannte Gestalten zeigen, aber sie würden immer nur an die Handlungen des Fragmentes und aneinander gereihet sein, und niemals würde ein Ganzes entstehen, das sich, wie von innen heraus, wie organisch gebildet, darstellte. Die Gründe, auf welche ich diese Behauptung stützte, liegen in dem, was ich früher gesagt habe, und mir schien die Behauptung auf diesen Gründen allerdings ziemlich festzustehen. Nach dem aber, was Ew. Excellenz so eben zu versichern die Gnade gehabt haben, muß ich allerdings einräumen, daß ich im Irrthume gewesen bin, aber Sie werden mir auch gewiß verzeihen, wenn ich bekenne, daß ich nur durch die Erscheinung des ganzen »Faust« selbst von meinem Irrthum völlig geheilt werden kann.

»Es ist Ihnen nicht zu verargen, daß Sie sehen und nicht glauben wollen. Wie aber haben Sie sich[74] denn die Entstehung des ›Faust‹ gedacht? Habe ich Sie recht verstanden, so sind Sie der Meinung gewesen, und sind noch der Meinung, daß der Dichter gar nicht gewußt hat, was er wollte, als er die Dichtung begann, sondern daß er aus das Gerathewohl, daß er in das Blaue hinein gedichtet und sich nur des Namens ›Faust‹ wie einer Schnur bedient habe, um die einzelnen Perlen aufzuziehen und vor der Zerstreuung zu bewahren.«

Es bleibt mir nur übrig, Ew. Excellenz einfach und kurz zu erzählen, wie mir durch häufiges Lesen des »Faust« die Sache erschienen ist. Der Dichter kannte die Sage vom Faust, wohl auch ein Puppenspiel; zugleich ward er, vielleicht sehr früh, veranlaßt, sich in Schriften, die Magie, Alchymie und andere geheime Wissenschaften betreffend, umzusehen. Hierauf kam er als Student nach Leipzig und sah in Auerbach's Keller das alte Bild, auf weichem, wie mir erzählt worden ist, Faust auf einem Fasse reitend den Keller verläßt. Dieses Bild ergötzte ihn bei seinen Kenntnissen des Faust. Nun mag ein wildes Studentengelag in Auerbach's Keller hinzugekommen sein, von welchem der Dichter Zeuge war, von welchem er jedesfalles unterrichtet wurde. So ward er veranlaßt, einen Scherz zu machen, das Gelag und Fausts Erscheinung im Keller zu verbinden und theils wahr und theils ergötzlich darzustellen. Die Scene in Auerbach's Keller schien mir zu allererst geschrieben zu sein; sie ist so[75] frisch, so lebendig, so jugendlich, so burschikos, daß ich geschworen haben würde, sie sei in Leipzig von dem Dichter-Studiosus geschrieben oder gedichtet worden. Die zweite Scene, die nach dem Auftritte im Keller gedichtet worden, schien mir der Auftritt zwischen dem Schüler und Mephistopheles. Diese Scene ist gleichfalls so frisch, so lebendig und wahr, daß sie nur aus der unmittelbaren Anschauung des Lebens und Treibens auf der Universität, wie es gewesen, wie es wohl hier und dort auch noch ist, hervorgegangen sein muß. Hat man die Universität nur einige Jahre verlassen, so denkt man kaum noch an das Collegium logicum und an die rastlose Heftschreiberei des Trosses der Studirenden. Das Gespräch mit dem Schüler aber konnte Faust nicht führen, nur Mephistopheles durfte solche höhnende Bezeichnungen der Wissenschaften aussprechen; um daher den Schüler mit dem Mephistopheles zusammen zu bringen, war die Scene zwischen diesem und Faust nothwendig, welche jenem Gespräche vorausgeht. Diese schien mir daher als die dritte der Dichtung, nach der Zeit berechnet. Und nun sind die übrigen nach und nach entstanden, so wie irgend ein Vorgang im Leben den Dichter reizte oder beschäftigte. So mag die Verführung eines Mädchens Veranlassung zu der Schöpfung der lieben, unschuldigen und unglücklichen Margarethe gegeben haben, die ich, trotz ihrer garstigen und rauhen Hände, von welchen sie selbst spricht, schön nennen würde, wenn man sich auf des[76] Doctors Geschmack verlassen könnte; in diesem Doctor aber regt sich, seit er den Hexentrank verschlungen hat, Cupido, und springt hin und wieder, und des Mephistopheles schnödes Wort


Du siehst mit diesem Trank im Leibe

Bald Helenen jedem Weibe


schreckt zurück. Und um aus dem alten Pedanten einen Galan zu machen, der um Margaretha mit Glück freien durfte, war die Hexenküche nothwendig, und um Margaretha ins Garn zu locken, mußte die Nachbarin Martha hereingezogen werden. Zuletzt von Allem schien mir der Monolog gedichtet zu sein, mit welchem Faust das Fragment eröffnet; der Hans Lüderlich sollte zu Ehren gebracht, es sollte ihm ein Empfehlungsschreiben an die Welt mitgegeben werden, damit man ihn zuließe, auch in honnete Gesellschaft.

»Nun, nun, das ist auch eine Meinung, und eine Meinung, die schon bestritten, vielleicht schon widerlegt ist. Sie gäbe Stoff zu neuen Gesprächen oder zur Fortsetzung des gegenwärtigen. Wir wollen indeß für dieses Mal abbrechen, und den Gegenstand nicht wieder aufnehmen, bis die ganze Tragödie vorliegt.« –

So weit habe ich Goethes Unterhaltung mit mir, wenige Tage nach derselben, aufgeschrieben, und hier nur einiges, im Besondern einzelne Namen, ausgelassen, und einige Sätze abgekürzt. Als jetzt eine kleine Pause entstand und ich Goethen bestimmter ins Angesicht schauete, kam mir vor, als ob seine Züge weniger[77] freundlich seien, als früher. Zwar hatte ich auch während des Gespräches zuweilen bemerkt, daß seine Augen stark hin und her rollten, aber das war auch am vorigen Abende bei der heitersten Stimmung der Fall gewesen, und darum hatte ich weder auf dieses Rollen, noch auf eine Veränderung der Stimme zum Kurzen und Scharfen hin geachtet. Jetzt fiel mir sein Gesicht etwas auf, und diese Bemerkung brachte eine kleine Unruhe in mir hervor. Als er nach einigen Augenblicken von neuem das Wort nahm, zeigte sein Gesicht abermals eine große Freundlichkeit, aber es war derselben ein Zug beigemischt, den ich weder jetzt zu benennen weiß, noch damals zu deuten wußte. Indeß sammelte ich mich und faßte den Entschluß, mich in keiner Weise verblüffen zu lassen, überall bescheiden nachzugeben, aber auch jedesfalles auf dem Weg fortzuwandeln, den ich einmal eingeschlagen hatte, oder vielmehr, auf den ich, ohne zu wissen wie, gerathen war. Und bald nach dem Beginne des Gespräches kam mir vor, als habe er die Absicht, mich einwenig zu necken, um zu versuchen, ob ich fest, und wie fest ich im Sattel säße. Das schien mir aus den Wendungen seiner Fragen und Einwürfe hervor zu gehen, welche letztere mir zuweilen etwas wehe thaten, mir, einem jungen Manne, der ich, wie ich wohl sagen darf, begeistert war für meinen neuen Beruf, und große Dinge erwartete von meiner künftigen akademischen Wirksamkeit. Goethe begann:[78]

»Ja, wir haben lange geplaudert. Und doch sind wir noch gar nicht auf das gekommen, worüber ich mich mit Ihnen zu unterhalten gedachte, auf Ihr eigenes Vorhaben, auf Ihr Thun und Treiben. Sie wollen also – Geschichte lehren? wollen ein – Historiker werden? oder vielmehr sind ein – Historiker?«

Meine Absicht ist allerdings, einen Versuch zu machen, Geschichte zu lehren: Ob es mir gelingen werde, Theilnahme zu finden oder zu erregen, ist eine andere Frage. Übrigens würde das eine unverzeihliche Anmaßung sein, wenn ich sagen wollte, ich sei ein Historiker, dagegen leugne ich nicht, daß es mein heißester Wunsch ist, einst diesen hohen Namen zu verdienen. Und an Fleiß und Anstrengung soll es gewiß nicht fehlen; der Erfolg liegt in Gottes Hand.

»Warum sollte das Lehren der Geschichte Ihnen nicht gelingen? Sie haben eine reine, wohlklingende Stimme und gute Manieren; Sie werden gut erzählen und das Erzählen ist leicht. Und wer hört nicht gern guten Erzählungen zu? Das Kind liebt es, sich was erzählen zu lassen, und der Greis hat noch dieselbe Lust oder dieselbe Schwachheit, gleichviel. Und warum wollten Sie sich gegen den ›hohen‹ Namen eines Historikers sperren? Ein jeder, der sich mit der Historia beschäftigt, ist ein Historicus.«

Die Worte Ew. Excellenz sind eben nicht sehr ermunternd für einen jungen Mann, der entschlossen ist,[79] sein Leben der Geschichte zu widmen, der Forschung, dem Lehren, der Darstellung.

»Warum nicht? Ich dächte, ich hätte einen heiteren Glanz auf diese heilige Dreieinigkeit geworfen.«

Eine Erzählung, welcher Jung und Alt ein geneigtes Ohr leiht, die Erzählung einer Anekdote nämlich, mag leicht sein, und doch giebt es nicht viele Menschen, die eine Anekdote gut zu erzählen wissen; die Erzählung großer und complicirter Ereignisse und Begebenheiten hingegen, wie sie im Leben der Völker und Staaten vorkommen, hat denn doch wohl einige Schwierigkeiten, die nicht oft überwunden werden. Wenigstens wüßte ich nicht, daß es viele große Lehrer der Geschichte gegeben hätte, d.h. solche Lehrer, welche die Gegenstände der Geschichte klar und anschaulich zu entwickeln und ein lebendiges Interesse in ihren Zuhörern zu erregen und zu erhalten verstanden hätten. Und alsdann ist ja auch die bloße Beschreibung geschichtlicher Dinge oder die bloße Erzählung der Begebenheiten nicht die Hauptsache bei dem Lehren der Geschichte, es soll vielmehr durch die Erzählung der Sinn und die Bedeutung der Begebenheiten erkennbar gemacht werden. Was aber das Studium der Geschichte betrifft, so ist dasselbe, weil das Feld unermeßlich ist, gewiß das schwierigste von allen Studien.

»Zu dieser Meinung sind Sie wohl zunächst gekommen, weil Sie sich am meisten mit der Geschichte beschäftigt haben. Wäre Mephistopheles gegenwärtig,[80] so würde er etwa folgenden Knittelreim pathetisch herdeclamiren:


So war es schon in meinen Tagen,

Ein Jeder schlägt gar hoch sich an,

Und würdest Du sie alle fragen:

Das Wichtigste hat Er gethan.


Es lastet schwer die schwere Last,

Die selber Du zu tragen hast,

Und ob ein Andrer ächzt und keucht,

Für Dich ist seine Bürde leicht.1


Ganz unwahr mag der Spruch nicht sein; und vielleicht hält darum z.B. jeder Philosoph seine eigenen Gedanken für die richtigsten, ja sein eigenes System für das einzig wahre, weil er beides nur mit großer Mühe zu Tage gefördert hat, während er fremde Gedanken bequem vom Blatte ablieset. In Beziehung auf die Geschichte indeß bin ich doch der Meinung des guten Wagner, daß schon die Mittel schwer zu erwerben sind, womit man zu den Quellen steigt, und weiß gar wohl, daß die Zahl dieser Quellen, zu welchen man steigen muß, nicht gering ist. Es ist doch auch viel vorgearbeitet, viel gethan. Die meisten Quellen sind längst durchforscht; was sie an reiner Fluth enthielten, ist ausgeschöpft, nur trübes Wasser zurückgeblieben.«[81]

Es wäre aber doch möglich, daß die Forscher das Wasser auch zuweilen getrübt hätten, und daß man, würde dasselbe abgeklärt, neue Entdeckungen machen würde. Auch dürfte noch manche Quelle nicht durchforscht und ausgebeutet sein.

»Und wenn Sie nun auch alle Quellen zu klären und zu durchforschen vermöchten, was würden Sie finden? Nichts anderes als eine große Wahrheit, die längst entdeckt ist, und deren Bestätigung man nicht weit zu suchen braucht; die Wahrheit nämlich, daß es zu allen Zeiten und in allen Ländern miserabel gewesen ist. Die Menschen haben sich stets geängstigt und geplagt, sie haben sich unter einander gequält und gemartert, sie haben sich und anderen das Bischen Leben sauer gemacht, und die Schönheit der Welt und die Süßigkeit des Daseins, welche die schöne Welt ihnen darbietet, weder zu achten noch zu genießen vermocht. Nur wenigen ist es bequem und erfreulich geworden; die meisten haben wohl, wenn sie das Leben eine Zeit lang mitgemacht hatten, lieber hinausscheiden, als von neuem beginnen mögen. Was ihnen noch etwa einige Anhänglichkeit an des Leben gab oder giebt, das war und ist die Furcht vor dem Sterben. So ist es, so ist es gewesen, so wird es wohl auch bleiben. Das ist nun einmal das Loos der Menschen. Was brauchen wir weiter Zeugniß«?

Ich sah Goethe an; er machte ein sehr ernstes Gesicht. Dennoch antwortete ich halb lachend:[82]

Ich kann unmöglich glauben, daß dieses Ew. Excellenz eigene Meinung sei. Mir kommt vor, Mephistopheles habe abermals gesprochen. (Goethe lächelte.) Wenn auch viele Menschen in alten und neuen Zeiten so gelebt haben mögen, so ist deßwegen ein solches Leben noch nicht das Loos der Menschen, und das Loos der Menschen ist auch nicht das Schicksal der Menschheit.

»Die Menschheit? Das ist ein Abstractum. Es hat von jeher nur Menschen gegeben und wird nur Menschen geben.«

Das Wort bezeichnet, denke ich, den Menschengeist, wie derselbe sich in dem gesammten Leben der Menschen entwickelt und offenbart. Das Abstractum muß daher von dem Leben der Menschen abstrahirt werden. Im Leben der einzelnen Menschen kann das Wesen und der Geist nicht erkannt werden, weil es unübersehbar ist; es ist nur zu erkennen im Leben der Völker, in den gesellschaftlichen Verhältnissen der Menschen. Wer den Geist eines Volkes erkennt, wie derselbe sich in dem Leben des Volkes gezeigt hat, der hat das Wesen des Lebens aller Menschen erkannt, die zu diesem Volke gehörten. Und der Gesammtgeist aller Völker ist die Menschheit.

»Es ist mit den Völkern, wie mit den Menschen. Die Völker bestehen ja aus Menschen. Auch sie treten ins Leben, wie die Menschen, treiben's, etwas länger, in gleich wunderlicher Weise, und sterben gleichfalls entweder eines gewaltsamen Todes, oder eines Todes[83] vor Alter und Gebrechlichkeit. Die Gesammtnoth und die Gesammtplage der Menschen ist eben die Noth und die Plage der Völker.«

Aber, wie Menschen späteren Menschen, so lassen Völker späteren Völkern etwas zurück, das nicht mit ihnen stirbt.

»Sie lassen etwas zurück? Freilich. Mephistopheles würde vielleicht in seiner Weise sagen:


Was Völker sterbend hinterlassen,

Das ist ein bleicher Schattenschlag:

Du siehst ihn wohl, ihn zu erfassen,

Läufst Du vergeblich Nacht und Tag.


Und vielleicht setzte er gutmüthig warnend hinzu, der Schalk:


Wer immerdar nach Schatten greift,

Kann stets nur leere Luft erlangen;

Wer Schatten stets auf Schatten häuft,

Sieht endlich sich von düstrer Nacht umfangen.«


Der Schatten, den ein Volk wirst, es mag blühen oder zu Grunde gehen, fällt zurück, nicht vorwärts; er fällt auf die früheren Völker und nicht auf uns, die späteren Enkel, oder wir müßten uns freiwillig und einfältig zugleich hineinstellen. Was uns ein Volk hinterläßt, wenn es nicht überhaupt ohne Nachlaß verscheidet, ist der Geist seines Lebens. Wir müssen uns nur bemühen, die Erbschaft gehörig zu würdigen und zu benutzen, und uns nicht mit dem Inventario begnügen. Wir müssen die Geschichte des Volkes studiren,[84] und was sie zeigt, verwenden; denn die Geschichte eines Volkes ist das Leben des Volkes.

»Die Geschichte eines Volkes, das Leben des Volkes? Das ist kühn! Wie wenig enthält auch die ausführlichste Geschichte, gegen das Leben eines Volkes gehalten? Und von dem Wenigen, wie Weniges ist wahr? Und von dem Wahren, ist irgend etwas über allem Zweifel hinaus? Bleibt nicht vielmehr alles ungewiß, das Größte, wie das Geringste? Daher scheint doch das Wort von Faust festzustehen:


Die Zeiten der Vergangenheit

Sind uns ein Buch mit sieben Siegeln?«


Gewiß, Ew. Excellenz! so weit hat der Dichter vollkommen Recht; er würde aber Unrecht gehabt haben, wenn er hinzu gesetzt hätte, daß auch nur eins dieser sieben Siegel unlösbar wäre.

»Lösbar sind sie vielleicht; es fehlt aber das Instrument, sie zu sprengen.«

Ich möchte doch glauben, daß dieses Instrument nicht fehle. Wir vermögen sogar an jedes geschichtliche Werk, an jede Überlieferung einen dreifachen Hebel anzulegen: die Kenntniß der Zeit, die jener Zeit vorausgegangen ist, von welcher die Überlieferung berichtet; die Kenntniß der Zeit, die jener Zeit nachfolgte und gleichsam ein Product derselben gewesen; und endlich die Wahrheit, die jede Überlieferung theils durch ihr bloßes Dasein, theils durch ihre Eigenthümlichkeiten der Ansicht, der Auffassung, der Darstellung, in sich trägt.[85] Der Stützpunkt für jeden dieser Hebel ist die menschliche Natur, das Gewicht der eigene Geist des Forschers.

»Ihre Ausdrücke erinnern mich daran, daß Sie vorhin sagten, Sie wären von Thibaut für die Mathematik gewonnen worden. Haben Sie sich mit dieser Wissenschaft viel beschäftigt?«

Einige Jahre hindurch nach Zeit und Umständen ziemlich viel. Ich habe sogar selbst ein mathematisches Buch geschrieben, das ich bald, wie einen verlorenen Sohn, in die Welt hinein laufen zu lassen gedenke.

»Um so mehr wundert mich, daß Sie diese erste aller Wissenschaften, in welcher Alles Gewißheit und Wahrheit ist, verlassen haben, um sich auf der Bahn der Geschichte zu versuchen, die bei jedem Schritte schwankt, und in einer Arbeit zu verharren, in welcher Sie, selbst mit drei Hebeln, nichts zu Tage fördern werden, das Ihnen nicht streitig gemacht werden könnte. Gewiß hat Johannes Müller Sie zu dieser Veränderung bestimmt.«

Johannes Müller hat allerdings einen großen Einfluß auf mich gehabt. Er hat mich schneller zum Entschlusse gebracht. Aber auch ohne ihn würde ich mich für die Geschichte entschieden haben. Ich habe schon die Ehre gehabt, Ew. Excellenz zu sagen, daß die Geschichte meine erste Liebe gewesen sei, und die erste Liebe hält fest. Auch haben meine Verhältnisse mir nicht verstattet, mich z.B. durch die Beobachtung der Wunderwerke des Himmels zu ergötzen oder zu erbauen,[86] oder nur auf der Erde mich einer bedeutenden Anwendung meiner theoretischen Kenntnisse zu erfreuen, und bei dem beständigen Verkehren mit Zahlen, Buchstaben und Figuren ist mir, ich muß es gestehen, begegnet, was Mephistopheles dem Schüler bei seiner Gottähnlichkeit weissagt: es ist mir bei aller Wahrheit und Gewißheit recht herzlich bange geworden.

»Giebt denn Ihnen die Geschichte, bei aller Ungewißheit, mehr Befriedigung, als die Wahrheit der Mathematik?«

Freilich! Die Geschichte ist gleich befriedigend für den Geist und das Herz, für den Verstand und das Gemüth, und zugleich regt sie die Phantasie allgewaltig auf und treibt, wie zum Denken, so zum Dichten. Auch wüßte ich nicht, warum eine geschichtliche Wahrheit weniger wahr sein sollte, als eine mathematische.

»Gewiß! nur kommt es darauf an, die Wahrheit herauszubringen. Könnte man die geschichtliche Wahrheit demonstriren, wie die mathematische, so wäre aller Unterschied verschwunden; so lange man das nicht kann, so lange wird wohl ein Unterschied bleiben, nicht zwischen dem, was wirklich wahr ist, sondern zwischen dem, was hier als wahr demonstrirt, dort als wahr angenommen wird. Was wirklich Geschichte ist, das ist auch wirklich wahr.«

»Aber nicht alles ist wirklich geschehen, was uns als Geschichte dargeboten wird, und was wirklich geschehen,[87] das ist nicht so geschehen, wie es dargeboten wird, und was so geschehen ist, das ist nur ein geringes von dem, was überhaupt geschehen ist. – Sie wissen ohne Zweifel, warum Sir Walter Raleigh seine Geschichte nicht fortgesetzt, sondern das Manuscript ins Feuer geworfen hat?«

O, ja, Ew Excellenz! Er that es, wie die Anekdote sagt –

»Er sagt es selbst.«

Das hab ich nicht gewußt; denn ich muß bekennen, daß ich noch nichts von Sir Walter gelesen habe. Dieser also warf die Handschrift ins Feuer, weil er Augenzeuge eines Vorganges gewesen war, den andere Augenzeugen, abweichend von einander, auch ganz anders erzählten, als er denselben selbst wahrgenommen hatte.

»Das ist uns anderen wohl auch schon ebenso gegangen, und es wird in früheren Tagen nicht anders gewesen sein.«

Mich wundert nur, daß Sir Walter eine besondere Erfahrung nöthig gehabt hat, um die Entdeckung zu machen, daß verschiedene Menschen jeden Gegenstand verschieden auffassen. Schon das alte Sprichwort: Duo, quum faciunt idem, welches doch gewiß ebensowohl vom Anschauen und Erzählen, als vom Handeln gilt, hätte ihm ja die große Wahrheit lehren können, und das Lesen mehrer Geschichtschreiber, welche denselben Gegenstand darstellen, hätte dieselbe bestätigen[88] mögen. Also, meine ich, hätte er sein Werk niemals anfangen, oder hätte es auch fortsetzen sollen.

»Sir Walter wußte gewiß längst, was wir alle wissen; er war aber in dem alten Schlendrian fortgegangen. Jetzt nun, als er den Vorfall vor seiner Wohnung mit eigenen Augen angesehen und alsdann die verschiedenen, abweichenden, unwahren Erzählungen vernahm, jetzt trat ihm plötzlich der Gedanke, daß es keine Wahrheit in der Geschichte gebe, in die Seele, und sogleich faßte er in seinem Unmuth den Entschluß, nicht ferner mitzuwirken zur Erhaltung und Verbreitung des Truges, nicht ferner seinen Zeitgenossen von der Welt der Vergangenheit ein falsches, ein lügenhaftes Bild vorzuhalten.«

Er muß aber doch, wie mir scheint, eine wunderliche Vorstellung von der Wahrheit der Geschichte gehabt haben; denn es versteht sich ja von selbst, daß der Historiker von den Begebenheiten und Ereignissen früherer Zeiten nichts anderes wissen kann, als was uns überliefert worden ist. Wenn er dieses redlich erforscht und ehrlich wiedergiebt, so, denk' ich, ist er alles Truges frei.

»Aber der Trug bleibt. Er ist nicht Urheber der Lüge, aber der Verbreiter; nicht der Dieb, aber der Hehler. Die Lüge fällt nur auf eure sogenannten Quellen-Schriftsteller zurück.«

Wenn diese Schriftsteller ehrlich und redlich aufgezeichnet haben, was sie wahrnahmen oder was zu[89] ihrer Kenntniß kam, so sind sie ebenso frei von Lug und Trug. Sie konnten nicht mehr geben, als sie hatten.

»Die Lüge bleibt immer; sie ist nur abermals zurückgeworfen, und zurückgeworfen auf die Sache selbst, und wir bekommen stets ein unwahres, ein verzerrtes, ein schiefes und falsches Bild von der früheren Welt. Und besser wäre doch wohl, sich gar nicht um die Vergangenheit zu kümmern, als falsche, also unnütze und verwirrende Vorstellungen von derselben mit uns herumzutragen. Dadurch werden wir nur verführt, auch die Welt, in welcher wir leben, falsch aufzufassen und verkehrt in ihr und auf sie zu wirken.«

Das wäre, wenn es so wäre, gewiß sehr schlimm; aber es würde auch zu dem Loose der Menschen gehören, und wir würden genöthigt sein, es zu tragen. Aber so ist es nicht. Die Abweichungen in den Erzählungen sind keineswegs sofort als falsche Angaben zu bezeichnen; sie entstehen vielmehr meistens daraus, daß der Eine etwas Anderes von dem Vorgange aufgefaßt hat, als der andere. Manches liegt auch in den Worten. Über den Ursprung und den Zusammenhang mögen Irrthümer vorkommen, weil weder jener noch dieser in die Augen fallen, sondern aus allgemeinen Notizen, aus Gerüchten, aus Vermuthungen erschlossen werden müssen. Zuweilen täuschen auch die Sinne, nach der Stellung der Zeugen. Dieser hält für schwarz, was dem Anderen als blau vorkommt und[90] was dem dritten als grün erscheint. Über die eigentliche Thatsache aber, über das, was zunächst unser Interesse erregen muß, und was für spätere Ereignisse von der größten Bedeutung ist, weil es dieselben erzeugt oder bedingt, pflegen die verschiedenen Zeugen nicht von einander abzuweichen. Napoleons Bülletin mag etwas ganz anderes enthalten, als die österreichischen und russischen Berichte, und die Erzählungen der Officiere und Soldaten in den verschiedenen Heeren mögen vom Bülletin und von den Berichten abweichen, über die Thatsachen, die entscheidend sind und, weil sie entscheidend sind, der Geschichte angehören, über die Thatsachen, daß am 2. December 1805 eine Schlacht zwischen dem französisch-deutschen und dem russisch-österreichischen Heere bei Austerlitz stattgefunden, daß die Franzosen den Sieg gewonnen, daß die Russen sich nach Schlesien zurück gezogen, daß der Kaiser Franz hierauf im französischen Lager mit Napoleon eine Unterredung gehabt habe, daß hierauf zuerst ein Waffenstillstand und weiter ein Friede zu Preßburg abgeschlossen worden – über diese Thatsachen sind alle Nachrichten ebenso einig, als die Bedingungen des Friedens außer allem Zweifel stehen. Und so möchte ich gleichfalls glauben, daß selbst wegen des Ereignisses vor Raleigh's Wohnung die übrigen Augenzeugen mit ihm selbst und unter einander in vielem übereingestimmt haben: Ort, Zeit, Parteien (falls es Parteien gab), Ausgang und Folgen sind ohne Zweifel von allen auf gleiche Weise angegeben. Nun[91] will ich zwar keineswegs behaupten, daß die übrigen Erscheinungen, welche bei einem Ereigniß, z.B. bei der Schlacht von Austerlitz, vorkamen, ohne Bedeutung wären, und daß man deßwegen die Verschiedenheit der Angaben über dieselben auf sich beruhen lassen könnte, aber einen festen Anhalt gewähren doch jene Thatsachen unleugbar. Sie sind die Knochen, das Gerippe des Körpers, in einem besonderen Falle der Begebenheit, überhaupt der Geschichte. Die verschiedenen Angaben über die übrigen Erscheinungen, unter welchen und in welchen jene feststehenden Thatsachen stattfanden, hat der Historiker zuerst kritisch auf ihren wahren Werth zurückzuführen; er hat sie unter einander und mit den Thatsachen zu vergleichen; er hat sie, nach seinen Kenntnissen von der Lage und der Natur der Länder, von der Stellung der Völker zu einander, von der früheren und späteren Geschichte, von dem inneren Zustande der Staaten, von den Charakteren und den Gesinnungen der handelnden Menschen zu prüfen, und alsdann wird die Ungewißheit verschwinden, und dasjenige wird sich als die Wahrheit herausstellen, was er als geeignet zu Nerven, Fasern, Muskeln, Mark und Haut für jenes Gerippe erkennt, um dasselbe mit schaffendem Geist und künstlerischer Hand als einen lebendigen Leib hinzustellen.

»Das wird freilich eine große Operation sein, aber was der Historiker nach solcher Plage für Wahrheit hält, ist immer nur für ihn, ist nur subjective[92] Wahrheit; unbestreitbare, objective Wahrheit ist es nicht.«

Fichte beantwortete die Frage des Pilatus: was ist Wahrheit? – einmal mit folgenden Worten: Wahrheit ist, was nothwendig so gedacht werden muß, wie es gedacht ist, was schlechthin nicht anders gedacht werden kann.

»Nämlich von Fichte oder von mir. Also hat ein jeder seine eigene Wahrheit. Die mathematische Wahrheit aber ist für Alle dieselbe.«

Fichte erläuterte seinen Satz mit mathematischen Beispielen. Zwei zweimal gesetzt sei vier, weil es unmöglich sei, die Sache anders zu denken, sobald man nur wisse, was zwei und was vier. Er habe, sagte er, das Lachen nicht lassen können, als ihm zum ersten Male demonstrirt worden sei, daß vier Einheiten nicht mehr getrennt, sondern vereint gedacht, eben vier seien; denn das, habe er gemeint, verstehe sich ja von selbst und könne gar nicht anders gedacht werden. Und so würde alles, was nicht anders gedacht werden könne, nothwendig allgemein als Wahrheit erkannt werden, sobald es nur allgemein verstanden würde.

»Da eben liegt es. Der Unterschied ist, daß die Mathematik jeden Menschen zwingen kann, anzuerkennen, daß alle rechte Winkel gleich sind, daß Sie hingegen in historischen Dingen mich niemals zwingen können, Ihrer Meinung zu sein.«

Nein, aber ich glaube doch, daß ich jeden von der[93] Wahrheit zu überzeugen im Stande sein würde, der nicht etwa entschlossen wäre, sich nicht überzeugen zu lassen. Und das scheint mir ein Vorzug. Der Mathematiker zwingt die Menschen, die Wahrheit seiner Sätze anzunehmen, er unterwirft die Geister einem gewissen Fatalismus, bei welchem keine Freiheit der Entschließung möglich ist. Der Historiker läßt die Geister frei; er wendet sich an den ganzen Menschen, an Verstand, Herz und Gemüth, und will nur die freie Überzeugung gewinnen.

»Man braucht wahrlich nicht den Widerspruch zu seinem Grundsatze gemacht zu haben, um den Gang der Dinge anders zu denken, als sie uns überliefert oder von irgend einem Historiker dargestellt worden sind oder dargestellt werden können. Und so lange dieses der Fall ist, so lange wird es verstattet sein, die Geschichte des Irrthums zu zeihen, und ihre Überlieferungen als falsch anzusehen.«

Es leidet gar keinen Zweifel, daß auch der gelehrteste, redlichste, scharfsinnigste und geistreichste Historiker in Irrthümer verfallen kann, ja daß er in Irrthümer verfallen muß, weil auch er seinen Theil von dem allgemeinen Loose der Menschen zu tragen hat. Das ist aber auch kein Unglück. Lessing verbat sich ja die Wahrheit; er hielt das Suchen nach Wahrheit dem Menschen für zuträglicher, als die Wahrheit selbst. »Wenn,« sagt er irgendwo, »der liebe Gott vor mich hinträte und zu mir spräche: in der rechten Hand halte ich die Wahrheit,[94] in der linken den Irrthum; Lessing, wähle! so würde ich antworten: Vater, die Wahrheit ist für Dich, laß mir den Irrthum.« Und wenn nun auch ein Historiker in seinem redlichen Irrthume das Geschehene anders darstellt, als es geschehen ist, welcher Schaden ist zu fürchten? Das Geschehene wird dadurch nicht ungeschehen, daß ein Historiker es übergeht; es wird dadurch nicht verändert, weder in seinem Ursprunge, noch in seinem Wesen oder in seinen Folgen, daß ein Historiker es unrichtig ableitet, unrichtig verlaufen und unrichtig wirken läßt, sondern es behält in der Vergangenheit die Stelle, die es gehabt, nimmt den Raum ein, den es ausgefüllt, und kann den Einfluß aus die spätere Zeit nicht verlieren, den es einmal ausgeübt hat. Auch werden die Überlieferungen, welche ein Historiker unrichtig gedeutet und unrichtig benutzt hat, nicht zerstört, sondern sie liegen unverletzt für und für vor der Welt. Also kann ein anderer Historiker die Geschichte von Neuem bearbeiten und die Irrthümer des ersten berichtigen; und sollte er selbst in neue Irrthümer verfallen, so mag ein dritter hinzutreten, beide zurechtweisen und die Wahrheit herstellen, die er erkannt zu haben glaubt. Auf solche Weise kommt Leben in das Studium der Geschichte, Leben in die Geschichtschreibung, und der Geist findet Gelegenheit, sich zu üben und zu versuchen, desto öfter, je zahlreicher und je abweichender die Überlieferungen und die Bearbeitungen sind. Überlieferungen hingegen, wie Sir Walter[95] Raleigh sie gewollt zu haben scheint, nämlich eine vollkommene Übereinstimmung aller Zeugen nicht nur über die Hauptthatsachen, sondern auch über alle Umstände, über alle Erscheinungen, unter welchen die Thatsachen geschehen sind, würde den Tod in das Studium und in die Geschichtschreibung bringen, selbst wenn ihr Zeugniß eben so vollständig als einstimmig wäre. Wir hätten alsdann an Einer Überlieferung vollkommen genug, und die seelenvollste Wissenschaft würde zu einem langweiligen Gedächtnißkram hinabsinken, zu einer drückenden Masse von Namen, Zahlen und Notizen. Ein Gipsabdruck, von einer Leiche genommen, hat gewiß die größte Ähnlichkeit mit dem Bau des Gesichtes des Hingeschiedenen, aber es ist eine seelenlose Larve, die uns nimmer das Bild des Mannes gewähren wird, wie er dagestanden hat voll von Leben und Kraft. Viel lieber will ich die Büste besitzen, welche der Künstler mit freiem Geist und freier Hand geschaffen hat, um den Charakter des Mannes, seinen Geist und seinen Willen, ja sein ganzes Leben und Sein hineinzulegen; und es verdrießt mich nicht, daß etwa das Wärzchen fehlt, das jene Larve getreulich aufgenommen hat. So will ich auch in der Geschichtschreibung nicht die nackte, todte, aber treue Wirklichkeit, sondern eine lebensvolle, farbenreiche Welt, welche die unzweifelhaften Thatsachen unverkürzt und unentstellt darbietet, aber mit poetischem Geist aufgefaßt und mit künstlerischer Hand ausgearbeitet.

»Sie machen also den Historiker zum Dichter.«[96]

Da ich selbst noch nichts in der Geschichte geleistet habe, Ew. Excellenz, so darf ich ja wohl meine Meinung aussprechen; denn ich rede nicht pro domo mea. Ich glaube wirklich, daß Geschichte nicht würdig geschrieben werden könne, ohne eine wahre poiêsis, und daß Niemand ein Historiker sein könne im schönsten Sinne des Wortes, dem die schöpferische oder dichterische Kraft fehlt. Denn er muß ja die Welt der Vergangenheit vor Augen haben, in welcher die Ereignisse stattfanden, die er darstellen will, und die er nur in der Anschauung dieser Welt darstellen und in ihrer ganzen und ächten Bedeutung darstellen kann. Diese Welt aber wird ihm nicht zur Anschauung dargeboten, sondern er muß sie schaffen, um sie anschauen zu können.

»Wenn man auch dieses zugäbe, so würde doch ein großer Unterschied zwischen dem Dichter und dem Historiker bleiben. Der Dichter schafft seine Welt frei, nach seiner eigenen Idee, und darum kann er sie vollkommen und vollendet hinstellen, der Historiker ist gebunden; denn er muß seine Welt so aufbauen, daß die sämmtlichen Bruchstücke hineinpassen, welche die Geschichte auf uns gebracht hat. Deßwegen wird er niemals ein vollkommenes Werk liefern können, sondern immer wird die Mühe des Suchens, des Sammelns, des Flickens und Leimens sichtbar bleiben.«

Um so größer ist die Aufgabe des Historikers, um so schwieriger seine Arbeit, um so mehr verdient ein gelungenes geschichtliches Werk Dank, Ehre und Preis,[97] ein weniger gelungenes Nachsicht und Schonung. Auch darf nicht übersehen werden, daß der Dichter nur seine eigene Idee, so tief und groß, als die Kraft seines Geistes sie zu fassen vermag, darzustellen sucht, der Historiker aber die Idee Gottes, wie sie sich im Leben der Menschen offenbart hat.

»Am Ende steht Ihnen der Historiker über dem Dichter.«

Ja nicht, Ew. Excellenz! Ich kann mich überhaupt mit der Stufenleiter, auf welche man die Geister zu stellen pflegt, nicht recht vertragen, und möchte glauben, daß die Bahnen des Geistes nicht unter einander gebaut sind, sondern neben einander fortlaufen. Jedenfalls glaube ich, daß derjenige, der Tüchtiges in der Geschichte leistet, niemanden seine Stelle zu beneiden brauche.

»Wenn ich nun aber aus Ihren Bemerkungen über geschichtliche Forschung und Geschichtschreibung das Resultat ziehe, so scheint doch, mit Schillers Worten, der langen Rede kurzer Sinn zu sein, daß Faust recht habe:


Was man den Geist der Zeiten heißt,

Das ist im Grund der Herren eigner Geist,

In dem die Zeiten sich bespiegeln.«


Mit diesem classischen Spruche bin ich vollkommen einverstanden. Wenn uns aber die Herren Geist geben und wäre es auch der eigene, und wenn sie uns in diesem Geiste das Spiegelbild der Zeiten[98] zeigen, so können wir, denke ich, einigermaßen zufrieden sein.

»Aber nun doch noch eine Frage. Was wollen Sie denn zuletzt mit Ihrer Geschichte, mit allen diesen historischen Wahrheiten, Irrthümern, Dichtungen? Welches ist das endliche Ziel Ihrer Studien und Ihrer Bestrebungen?«

Das ist eine große Frage, Ew. Excellenz, die eine weitläufige Antwort nothwendig macht. In der Kürze wüßte ich sie in der That nicht besser zu beantworten als mit Faust's Worten:


– Was der ganzen Menschheit zugetheilt ist,

Will ich in meinem inneren Selbsterkennen.


»Genießen, wollen Sie sagen.«

Ew. Excellenz halten's zu Gnaden: ich möchte doch bei dem Erkennen bleiben, und mich mit dem Genusse begnügen, den etwa das Erkennen abwirft. Das Erkannte aber möchte ich alsdann durch Lehre und Schrift mittheilen. Übrigens darf ich wohl nicht hinzufügen, daß ich natürlich nur von meinem Wunsch und Willen gesprochen habe; das Vollbringen liegt nur zum kleinsten Theil in des Menschen Hand. Aber in magnis voluisse sat est.

»Ja, ja. Wir haben nunmehr Stoff zu vielen künftigen Unterhaltungen. Aber es ist schon weit am Tage, wir müssen's dießmal unterbrechen.«

Indem ich nun meine Entlassung zu nehmen gedachte, sagte ich ungefähr folgende Worte: Ich kann[99] nicht aussprechen, mit welchen Gefühlen ich von Ew. Excellenz scheide. Der gestrige Abend hatte mir die Brust mit der heitersten Freude angefüllt, und mit die ser Freude trat ich diesen Morgen bei Ihnen ein. Im Laufe des Gespräches aber ist ein Schatten in diese reine Heiterkeit gefallen, dem ich nicht auszuweichen vermocht habe, und der mich jetzt, da ich Ew. Excellenz verlassen soll, etwas stark zu incommodiren anfängt.

»Wie so, Lieber? Was ist denn das?«

Seit ich die Vocation nach Jena angenommen hatte, hat mich der Gedanke begleitet, daß mir nun auch das Glück beschieden sein möchte, nach welchem ich mich schon lange gesehnt hatte, das Glück, in die Nähe Ew. Excellenz zu kommen, Sie zu sehen, Sie zu sprechen. Und doch vermochte ich die Erfüllung dieses Wunsches nicht ohne große Ängstlichkeit zu denken. Zu meiner Sehnsucht mischte sich, bei meiner Verehrung und Be-wunderung des Fürsten der Dichter, ich möchte sagen, eine heilige Scheu. Ich fürchtete, daß ich, wenn mir einmal die Ehre zu theil werden möchte, Ew. Excellenz vorgestellt zu werden, wie ein Berauschter vor Ihnen erscheinen möchte, unbehülflich, hölzern, verwirrt, tölpelhaft. Der gestrige Abend hat mich nun über alle Verlegenheit rasch und glücklich hinweg gerissen, aber ich fürchte, er hat mich zu weit hinweggerissen; ich fürchte, daß ich heute gesprochen habe, wie ich nicht hätte sprechen sollen. Ich bin aber in die Rednerei hineingekommen,[100] ich weiß selbst nicht wie. Ich habe wohl gefühlt, daß ich nicht hätte hinein kommen sollen, da ich aber einmal hinein gekommen war, so vermochte ich mich nicht wieder hinaus zu finden. Was ich Irriges gesagt haben mag, das werden Ew. Excellenz gewiß nicht beachtet haben, aber ich bitte so unterthänig als herzlich, mir auch zu Gnaden zu halten, was etwa Ungebührliches und Ungehöriges vorgekommen ist.

»Ei, lieber Herr Professor, seien Sie darüber ganz ruhig. Wir haben unter vier Augen gesprochen, im Ernst und im Scherz, und ich wüßte nicht, was wir, einer dem anderen, vorzuwerfen oder übel zu nehmen hätten. Unser Gespräch hat mich interessirt und unterhalten, sonst würde es wohl auch nicht so lange gedauert haben. Ich habe in Ihnen einen jungen Mann kennen gelernt, der klar sehen will, der sich nicht durch hohle Worte verwirren und nicht durch Blendwerke irre führen läßt. Sie streben eifrig nach Wahrheit, ohne der Poesie entfremdet zu sein, selbst ihre täuschenden Gebilde mögen Sie wohl leiden. Das ist löblich und gut. In Ihrem wissenschaftlichen Treiben sind Sie auch auf gutem, auf dem rechten Wege. Fahren Sie fort, in der Geschichte zu leben und kühn in die vergangenen Zeiten zu schauen, ungestört von den Wirrungen der Gegenwart. Forschen Sie mit Anstrengung aller Kräfte in den Jahrbüchern der Völker; theilen Sie ehrlich und redlich mit, ohne alle Nebenabsicht, was Sie durch Ihre Forschung als wahr erkannt zu haben glauben, in Wort[101] und Schrift; in Ihrer Darstellung aber machen Sie sich frei von jedem Vorbilde, und geben Sie namentjede Hämmerung und Verrenkung auf, die an Johannes Müller, der selbst nur ein Nachahmer von Tacitus ist, erinnern könnte; überhaupt fröhnen Sie nicht der Geschmacklosigkeit der Zeit und verachten Sie die Weisheit, die in den s. g. literärischen Blättern altklug verkündigt zu werden pflegt. Schreiben Sie vielmehr klar und einfach, ohne Scheu vor einem poetischen Anflug, und ziehen Sie eine bequeme Entwickelung der geschraubten Kürze vor, die man schlagend zu nennen und hoch zu bewundern pflegt. Sie werden späteren Geschlechtern gefallen, wenn Sie auch den Tadel Ihrer Zeitgenossen zu erdulden haben sollten. Jedenfalls hoffe ich von Ihrer Anstellung in Jena Gutes für Sie selbst und für die Universität. Und nun« (mir die Hand reichend) »leben Sie recht wohl. Auf baldiges Wiedersehen!«

Ich mochte mich 12 bis 16 Schritte entfernt haben, als Goethe mir nachrief: »Herr Professor Luden.« – Rasch kehrte ich um, und fragte nach seinen Befehlen. »Ich habe Sie,« sagte er »gebeten, mich in Weimar zu besuchen, habe aber vergessen hinzuzusetzen: kehren Sie ja nicht in einem Wirthshause ein, sondern fahren Sie bei mir vor. Es soll immer ein Couvert für Sie bereit gehalten werden, und so oft Sie über Nacht in Weimar bleiben können und wollen, sollen Sie auch ein Bette finden. Und so noch einmal: leben Sie recht wohl!«


1 Diese Verse sind wohl nicht ganz richtig, obgleich ich sie oft ins Gedächtniß zurückgerufen habe. Nur den Reim glaube ich als ächt bezeichnen zu können, und den Sinn gewiß.[102]


252.*


1806, 31. August.


Mit Friedrich Wilhelm Riemer


a.

»Das Beste in den Briefen des Bonifacius sind die Stellen aus der Bibel, weil es ewig nur Mosaik ist, was die Leute machen, aber in dem Sinne gut.

Wir haben ja auch unsere Coteriesprache, und von den Humanisten, welche römisch schreiben, kann man dasselbe sagen.«


b.

»Die beiden ersten Acte der ›Minna von Barnhelm‹ sind schön und gut, sie haben Handlung und Fortschritt; im dritten stockt's. Man weiß nicht, woran es sich accrochirt; da erscheint ein retardirender Auftritt zwischen dem Wachtmeister und Franziska. Man sieht, Lessing hat Lust an den Charakteren selbst gewonnen und spielt mit denen, malt sie zu einzelnen Scenen aus, die als solche recht schön sind. Sensation des Stücks bei seiner ersten Erscheinung. Im Tellheim die Ansicht seiner Zeit und Welt im Punkt der Ehre, in Minna Lessing's Verstand.«[103]


253.*


1806, Ende September.


Mit Georg Reinbeck

Bei dem Dichterfürsten Goethe glaubte ich keiner fremden Empfehlung zu bedürfen; denn er hatte mehrere meiner Dramen auf die Bühne zu bringen gewürdigt und hatte mir öfter durch Reisende nach Petersburg freundliche, mich ehrende Grüße gespendet. Er nahm mich wie einen Bekannten auf, erkundigte sich nach meinen Zwecken, meinen Arbeiten und erzählte mir von der nicht ungünstigen Aufnahme meiner Dramen und von seiner Absicht bei der Aufführung meiner, nach Monsieur de Pourceaugnac des Molière bearbeiteten Posse »Herr von Hopfenkeim«. Er klagte darüber, daß das deutsche Publicum zu prüde sei und nicht recht Spaß verstehe, wodurch der Bühne ein Gebiet verschlossen werde, das wenigstens den Genuß größerer Mannigfaltigkeit geben könne, und, recht behandelt, könne das Grotesk-Komische gerade ein Vehikel sein, so manches zur Sprache zu bringen, was in zarterer Behandlung einen zu ernsten Charakter gewinne.

– – – – – – – – – – –

Goethe und Bertuch hatten keine besonders hohe Meinung von Klinger's Charakter und erzählten mir manche Anekdote aus seinem früheren Leben, die ihn[104] als einen Phantasten darstellt, der bloß durch ein angenommenes fast brutales Wesen habe Aufsehen erregen wollen.[105]


1490.*


1806, Anfang October.


Mit einem preußischen Artillerieoffizier.1

Er [Goethe] nahm mich mit der früheren alten Freundschaft und Herzlichkeit auf, lud mich auch zu Tische, und wir plauderten viel von den im Feldzug von 1792 in Frankreich und dann bei der Belagerung von Mainz gemeinschaftlich bestandenen Abenteuern. Im übrigen fand ich Goethe in einer sehr sorgenvollen, gedrückten Stimmung, wozu er als Minister des Herzogthums Weimar freilich auch alle Ursache hatte. Er war ein zu klarer Kopf und besaß eine zu gereifte Menschenkenntniß, als daß er sich die ungemein vielen Gebrechen und Schwächen aller Art, die sich in unserem ganzen Heere und besonders in der obersten Leitung[295] zeigten, nur im Allermindesten verhehlen konnte. So hegte er denn nichts wie Angst und Besorgniß vor dem Ausgang dieses Krieges und prophezeite uns ein schlimmes Ende, worin ich ihm als preußischer Offizier natürlich mit aller Entschiedenheit zu widersprechen für meine Pflicht hielt, obgleich ich in meinem Innern leider manche seiner Befürchtungen nur zu sehr theilte. Daß sich jetzt der Kriegsschauplatz in das Gebiet des Herzogthums Sachsen-Weimar hingezogen hatte, mußte Goethen als Minister dort sehr unangenehm sein; denn nicht allein, daß er selbst viel Plage und Arbeit dadurch hatte, so litt das Land ganz ungemein. Wenn auch die Disciplin in unserem Heere bis jetzt noch sehr strenge gehandhabt wurde, so war es doch nicht zu vermeiden, daß Unordnungen und Excesse in Menge vorkamen .... Alle diese vielen Plagen und Scherereien der verschiedensten Art... mochten ebenfalls wohl viel mit dazu beitragen, daß sein Unmuth über diesen ganzen Krieg und besonders auch die Art und Weise, wie solcher bisher von uns geführt wurde, ein so überaus heftiger war, daß er ganz nie Ruhe und Würde, die ihm sonst stets in so hohem Grade innewohnte, darüber vergaß. Besonders hart tadelte er auch, daß wir nicht die Feinde in der Gegend südwärts des Thüringer Waldes selbst angriffen, statt, wie es jetzt den Anschein hatte, uns nordwärts davon von ihnen angreifen zu lassen. So glaube ich, daß der Einfluß Goethes wirklich dabei mit im Spiel gewesen ist, daß[296] der Herzog Karl August von Sachsen-Weimar, der wieder in active preußische Dienste getreten war, es durchzusetzen vermochte, daß er mit einem auserlesenen Corps von zehntausend Mann Infanterie und Artillerie... über den Thüringer Wald gesandt wurde, um dem Feind, den wir damals noch immer zwischen Koburg und Bamberg vermutheten, in die Flanke zu fallen.


1 Vergl. Nr. 1453 und 1454.[297]


254.*


1806, 18. October.


Über Goethes Heirath

Mir [Voß] war es rührend, wie Goethe am zweiten [?] Abend nach der Schlacht, als wir um ihn versammelt waren, der Vulpius für ihre Treue in diesen unruhigen Tagen dankte und mit den Worten schloß: »So Gott will, sind wir morgen Mittag Mann und Frau.«[105]


255.*


1806, October.


Mit Johann Heinrich Voß d. J.

Goethe war mir in den traurigen Tagen ein Gegenstand des innigsten Mitleidens. Ich habe ihn Thränen vergießen sehen. »Wer,« – rief er aus – »nimmt mir Haus und Hof ab, damit ich in die Ferne ziehen kann?«[105]


256.*


1806, 2. November.


Mit Friedrich Wilhelm Riemer

»Es ist ein gräuliches Verfahren, welches die Mineralogen bei der Bestimmung der Farben beobachten. Nicht nur mengen sie apparente Farben, chemische, und unter diesen durchsichtige und Erdfarben untereinander, sondern auch die physischen mischen sie mit chemischen wie auf der Palette durcheinander: Morgenroth mit gelblich braun u. dergl.«[106]


257.*


1806, November.


Mit Friedrich Wilhelm Riemer

»Wenn Paulus sagt: gehorchet der Obrigkeit, denn sie ist Gottes Ordnung, so spricht dies eine ungeheuere Cultur aus, die wohl auf keinem frühern Wege als dem christlichen erreicht werden konnte: eine Vorschrift, die, wenn sie alle Überwundenen jetzt beobachteten, diese von allem eigenmächtigen und unbilligen, zu ihrem eigenen Verderben aufschlagenden Verfahren abhalten würde.«[106]


258.*


1806, 6. November.


Mit Friedrich Wilhelm Riemer

Angefangen an dem Schema und der Einleitung zur Morphologie, des Abends um acht Uhr.

»Das Gall'sche System kann dadurch zu einer Erläuterung, Begründung und Zurechtstellung gelangen.

Es ist ein sonderbarer Einwurf, den man gegen dasselbe davon hergenommen hat, daß es eine partielle Erklärungsweise sei von Erscheinungen, die aus dem gesammten organischen Wesen ihre Erklärung schöpfen. Als wenn nicht alle Wissenschaft in ihrem Ursprunge partiell und einseitig sein müßte! Das Buchstabiren und Syllabiren ist noch nicht das Lesen, noch weniger Genuß und Anwendung des Gelesenen; es führt doch aber dazu. Eine Würdigung dieser erst aufkeimenden Wissenschaft oder dieser Art des Wissens ist noch viel zu früh.«[107]


259.*


1806, November.


Mit Friedrich Wilhelm Riemer

»Wie die Schalthiere im nächsten Bezug auf den Kalk stehen, daß man sagen kann, sie seien organisirter Kalk; so kann man sagen, daß diejenigen Insekten,[107] welche auf färbenden Pflanzen leben und gleichsam lebendig den Farbestoff derselben darstellen, als die Coccusarten, gleichsam die organisirten Pflanzen sind. Steffens nannte gewisse Käfer in Bezug auf den Blumenstaub, den sie der Blume zuführen, das fliegende Gehirn derselben. Mit demselben Rechte einer witzigen Combination, wenn es weiter nichts wäre, kann man jene Insekten organisirten Farbestoff nennen. Lebendiger Farbestoff, wie Jeder sagen würde und könnte, drückt das Nämliche aus, nur versteckter.«[108]


260.*


1806, 7. November.


Mit Friedrich Wilhelm Riemer


a.

»Die Naturphilosophie construirt zuerst aus dem Lichte die Solidität und die Schwere. Den die Schwere constituirenden Kern des Erdkörpers bilden die Metalle. Demnach müßte man sagen: die Metalle seien das solidirte Licht und Darsteller der Schwere; daher auch ihr übriger Bezug zum Lichte theils durch ihren Glanz, theils durch die Farbe, die sie in ihrem regulinischen, krystallischen und kalkhaften Zustande bereits haben und noch annehmen.«


b.

[108] »Bücher werden jetzt nicht geschrieben, um gelesen zu werden, um sich daraus zu unterrichten und zu belehren, sondern um recensirt zu werden, damit man wieder darüber reden und meinen kann, so in's Unendliche fort.

Seitdem man die Bücher recensirt, liest sie kein Mensch außer dem Recensenten, und der auch so so. Es hat aber jetzt auch selten Jemand etwas Neues, Eigenes, Selbstgedachtes und Unterrichtendes, mit Liebe und Fleiß Ausgearbeitetes zu sagen und mitzutheilen, und so ist Eins des Andern werth.«[109]


261.*


1806, 9. November.


Mit Christiane Kotzebue

Es wird Dich [August v. Kotzebue] von Goethe freuen, daß er kurz nach der Plünderung, wie Krause begraben wurde, auf dem Kirchhofe zu mir kam, mich fragte, wie es mir gegangen, und wünschte, daß ich in sein Haus gekommen wäre. Er sei nicht ausgeplündert, weil er sich eine Sauvegarde, die ihm zwar viel gekostet, ausgebeten. Er habe bis auf den Wein doch das Seinige behalten, und bedauerte mich sehr freundschaftlich über meinen Verlust.[109]


262.*


1806, 10. November.


Mit Friedrich Wilhelm Riemer

»Qualis rex, talis grex paßt niemals mehr als jetzt, und miles gregarius versteht man jetzt, wovon es ausgeht.

Es bemerkte jemand sehr gut, daß Napoleon in seinem Zimmer wie ein Löwe oder Tiger in seinem Käfig unruhig auf und abgeht und sich dreht.«[110]


263.*


1806, 18. November.


Mit Friedrich Wilhelm Riemer

»Der Freiheitssinn und die Vaterlandsliebe, die man aus den Alten zu schöpfen meint, wird in den meisten Leuten zur Fratze. Was dort aus dem ganzen Zustand der Nation, ihrer Jugend, ihrer Lage zu andern, ihrer Cultur hervorging, wird bei uns eine ungeschickte Nachahmung. Unser Leben führt uns nicht zur Absonderung und Trennung von andern Völkern, vielmehr zu dem größten Verkehr; unsere bürgerliche Existenz ist nicht die der Alten; wir leben auf der einen Seite viel freier, ungebundener und nicht so einseitig beschränkt als die Alten, auf der andern ohne solche Ansprüche des Staats an uns, daß wir eifersüchtig auf seine[110] Belohnung zu sein Ursache und deswegen einen Patricieradel zu souteniren hätten. Der ganze Gang unserer Cultur, der christlichen Religion selbst führt uns zur Mittheilung, Gemeinmachung, Unterwürfigkeit und zu allen gesellschaftlichen Tugenden, wo man nachgiebt, gefällig ist, selbst mit Aufopferung der Gefühle und Empfindungen, ja Rechte, die man im rohen Naturzustande haben kann. Sich den Obern zu widersetzen, einem Sieger störrig und widerspenstig zu begegnen, darum weil uns Griechisch und Lateinisch im Leibe steckt, er aber von diesen Dingen wenig oder nichts versteht, ist kindisch und abgeschmackt. Das ist Professorstolz, wie es Handwerksstolz, Bauernstolz und dergleichen giebt, der seinen Inhaber ebenso lächerlich macht, als er ihm schadet.«[111]


264.*


1806, 20. November.


Mit Friedrich Wilhelm Riemer

»Der Streit, ob die männliche Schönheit in ihrer Vollkommenheit, oder die weibliche in ihrer Art höher stehe, kann nur aus der größern oder geringern Annäherung der männlichen oder der weiblichen Form an die Idee geschlichtet werden. Nun reicht die männliche aber mehr an die Idee, denn in ihr hört das Reale auf; des Mannes Bildung geht offenbar über die des Weibes hinaus und ist keineswegs die vorletzte Stufe etc.«[111]


265.*


1806, November.


Mit Friedrich Wilhelm Riemer


a.

»Den Verstandesphilosophen begegnet's und muß es begegnen, daß sie undeutlich aus gar zu großer Liebe zur Deutlichkeit schreiben. Indem sie für jede Enunciation die Quelle oder ihr Acheminement nachweisen wollen, von dem Orte an, wo sie ins Räsonnement eingreift, bis zu ihrem Ursprunge, auf welchem Wege wieder anderes acheminirt und einläuft, geht es ihnen, wie dem, der einen Fluß von seiner Mündung an aufwärts verfolgt, und so immer auf einfallende Bäche und Flüßchen stößt, die sich wieder verzweigen, so daß er am Ende ganz vom Wege abkommt und in Deverticulis logirt. Beispiele geben Kant, auch Hegel. Aristoteles ist noch mäßig mit seinen Denn's und gar. Sie weben eigentlich nicht den Teppich, sondern sie dröseln ihn auf und ziehen Faden aus; die Idealphilosophen sitzen eigentlich am Stuhl, zetteln an und schießen ihr Schiffchen durch. Manchmal reißt wohl ein Faden, oder es entstehen Nester, aber im Ganzen giebt's doch einen Teppich.«


b.

»Es wird bald Poesie ohne Poesie geben, eine wahre poiêsis, wo die Gegenstände en poiêsei, in der Mache[112] sind, eine gemachte Poesie. Die Dichter heißen dann so, wie schon Moritz spaßte, a spissando, densando, vom Dichtmachen, weil sie Alles zusammendrängen, und kommen mir dann vor, wie eine Art Wurstmacher, die in den sechsfüßigen Darm des Hexameters oder Trimeters ihre Wort- und Sylbenfülle stopfen.«


c.

»Die Stelle aus Delille's l'Imagination [Chant IV, p. 224.], welche den Eindruck der Verödung von Versailles schildert, ist poetisch durch den Gegenstand, und die rhetorisch-energische Behandlung, welche die Franzosen ihren Poesien geben, thut hier gut und ist an ihrer Stelle. Wie aber da, wo der Mann sich im Gegenstand vergreift und diesen lêkythos (Farbenkasten) an unrechten Stellen ausschmiert!«


d.

»Die Weiber haben das Eigene, daß sie das Fertige zu ihren Absichten verarbeiten und verbrauchen. Das Wissen, die Erfahrung des Mannes nehmen sie als ein Fertiges und schmücken sich und anderes damit. Nicht die Raupe zu erziehen, das Cocon abzuhaspeln, die Seide zu spinnen, zu färben und zu appretiren, sondern sie zu Blumen zu versticken oder in schon gewebtem Stoffe sich damit zu putzen, ist im allegorischen Sinne dieses Bildes ihre Sache. Daher folgen sie dem Manne nicht in seiner Deduction und Construction, ob sie ihnen schon manchmal artig vorkommen kann, sondern sie[113] halten sich an das Resultat; und wenn sie ihm auch folgen, so können sie ihm doch darin nicht nachahmen und es in anderem Falle wieder so machen. Der Mann schafft und erwirbt, die Frau verwendet's: das ist auch im intellectuellen Sinne das Gesetz, unter dem beide Naturen stehen. Daher muß man einer Frau das Fertige geben; und aus eben dieser Ursache sind sie das wünschenswertheste Auditorium für einen Dogmatiker, der nur Geist genug hat, das, was er ihnen sagt, angenehm und sinnlich ergreifend zu sagen. Das Positive lieben sie in diesem Falle, solche Undulisten sie auch in andern Rücksichten sein mögen.«


e.

Horaz. Sein poetisches Talent anerkannt nur in Absicht auf technische und Sprachvollkommenheit, d.h. Nachbildung der griechischen Metra und der poetischen Sprache, nebst einer furchtbaren Realität ohne alle eigentliche Poesie, besonders in den Oden.[114]


266.*


1806, 23. November.


Mit Friedrich Wilhelm Riemer

»Obgleich die Natur einen bestimmten Etat hat, von dem sie zweckmäßig ihre Ausgaben bestreitet, so geht die Einnahme doch nicht so genau in der Ausgabe auf, daß nicht Etwas übrig bliebe, welches sie gleichsam zur Zierde verwendet. Die Natur, um zum Menschen zu[114] gelangen, führt ein langes Präludium auf von Wesen und Gestalten, denen noch gar sehr viel zum Menschen fehlt. In Jedem aber ist eine Tendenz zu einem Andern, was über ihm ist, ersichtlich. Die Thiere tragen gleichsam das, was hernach die Menschenbildung giebt, recht zierlich und schön geordnet als Schmuck, zusammengepackt in den unverhältnißmäßigen Organen, als da sind Hörner, lange Schweife, Mähnen u.s.w., welches Alles beim Menschen wegfällt, der schmucklos, durch sich selbst schön und in sich selbst schön, vollendet dasteht; der Alles, was er hat, auch ist, wo Gebrauch, Nutzen, Nothwendigkeit und Schönheit alles Eins ist und zu Einem stimmt. Da beim Menschen nichts Überflüssiges ist, so kann er auch nichts entbehren und verlieren, und was er verliert, kann er deswegen auch nicht ersetzen (Haare und Nägel ausgenommen und die geringe Reproductionskraft in Rücksicht auf Haut, Fleisch und Knochen), dagegen bei den Thieren, und je niedriger die Thiere stehen, die Reproductionskraft ebenso wie die Zeugungskraft größer ist. Die Reproductionskraft ist nur eine unabgelöste Zeugung, und umgekehrt.«[115]


267.*


1806, 26. November.


Mit Friedrich Wilhelm Riemer

»Daß der Mensch zu Behauptung seiner Freiheit den Gegensatz des Gegebenen selbst hervorruft, diese Erscheinung zeigt sich auch im Physischen, wo das Auge[115] den Gegensatz einer gegebenen Farbe selbst hervorbringt, und mit dem Gegebenen und dem selbst Hervorgebrachten die Totalität abschließt.«[116]


268.*


1806, 27. November.


Über Friedrich Ludwig Zacharias Werner

Er [Goethe] hatte ... eines Abends [bei Frau Schopenhauer] ... zu einer ausführlichen Erörterung der Gesellschaft die Frage vorgelegt, welchen Sinn der Titel von Werner's Luther, »Weihe der Kraft«, wohl haben möchte. Jeder sollte seine Meinung sagen, ob eine geweihte Kraft, oder eine Weihung der Kraft, oder eine Weihung durch die Kraft oder was sonst darunter zu verstehen sei. Seine Absicht ging indeß weniger dahin, jene Worte erklärt zu wissen, als darüber zu scherzen.[116]


269.*


1806, 30. November (?).


Mit Karl Ludwig Fernow

Am Abend desselben Tages, wo ich meinen Brief an Sie [Böttiger] absandte, hatte ich eine sehr interessante Unterhaltung mit Goethe ..... Ich kam zufällig mit G. über das Journal- und Zeitungswesen unsers Vaterlandes zu sprechen. Sie wissen, wie G. von jeher[116] über die Neuigkeitskrämereien der Journale gedacht hat, und er war auch jetzt indignirt über so manche Nachrichten, welche in den letzten Zeiten über Weimar besonders in der »Allgemeinen Zeitung« gestanden haben, z.B. die Notiz, unsere verwittwete Herzogin und ihre Flucht von Weimar vor der Schlacht, welche hier allgemein gemißbilligt worden, umsomehr, da die Beweggründe zu ihrer Abreise dort völlig falsch angegeben worden, und die andere, daß die Herzogin von Weimar dem gefallenen Prinzen Louis Ferdinand von Preußen einen Lorbeerkranz geweihet habe, woran, wie Sie leicht denken können, kein wahres Wort ist, und andere Indiscretionen mehr, die Ihnen bekannt sind. Er sagte mir, er habe deshalb auch sehr ernstlich an Cotta geschrieben, daß er jetzt besonders, wo Deutschland nur Eine große und heilige Sache habe – die, im Geiste zusammenzuhalten, um in dem allgemeinen Ruin wenigstens das bis jetzt noch unangetastete Palladium unserer Literatur auf's Eifersüchtigste zu bewahren – dergleichen Frivolitäten, welche nur zum Gespött der Schadenfrohen und zum Geklatsche der Müßiggänger dienen, nicht in seinen Blättern hegen und pflegen müsse. Er sagte, nach dem 14. October müsse kein »Freimüthiger« mehr existiren; besonders müsse man in Sachsen, welches vor vielen andern geschont worden und so günstige Bedingungen für seine fernere Existenz erhalten, jetzt mehr als je zusammenhalten, da Dresden, Leipzig, Jena und Weimar künftig leicht der Hauptsitz[117] der germanischen Cultur im nördlichen Deutschland bleiben dürften, sowie sie es auch schon früher größtentheils gewesen seien. Alle die Neckereien, welche ehemals in Zeiten der Ruhe und friedlicher Verhältnisse, wenn auch unanständig, doch im Wesentlichen unschädlich gewesen, würden jetzt höchst nachtheilig werden, wenn sie dazu beitragen könnten, daß die Franzosen die einzige Achtung, die sie jetzt noch für die Deutschen haben konnten, verlieren müßten. Es sei also jetzt, wo alles auf der Spitze stehe, eine wahre Verrätherei, mit dem alten Leichtsinne fortzufahren, Orte, welche als ein Sitz der Cultur, und Männer, welche als thätige Beförderer derselben einige Ansprüche auf öffentliche Achtung haben können, unwürdig zu behandeln, und daß der Feind uns um so weniger ehren werde, wenn wir uns selbst so wenig ehren und achten, daß wir nicht besseres zu thun wissen, als vor seinen Augen unsere Blößen aufzudecken. Besonders müsse Weimar und diejenigen in W., welche z. Th. dazu beigetragen, auch selbst in den Augen der Franzosen unsere Literatur achtungswürdig zu machen, jetzt mit gebührender Rücksicht behandelt werden, umsomehr, da der Kaiser Napoleon selbst auf Weimar aufmerksam geworden, sodaß er den berühmten Johannes Müller in einer Unterredung gefragt hat, ob denn W. auch in Deutschland selbst wegen seiner höhern Bildung in demselben Ansehen stehe, wie bei den französischen Gelehrten. Man müsse also auf alle Weise verhüten, daß der, in dessen[118] Hand jetzt das Schicksal liege, die Achtung, die wir ihm durch ein höheres geistiges Übergewicht abgenöthigt haben, nicht verliere u.s.w.[119]


270.*


1806, 2. December.


Mit Friedrich Wilhelm Riemer

»Wenn die Natur einen bestimmten Etat für die genera der organischen Wesen hat, demzufolge sie eine starke Ausgabe durch eine Ersparniß wieder compensiren muß, so hat sie ihn wahrscheinlich auch bei den Individuen. Um nur vom Menschen zu reden, so scheinen die starken Ausgaben an gewissen Theilen der Organisation gewisse Schwächen an anderen nach sich zu ziehen. Und auf dieser Lässigkeit, auf dieser Balancirung, scheint es, beruht alle Verschiedenheit der Bildung, und nur auf diesem Wege dürfte Galls Theorie zu begründen sein.«[119]


271.*


1806, 8. December.


Mit Friedrich Wilhelm Riemer

»Es werden die Franzosen nach innen zu genöthigt, sich tugendhaft zu zeigen, ehrlich, honett, rechtschaffen u.s.w. zu sein, da sie nach außen zu als Räuber, Spitzbuben und Mörder zu agiren gezwungen sind. Wir Deutsche waren im Bewußtsein unserer Tugenden[119] früherhin im Ausdruck freier und loser, da wir jetzt bei ungebundenen Sitten zu einer Decenz des Ausdrucks streben müssen.«[120]


272.*


1806, December.


Mit Friedrich Wilhelm Riemer


a.

»Man kann die Phalangen (Wirbel im Rücken und sonst) als die Knoten ansehen bei den Pflanzen. Wie die Pflanze von Knoten zu Knoten wächst, so die Organisation der Thiere. Die Knochen der Arme und Beine sind auch nichts anderes als größere Knoten oder Phalangen. Von Eins fängt's an, geht im Vorderarm und im Unterschenkel in zwei, dann in drei, vier, fünf über etc.«


b.

»Die Farbe zeigt eine Polarität, sie oxydirt und desoxydirt, und wird es: beides Erscheinungen wie bei Magnet und Electricität. Sollte die Farbe nicht eine nur für den Sinn des Auges erfolgende Erscheinungsweise eines und desselben Entis sein, das sich bald als Magnetismus, bald als Electricität, bald als Chemismus zeigt? Sollte nicht beim Erscheinen der prismatischen Ränder gleichsam eine Oxydation und Desoxydation des Lichtes durch das Medium des brechen den Mittels und auf Anlaß dessen vorgehen? Daß also das Prisma nur für den Sinn des Auges thäte, was[120] bei dem Galvanismus die beiden Drähte im Wasser thun, eine Zersetzung des Lichts hervorbringen. Electricität wird ja sehr leicht für die tactische Empfindung als Galvanismus erregt, warum nicht eben so leicht für die Empfindung des Auges durch das prismatische Medium als Farbe?«[121]


273.*


1806, 11. December.


Mit Friedrich Wilhelm Riemer

»Die Nationen lassen sich auch mit Pflanzen, ihren Blüthen und Früchten vergleichen. Die untern Stände sind die Kotyledonen und die daraus sich entwickelnden ersten Stengelblätter; die höhern Stände und die Kulturen derselben repräsentiren die fernern Blätter, Blüthen, Früchte.

Hier öffnete sich ein weites und artiges Feld für die Rungische allegorisch-symbolisch-mystische Pflanzenmetamorphose.«[121]


274.*


1806, 13. December.


Mit Friedrich Wilhelm Riemer

»Der Krieg ist in Wahrheit eine Krankheit, wo die Säfte, die zur Gesundheit und Erhaltung dienen, nur verwendet werden, um ein Fremdes, der Natur Ungemäßes, zu nähren.«[121]


275.*


1806, 15. December.


Mit Friedrich Wilhelm Riemer

Von Jean Pauls neuestem Erziehungsbüchlein sagte G.: Es komme ihm vor wie ein Züchtling, dessen Ketten man immer klirren höre, wenn er auch noch so leise Bewegungen mache. Man höre immer die Catena von Citaten, Excerpten, Collectaneen und so fort.[122]


276.*


1806, 16. December.


Mit Friedrich Wilhelm Riemer

Goethe bemerkte, daß, da er nach Gall die Gabe habe, sich nur gleichnißweise auszudrücken, er nun auch das Verhältniß der Newtonischen Lehre zu seiner und der frühern in einem Gleichniß darstellen wolle: er habe dieses gefunden in den verschiedenen astronomischen Systemen. Das Newtonische verhalte sich zu dem neuesten seinen, wie das Tycho-de-Brahische zu dem Kopernikanischen.[122]


277.*


1806, um 23. December.


Über Geistesgegenwart der Bethmann

[Schauspieldirector Schmidt erzählte Mittags bei Goethe ein Geschichtchen von der Schauspielerin Bethmann bei Aufführung des Don Carlos. Der Darsteller des letzteren, Mattausch, hatte beim Abgang am Schluß des achten Auftritts im zweiten Aufzug den verhängnißvollen Brief fallen lassen und die Bethmann, Eboli, war durch die unter den Zuschauer entstehende Unruhe darauf aufmerksam gemacht worden. Schmidt fährt nun fort:]


Bis hierher hatte ich, als ich bald darauf nach Weimar kam und bei Goethe speiste über Tische den Vorfall erzählt und bat ihn nun zu rathen, was die Bethmann wohl in diesem Augenblicke gethan haben möchte; denn er hatte uns vorher auch lange auf den Namen des damals noch anonymen Verfassers von dem Lustspiel »Das Räthsel« [Contessa] rathen lassen. Er stand einige Augenblicke an, und Frau v. Goethe meinte, sie würde gethan haben, als sehe sie den Brief nicht. »Da wären denn freilich Madame wohlfeilen Preises davon gekommen,« erwiederte Goethe und forderte mich auf weiter zu erzählen; »denn wer kann errathen,« fügte er hinzu, »was eine kluge verständige Schauspielerin in so kritischem, dringendem Augenblick thut!« – Die Bethmann, in demselben Moment, als sie den Brief erblickte, bezeigt die höchste, freudigste Überraschung und stürzt mit der auffallendsten Hast auf den Brief hin,[123] ergreift ihn begierig, durchfliegt ihn mit vor Hoffnung funkelnden Augen – und wirft ihn endlich mit dem Gest getäuschter Erwartung wieder hin, als sei es ein falsches Papier.[124]


278.*


1806, um 23. December.


Über die Aufführung des »Egmont«

bei Ifflands Weimarer Gastspiel

[Schmidt war von Wien nach Berlin und Weimar gesandt worden, um bei etwaiger Auflösung der dortigen Bühnen nach der Schlacht von Jena Schauspieler anzuwerben und traf Abmachungen mit zweien. Er erzählt dann weiter:]


Auch in Bezug auf die andern vorzüglichen Mitglieder unterließ ich jedoch nicht, meinem Auftrag gemäß weitere Schritte zu thun, worüber mir Goethe, als ich vor meiner Abreise das letzte Mal bei ihm speiste, das aus seinem Munde mir höchst erfreuliche Zeugniß gab, daß er meine Schritte, die ihm nicht unbekannt geblieben wären, ganz gebilligt, und daß ich es zu vereinigen gewußt habe, meinen Pflichten ganz treu zu bleiben und doch dem Theater in Weimar nicht nachtheilig zu werden ..... Zugleich bedauerte er, daß es nicht möglich gewesen sei, mich während meines Aufenthalts seinen »Egmont« sehen zu lassen. Ich hätte dabei abnehmen können, auf welche sinn- und effectvolle Art Klärchens Erscheinung am Schlusse, die er nun beschrieb, plastisch bewirkt würde. Ich fragte[124] ihn hierauf, ob das Stück noch mit den Abänderungen in Weimar gegeben würde, wie sie mir von Iffland's Gastspiel her, der 1796 den Egmont als Gast gab, erinnerlich waren. Goethe fragte, worin sie bestanden hätten. Ich erwähnte nur die eine, daß nämlich bei der Unterredung Egmont's im Kerker, im fünften Act, auch Alba im weiten, schwarzen Gewande mit der Kapuze über den Kopf herabgezogen und dem Henkerschwert an der Seite gegenwärtig gewesen sei, und daß dann Egmont bei einem Ausbruch seines Unmuths (es war bei der Rede: »und ich falle ein Opfer seines – Alba's – niedrigen Hasses, seines kleinlichen Neides etc.«) noch die Worte hinzugefügt habe: »Ja, ich darf es sagen und wenn Herzog Alba selbst es hören sollte« – womit er Alba die Kapuze herabriß und dieser in seines Nichts durchbohrendem Gefühle dastand. »Ja,« erwiederte Goethe, »ich erinnere mich, daß es damals so arrangirt war und zwar von Schiller selbst. In Schiller'sche Stücke hätt' es auch wohl gepaßt, allein das ist mein Genre nicht.« Dies ganz seine eigenen Worte.[125]


279.*


1806, 24. December.


Mit Friedrich Wilhelm Riemer

Goethe wünschte einmal die Frage: ob ein nützlicher Irrthum, eine nützliche Lüge einer schädlichen Wahrheit[125] vorzuziehen sei, in einer Fabel zu behandeln. Ich soll ihn daran erinnern, wiewohl sie in der Iphigenie schon durchgeführt sei. Während Orest und Pylades ihre Zwecke durch Lug und Trug zu erreichen streben, sucht sie auf ihre Weise durch die Wahrheit dahin zu gelangen.

G. habe nur drei Arten, sein Urtheil zu äußern, indem er lobe, oder schweige, oder schelte.[126]


280.*


1806, 26. und 27. December.


Mit Friedrich Wilhelm Riemer

»Haug gehört zu den wiederkäuenden Thieren, wie die Newtonianer sind, bei denen der Schlund sich in lauter aufeinanderfolgende Magen zusammenfaltet. Das Newtonische Heu schlucken sie hinunter, aber sie können's im Magen weder verdauen noch sonst los werden. Sie ruminiren es also durch alle Magen herauf und können's immer nicht digeriren, da hingegen andere edlere Thiere das ihrem Magen Widerspenstige gleich von sich geben. –

Den Haug müßte man in ein Ragout zerpflücken (discerpiren) und ihn recht zierlich auf einem silbernen Teller über einer Lampe à la * * * zurechte machen.«[126]


281.*


1806, gegen Ende December (?).


Uber das Goethe-Bildniß der Caroline Bardua

Caroline war jedem dankbar, der ihr sitzen mochte ..... Das merkwürdigste war das Bild Goethe's; er war der erste, der ihr saß1 .... Goethe erscheint mit noch dunkeln Haaren, in bloßem Hals, einen rothen Mantel [Toga?] um die Schultern geworfen; im grünen Damast des Hintergrundes bildet sich wie zufällig ein Lorbeerkranz um den Kopf. Man sieht wohl, daß es das Bild eines Anfängers ist: der Kopf erscheint etwas kolossal, aber majestätisch wie eines Imperators. Oft hörte man Carolinens Vater den Freunden, welche kamen, das Bild zu sehen, wiederholen, was Goethe gesagt habe: Mit diesem Bilde sei er für die Nachwelt zufrieden.


1 Aber wahrscheinlich nicht zu dem nachbeschriebenden Bilde; zum ersten scheint er 1805 gefessen zu haben, zu obigem saß er im December 1806.[127]


282.*


1806, 30. December.


Bei Ifflands Almanach fürs Theater

»Auf meine Bemerkung, daß die Deutschen den Franz Moor nicht los werden könnten, erwiederte G., daß[127] Iffland ihn in seiner Jugend gut gespielt habe, und weil er ihn nicht losgeben wolle, ihn nun in das Würdige ziehe, einen Richard aus ihm mache etc. Was es denn aber helfe, Eine grelle Figur abzudämpfen, wenn die übrigen es noch blieben, ja nur stärker hervorträten? Schiller's Intention, als Mann von Genie, sei vielmehr gewesen in diesem fratzenhaften Stücke auch einen fratzenhaften Teufel auftreten zu lassen, der die andern übertrumpfe. – – – Aber nun beschneiden sie ihm die Krallen, und da soll es ein würdiger Hundsfott werden, damit ihn ein würdiger Mann spielen könne[128]


283.*


1806, Ende (?).


Mit Friedrich Wilhelm Riemer

»Der Charakter, d.h. die Mischung der ersten menschlichen Grundtriebe, der Selbsterhaltung, der Selbstschätzung etc. ist das, wovon auch die Ausbildung der übrigen Seelenkräfte ausgeht und worauf sie ruht.

Die Franzosen haben diesen Verstand, weil sie diesen Charakter haben; es ist nur dieser Verstand und kein anderer.

Aus ihrem Charakter geht es hervor, daß sie die Welt bezwingen, nicht aus ihrem Verstande; denn ihr Verstand hat schon die Farbe ihres Charakters und[128] redet blos ihren ursprünglichen Tendenzen und Neigungen das Wort. Das Eigennützige, das Habsüchtige, das Alles sich Aneignende, Fremdes Ausschließende, dieses bestimmt sie mehr, als was nicht so ist. Wenn nun eine ganze Nation so ist, muß sie ja die Welt gewinnen.«[129]


284.*


1806.


Mit Friedrich Wilhelm Riemer

Der Sultan wider Willen. Goethe hatte sich immer und zumeist im Jahre 1806 mit dieser Geschichte getragen, für die er eine besondere Liebe zu haben schien. Vier Damen von ganz verschiedenen Charakteren interessiren sich alle für Einen Mann; jede ist auf eine eigene Art liebenswürdig, jede findet er, wenn er sich ihr nähert, seinem Zustande angemessen, allein liebenswürdig und unbegreiflich, wie er eine andere lieben kann u.s.w.[129]


285.*


1806, Winter auf 1807 und Späteres.


In Gesellschaft bei Johanna Schopenhauer


a.

Die Gesellschaft nahm – den 12. November 1806 – einen ganz kleinen Anfang. Wie Fernow, der schon[129] früher die Bekanntschaft der Frau Schopenhauer gemacht hatte, mich gegen Abend dazu abholte, fand ich [Stephan Schütze] Goethe, Meyer und den Kammerrath Ridel (den frühern Erzieher des Erbprinzen [Karl Friedrich]). Ich fühlte mich umsomehr beglückt, hier Goethen vorgestellt zu werden, da ich bisher vergebens darnach gestrebt hatte; denn damals war er lange nicht so zugänglich, wie in späterer Zeit ..... Fünf Personen saßen denn also um die Schopenhauer her, die in stiller Geschäftigkeit hinter der Theemaschine ihr Amt als Wirthin verwaltete, während ganz gemächlich wissenschaftliche Gespräche geführt wurden. Die Unterhaltung verbreitete sich über Italien, die italienische Sprache und ihre verschiedenen Dialekte, über welche Fernow nach vielen mit Fleiß angestellten Nachforschungen seine Bemerkungen mittheilte. Man blieb indeß immer nur bei Erfahrungssätzen stehen; auf ästhetische oder philosopische Betrachtungen, auf die ich am meisten begierig war, ließ man sich nicht ein. Um endlich doch auch etwas zu sagen, faßte ich mir ein Herz und äußerte gegen Goethe, da man seines »Egmont« erwähnte, daß die Lichterscheinung Clärchens zuletzt dem Stück erst eine höhere Bedeutung gäbe, indem sie das Verdienst Egmont's um die ganze Nation der Niederländer in seinen Folgen ausspräche. Schiller hatte sich wie bekannt gegen die Erscheinung erklärt. Goethe lobte mich über mein Lob und sagte, daß er das Stück auch nicht ohne die Erscheinung sehen möchte.[130] .... Bei der nächsten Gesellschaft sah ich... die Gesellschaft eine ganz andere Gestalt gewinnen. Mehrere Familien .... waren noch dazu eingeladen; mit jedem Donnerstag erweiterte sich der Kreis ..... Vorlesungen, die gehalten wurden, Gespräche über Werke der Kunst, die man auch öfters aufgelegt fand, wechselten ab mit leichter Unterhaltung über Vorfälle des Tages, über das Theater, über neue Erscheinungen in der Literatur, über bekannte ausgezeichnete Personen, selten über Politik, die man gern vermied, nachdem der Feind ganz Deutschland überzogen hatte. »Man möchte draußen sein,« sagte Goethe, »aber es giebt kein Draußen.« ..... – Goethe war am meisten bemüht, den Krieg von sich abzuhalten und sich das Leben angenehm zu machen. Er dichtete um diese Zeit: »Ich hab' meine Sach' auf nichts gestellt.« – Am Sylvesterabend, wo Frau Schopenhauer einen engeren Kreis (wozu ich auch mit gehörte) geschmackvoll bewirthete, war er überaus heiter. Unter anderm erzählte er von dem Erfolge des großen Räthsels, das er in die Welt ausgesandt. Briefe über Briefe kamen mit Auflösungen; es kostete viel Porto, und der Bediente gerieth außer sich. »Lassen wir das noch eine Weile,« sagte er. »Es ging vorzüglich nach dem Harze zu, und endlich brach es sich am Brocken.« – Dann neckte er die Bardua, die mich mit einem Einfalle malen sollte. Den folgenden Tag, als er wiederkam, saß sie unter dem Tische, weil sie seinen Befehl nicht vollzogen hatte.[131] Wie sie aber jetzt hervorrauschte, erschreckte sie sein ernstes Gesicht – der Scherz war vorüber.

..... Dann kam von mir ein Lustspiel daran: »Der Dichter und sein Vaterland – als Vorschlag zu einer Todtenfeier für alle Dichter, die gestorben sind und noch sterben werden.« Es wurde zur Zeit der Jenaischen Schlacht gedruckt und jetzt, vom Krieg umringt, mußte es sein Publikum in Weimar, ja, in diesem Kreise suchen. Fernow brachte es am Neujahrstage zum Vortrag, und Goethe, der es schon kannte, äußerte zuletzt, wo das zu einem Denkmal gesammelte Geld auf den Grabhügel des todtgeglaubten Dichters gelegt wird und er nun plötzlich selbst, es zu empfangen hervortritt: »Hier will ich dem Autor den Vorschlag thun, daß er einen von den Gesandten der grünen Inseln sagen läßt: Ich muß protestiren; für diesen Fall habe ich keinen Auftrag.« Gewiß ein köstlicher Einfall, der den Widerspruch – für einen lebenden Dichter nichts zu thun und für den todten Schätze zu einem Denkmale zu sammeln – recht in das hellste Licht setzt. Goethe schickte das Lustspiel auch an Knebel, und die Herzogin Amalia, glorreichen Andenkens, ließ es sich ebenfalls in ihrer Abendgesellschaft vorlesen.

– – – – – – – – – – – – – –

Ein Hauptgegenstand der Betrachtung blieb in diesem Kreise immer Goethe, und gewiß werden es die meisten Leser gern sehen, wenn ich bei ihm noch besonders verweile. Doch dürfen sie nicht zu viel erwarten. Es ist[132] nicht meine Absicht, hier ein vollständiges Bild von ihm zu entwerfen, wie es mir nach fünfundzwanzigjährigem Verkehr mit ihm vielleicht möglich wäre, sondern nur einzelne Züge von ihm anzuführen, wie sie eben in dieser Gesellschaft zum Vorschein kamen.

Das Merkwürdigste war, ihn fast jedesmal in einer anderen Stimmung zu sehen, sodaß, wer ihn mit einemmale zu fassen glaubte, sich das nächstemal gewiß gestehen mußte, daß er ihm wieder entschlüpft sei. Man hatte bald einen sanft-ruhigen, bald einen verdrießlich-abschreckenden (auch Kummer drückte sich bei ihm gewöhnlich durch Verdrießlichkeit aus), bald einen sich absondernden, schweigsamen, bald einen beredten, ja redseligen, bald einen episch-ruhigen, bald – wiewohl seltener – einen feurig-aufgeregten, begeisterten, bald einen ironisch-scherzenden, schalkhaft-neckenden, bald einen zornig-scheltenden, bald sogar einen übermüthigen Goethe vor sich. Wenn uns ein solcher Wechsel bei ihm in Verwunderung setzt, rührt es nur daher, daß wir die menschliche Natur überhaupt zu wenig kennen. Diese große Verschiedenheit oder Menge von Stimmungen war bei Goethe etwas ganz Natürliches, ja Nothwendiges; denn wie hätte er bei seiner Richtung auf Universalität in so vielerlei Verhältnisse und Gemüthsverfassungen sich mit Leichtigkeit versenken können, wenn seiner Phantasie nicht auch eine große Schmiegsamkeit des Gefühlsystems wäre beigegeben worden, ein wandelbares Mitempfinden, das bei aller Ruhe und Freiheit[133] doch zum Medium des Auffassens und zur Grundlage einer neuen Schöpfung dienen muß. Eine solche innerliche Beweglichkeit ist aber auch im gewöhnlichen Leben nachwirkend. Goethe übte gewiß eine Herrschaft über sich, wie leicht niemand; dennoch drang ein Nachhall der letzten Stunde oder die Laune des Augenblicks oftmals durch die feste Haltung hindurch, und als Gast, ohne besondere Verpflichtung, ließ er sich hier weit freier gehen als zu Hause, wenn er selbst Gäste empfing. – Es konnte einem ganz ängstlich zu Muthe werden, wenn er verstimmt in die Gesellschaft trat und aus einem Winkel in den andern ging. Wenn er schwieg, wußte man nicht, wer nun reden sollte, wenn nicht etwa Bertuch mit einer Erzählung aushalf. Unter diesen Umständen und da er ohnehin sich gern gegen die Außenwelt verwahrte, muß man es der Wirthin als einen klugen Einfall nachrühmen – wenn es nicht vielleicht auf Meyer's Rath geschah – daß sie nicht weit von der Thüre einen Tisch mit Apparat zum Zeichnen aufgestellt hatte, woran er sich nach Belieben setzen konnte, wenn er eben nicht zum Reden aufgelegt war. Hier brachte er viele Landschaften zu Stande, die, wenn wirkliche Maler auch nichts Besonderes daran fanden, für die Wirthin doch immer ein sehr ehrenwerthes Andenken blieben.

Um so liebenswürdiger war er aber, wenn er gesellig-aufgelegt in einem kleinen Kreise ein leichtes Wechselgespräch unterhielt, worin einer um den andern[134] sein Scherflein beisteuerte. Gewöhnlicherweise warf er weder mit Witz noch Ideen um sich, ja, er vermied diese sogar, sondern er gefiel sich meist im Ton einer heitern Ironie, die etwas zu loben schien, dessen Unhaltbarkeit sich so von selbst ergeben mußte. So wurde der Tadel zu einem anmuthigen Ergötzen und das Unvorkommene wieder zum Genuß. Schnelle Kreuz- und Quersprünge konnte er in der Unterhaltung nicht leiden. Ich lief öfters damit an, von Einfällen des Augenblicks verleitet, und ich hatte dann immer zu bemerken, daß er sich mit der Hand über das Gesicht fuhr. –

Noch mehr liebte er, etwas ruhig durchzusprechen, wobei andere oft nur beipflichtend und fragend beförderlich waren, während er eigentlich das Gespräch führte und fortsetzte. Höher noch stieg seine Liebenswürdigkeit, wenn er ganz und gar einer epischen Stimmung sich hingab, wenn er z.B. ein römisches Carneval beschrieb oder sonst etwas von Italien erzählte. Hier konnte man stundenlang ihm zuhören und die ganze übrige Gesellschaft darüber vergessen. Die Ruhe, die Klarheit, die Lebendigkeit, der an's Komische hinstreifende halb feierliche Ton, womit er schilderte, und alles deutlich vor Augen stellte, flößte mit dem Reize der Unterhaltung zugleich ein großes Behagen, ein großes Wohlgefallen am Leben ein, wodurch der Blick sich erweiterte und das Herz von einer schönern Welt Besitz nahm. Man erkannte darin das Ziel der Goetheschen Muse, schon dieses Leben in ein anmuthiges Eden zu verwandeln[135] und den bestmöglichen Gebrauch desselben zur Ausgabe unserer Weisheit zu machen. So angenehm fesselnd indeß auch seine Schilderungen waren, die höchste Glorie umleuchtete ihn erst in Augenblicken der Begeisterung, wenn ein lebhaftes Roth die Wangen überflog, deutlicher der Gedanke auf der erhabnen Stirn hervortrat, himmlischer noch die Strahlen seines Auges glänzten, und sein ganzes Antlitz sich zum Ausdruck einer göttlichen Anschauung verklärte. Es war dieß namentlich der Fall, als er eines Abends Calderon's standhaften Prinzen vorlas (den 22. März 1807). Bei der Scene, wo der Prinz als Geist mit der Fackel in der Nacht dem kommenden Heere voranleuchtet, wurde er so von der Schönheit der Dichtung hingerissen, daß er mit Heftigkeit das Buch auf den Tisch warf, daß es auf die Erde fiel.

Nicht am Großen allein, an jeder neuen Erscheinung von nur einiger Bedeutung nahm er den wärmsten Antheil, sobald in der Kunst nur die Natur, sei es einfach oder durch künstliche Formen, siegreich hindurch drang, und wenn irgend etwas Aufsehen machte, ließ er sich davon erzählen, wobei er fast immer auf Seiten des Volks war, dessen Stimme er gern für ein Zeugnis der unbewußten Natur nahm. Er haßte die Kritiker, die an den Fehlern haften und in der Negation sich herumdrehen. Von ihm konnte man lernen zu genießen. Er hielt sich an das Schöne eines Kunstwerkes und sagte dann wohl bei einer Eigenheit: »Das[136] muß man nun dem Künstler zugeben, er will seine Freiheit, will auch seinen Spaß haben.« Wenn nur etwas Freude machte, ging seine Nachsicht sehr weit. Sprach man z.B. von ergötzlichen Scherzen in Clauren'schen Lustspielen, so ließ er seine Weise und das aus dem Leben Dargestellte gern gelten: »es käme wohl nur darauf an,« sagte er, »es mehr zu heben.« Dieß war ein Lieblingsausdruck von ihm, womit er zugleich seine eigene Art des Idealisirens bezeichnete. Recht tolles Treiben in den Weimarischen Volksstücken ergötzte ihn vorzugsweise, und der Ausspruch: »es ist etwas Verruchtes!« war für diesen Fall in seinem Munde für ein Lob zu achten. Er fügte dann auch wohl hinzu: um zu einer solchen Komik zu gelangen, müsse man von etwas Absurdem ausgehen. –

Mit Vergnügen sah man ihn in größerer Bewegung, wenn eben etwas Neues, wie z.B. zur Zeit die erste Sammlung von Volksliedern oder das Nibelungenlied oder die allemanischen Gedichte seine Phantasie ergriffen hatte, und, geschah es dann, daß er in der ersten Aufregung im Lobe etwas übertrieb, wer hätte ihm das übel deuten sollen! Es war so reinmenschlich und so poetisch zugleich. Er kam auch bald wieder in sein voriges Gleichgewicht zurück. Ein Übel entsprang indeß gar oft daraus für einseitige Verehrer und Bewunderer des Schönen. Sie beriefen sich nun alle auf Goethe, als ob er sich gerade für dieses oder jenes, wie wenn es das Einzige oder Höchste wäre, erklärt[137] hätte; jede Partei zählte ihn zu den Ihrigen und machte ihn zu ihrem Anwalt oder gar zum Oberhaupt. Goethe aber blieb an keiner Sache haften; mit allseitiger Empfänglichkeit wanderte er durch eine große Mannigfaltigkeit von bedeutenden Erscheinungen, und mit Recht konnte er daher von sich sagen: »Wenn die Leute glauben, ich wäre noch in Weimar, dann bin ich schon in Erfurt.«

Man muß überhaupt nicht glauben, daß Goethe in seinen Ansichten immer fest und entschieden gewesen wäre. Nein! das aber sicherte grade seine Freiheit für die Erkenntniß so verschiedener Dinge, daß er sich immer das weitere vorbehielt, jedes Ding immer wieder, so oder anders, in Betrachtung zog, und das, was ihm für den Augenblick gewiß schien, immer wieder einer neuen Prüfung unterwarf. Sein Zweifeln und Annehmen ging oft bis in das Sonderbare. So sagte er einmal zu mir: »Ich weiß doch nicht, ob nicht die Franzosen (mit ihren klassischen Trauerspielen) auf dem rechten Wege waren.« Er sprach vielleicht in seinem eignen Interesse, da er selbst durch seine ruhig-epische Natur die Richtung bekommen hatte, daß er die handelnden Personen in seinen Dramen ohne viel Geräusch ihr Inneres, was allerdings immer die Hauptsache bleibt, in ausführlichen Reden gegen und neben einander sich aussprechen ließ. Daß er auf diese Weise keine theatralische Wirkung hervorbringen konnte, fühlte er nachher gar wohl und sagte: »Ich habe gegen das Theater[138] geschrieben.« So erwähnte er gelegentlich auch als eines Vortheils der besondern Kraft, die bei Shakespeare in Sprüngen und plötzlichen Übergängen läge. – Ein andermal äußerte er gegen mich: »Es kam doch wohl auf Richelieu an, der französischen Kunst und Literatur eine andere Wendung zu geben.« Ich entgegnete: »Sollte so etwas wohl von einem einzelnen Menschen abhängen?« Da sah er mich mit großen Augen an und sagte nach einer Pause: »Legen sie mir Münzen aus allen Zeiten vor, ich will sagen, aus welchem Jahrhunderte sie sind.« Mir war, als ob sein Geist plötzlich in einer furchtbaren Glorie hervorträte, da ich ihn so sein ganzes Selbstgefühl, ohne Hehl die Kraft seines Genies aussprechen hörte. – Über Shakespeare, bei dem manche alles als klug berechnete Kunst bewundern, war seine Meinung, daß er mit genialem Naturinstinkt gearbeitet, sich gleichsam einen Rahmen gezogen und da mit dreister Hand seine Figuren hineingezeichnet habe. In Calderon sah er schon mehr einen künstlichen Dichter. Über Werke der bildenden Kunst äußerte er sich indeß viel häufiger, als über Werke der Poesie: mit dieser war er vermählt, jene blieb immerfort seine Geliebte. – Außerdem lag die weite Natur und das ganze Leben zur Betrachtung vor ihm. Zu welchem unbemerkten Punkt in der Erscheinung man sich auch im Gespräche verirren mochte, man traf ihn dort. Ich erwähnte einmal das Belauschen der Stille bei dem allmähligen Verhallen des Tages. Da hatte er schon längst an[139] einem schwülen Sommerabende draußen auf dem Hügel gesessen und auf die Töne hingehorcht, die mit leisem Athem bis zur schweigsamen Mitternacht in der Luft sich begegnen. – Ein andermal fragte er mich, ob mir auch das Glück zu Theil geworden, zuweilen im Traume zu fliegen, und wie das geschehe; er möchte gern in der Art und Weise auf etwas Allgemeineres kommen. Er fliege im Zimmer oder in einem Saale immer oben im Kreise herum. Ich erwiederte: Mein Fliegen sei unstät, bald niedriger, bald höher, wohl bis auf das Dach. – Still für mich erkannte ich in seiner Art zu fliegen wieder den Charakter der ruhig epischen Beschaulichkeit, aber laut gegen ihn hätte ich doch diese Bemerkung nicht machen mögen.

Goethe liebte bei aller Natürlichkeit – in Verbindung mit dem Plastischen – doch das Förmliche und Feierliche ein wenig. Zum Theil rührte dieß vielleicht auch von der strengen Sitte der alten Zeit her. Wenn er eintrat, schritt er, ohne rechts oder links zu schauen, mit steifer Haltung durch alle Personen hindurch geradeswegs auf die Wirthin zu, machte ihr sein ernstes Kompliment und verneigte sich dann mit einer sanften Verbeugung gegen die Übrigen im Kreise herum. Mit kurzen, schnell wechselnden Reden über etwas leicht hinzugleiten, war ihm nicht eigen; eher that er etwas mit der Milde eines halb ausgesprochenen Wortes ab. Sonst sprach er in der Regel etwas langsam, nach den tiefern Tönen zu, mit einer bequemen Würde, die den[140] Gegenstand von sich entfernt hält und auch gegen persönliche Annäherung sich verwahrt. Dieß Entfernthalten drückte sich auch praktisch häufig in den Worten aus: »das ist nun so!« – oder: »das wird sich machen lassen!« – Selbst das Heitere mußte sich oft der Förmlichkeit unterwerfen, wie einmal z.B. bei der Verlosung eines Bildes (d. 10. Februar 1814), wozu erst umständliche Vorbereitungen getroffen wurden, und sein Sohn dann an einem besonderen Tische mitten im Zimmer wie zu Gericht saß. – Einen Auftritt dieser Art gab es eines Abends bei einer Vorlesung, wobei das Feierliche aber beinahe in's Komische umschlug. Goethe hatte nämlich schottische Balladen mitgebracht und erbot sich, eine von ziemlicher Länge selbst vorzutragen, doch so, daß den wiederkehrenden Satz, der bei jedem Verse vorkam, die Frauen immer im Chor dazwischen sprechen sollten. Der pathetische Vortrag begann, die Damen hielten sich bereit und fielen zur rechten Zeit ein, glücklich kam man über den ersten Vers hinaus, aber als dieselben Worte sich zum zweiten- und drittenmal wiederholten, überwältigte die Frau Professorin Reinbeck ein unwillkürliches Lachen. Goethe hielt inne, ließ das Buch sinken und strahlte sie alle mit den feurigen Augen eines donnernden Jupiters an: »Dann lese ich nicht!« sagte er ganz kurz. Man war nicht wenig erschrocken; aber Johanna Schopenhauer bat vor, gelobte auf's neue Gehorsam und verbürgte sich für die Übrigen. Nun ging es in Gottes Namen[141] wieder vorwärts – und in der That! sämmtliche Damen auf Kommando das Kinn taktmäßig zugleich bewegen zu sehen, hatte so viel von der Komik an sich, daß die volle Autorität eines Goethe dazu gehörte, die ganze Gesellschaft in dem angeordneten feierlichen Ernste zu erhalten. Eine ähnliche Peinlichkeit erlebte ich an einem musikalischen Abend (d. 31. Dezember 1807), als die Hofräthin Sänger und Sängerinnen vom Theater zu sich eingeladen hatte. Goethe kam von der Lektüre Italienischer Schäfer-Idyllen und befand sich in einer sanften lyrischen Stimmung, in welcher er sich auch mit großer Anmuth über das Gelesene aussprach. Nachdem herrliche Lieder, besonders von Zelter, waren gesungen worden, während Goethe in den Zimmern auf und abging, setzte sich die Gesellschaft an verschiedene Tische. Ich bekam meinen Platz unter den Künstlern und gab mich hier um so lieber lustigen Einfällen hin, als in diesem Kreise sich eine Lachtaube befand, die für Scherze sehr empfänglich und reizbar war. Aber plötzlich – mitten in der Fröhlichkeit – klopfte Goethe auf den Tisch, augenblickliche Stille und Gesang gebietend. Da hätte man sehen sollen, wie das halb ausgesprochene Wort auf den Lippen erstarb, wie die Mienen zuckten und ein Wetterleuchten über die Gesichter fuhr. Lachtaube hatte die erste Stimme – sie kämpfte ritterlich – mit bewunderungswürdiger Fassung rang sie sich auf und die andern folgten ihrem Flug, während manche bitter-süße Thräne über hochgeröthete[142] Wangen floß. Zum Glück haben Schauspieler sich mehr in der Gewalt als andere Menschen. – Sie blieben nun auf ihrer Hut, und wie Goethe einmal aufgestanden war, schlich einer nach und kam mit der Nachricht zurück: er lacht! was denn die vorige Lust wieder zurückführte. – In muntrer Laune verlor sich Goethe zuweilen in eine bis zum Ermüden anhaltende Scherzhaftigkeit oder in eine Neckerei mit einer und derselben Sache. So plagte er uns einmal einen ganzen Abend (den 19. April 1812), indem er verlangte, daß wir den Inhalt der neuen, uns völlig unbekannten Stücke errathen und angeben sollten, von denen er eben im Theater die Probe gehalten. Trafen auch einzelne Worte zu, wie wenn man zu einer Aufführung Requisite zusammenschleppen sieht und von einem Degen auf einen Offizier, von einem Hirschfänger auf einen Jäger schließt, so wollte doch kein ganzer Zusammenhang entstehen, und wir blieben immerfort auf der Folter der Langenweile. Ob er es selbst nicht fühlt, fragte man sich, welchen Zwang er uns anthut? Aber es gehört nun einmal mit zu den Eigenschaften eines großen Geistes, daß er mit seiner Überlegenheit gegen Andere zuweilen die Grenzen überschreitet, besonders, wenn er durch Huldigung und Unterwerfung schon verwöhnt ist. Wer sich darüber verwundert, kennt die menschliche Natur nicht. – Ein andermal – er kam mit einer Weinlaune, noch halb geputzt, vom Hofe – übte er völligen Übermuth aus, und zwar gegen[143] Wieland auf eine fast bösliche Weise (den 13. November 1808). Er reizte ihn durch Widerspruch, und man hörte gleich, daß es ihm nicht darum zu thun war, Recht zu behalten, sondern nur, ihn in Harnisch zu setzen. Wieland nahm die Sache ernsthaft, und ärgerte sich denn auch in allem Ernste. Meyer hielt sich zu Goethe als sein treuer Adjutant, und seine zurechtweisenden Worte: »Lieber Wieland, Sie müssen das nicht so nehmen!« klangen mir verletzend.

Mit wirklichem Zorn trat er eines Abends (den 17. Mai 1808) ein, als ihn Friedrich Schlegel aus seiner Ruhe aufgejagt hatte, wenn ich nicht irre, durch die öffentliche Behauptung, daß in seiner poetischen Gesinnung die Grundsätze von Voltaire anzutreffen wären. Man trachte dahin, meinte er, ihn ganz allmählich herunterzuziehen, ihm etwas und dann wieder etwas zu nehmen u. s. w. »Aber man sollte nur wissen,« fuhr er fort, »wie sie es in Jena getrieben haben. Da haben sie angereizt, einen Musenalmanach heraus zugeben – um ihre eignen Gedichte zu drucken und ein schönes Honorar zu bekommen. Diese Scene hat Falk in seinem Buche über Goethe sehr ausführlich beschrieben, aber so viel aus seiner eigenen Phantasie hinzugedichtet und die einfachen Worte so überschwenglich mit seinen ihm eignen pathetischen Ausdrücken vermischt, daß Goethe darin nicht wieder zu erkennen ist.


b.[144] 1

[I. Goethe hatte einen von Runge in Papier ausgeschnittenen Blumenstrauß zur Ansicht in die Abendgesellschaft der Schopenhauer mitgebracht, wodurch letztere bewogen worden war, einen von einer Fuchsie umschlungenen Kastanienzweig auszuschneiden und diesen am 3. December 1806 Goethen vorzulegen. Sie schreibt darüber:]


Nun hättest Du [Arthur Schopenhauer] ihn und seine Freude über meine Kunst sehen sollen, wie er es gewahr wurde. Gegen Runge's Bouquet mußte ich freilich zurückstehen, aber meines war in der Art ein erster Versuch; denn die Blumen sind in Lebensgröße. Nun kamen verschiedene, die meine Arbeit für Runge's Arbeit hielten, welche sie früher gesehen hatten, und Goethe rief dann ganz triumphirend, wenn sie lange bewundert hatten: ›Nein, die Frau, die kleine Frau hat das gemacht! Solche Streiche macht sie! Sehen Sie einmal, sehen Sie einmal recht, wie hübsch das ist!‹ Er freute sich darüber wie ein Kind zum Weihnachten .... Die übrigen gingen an's Clavier im Nebenzimmer, ich blieb allein bei Goethe an seinem Zeichentische; denn ich kann ihn nicht genug sehen und hören. Nun erzählte er mir von einem Ofenschirme, den ich so machen müßte, machte mir mit ein paar Strichen eine Zeichnung dazu[145] und will mir auch beim Aufkleben helfen. Hernach versammelten sich Meyer, Fernow und Schütze um uns; wir machten einen kleinen Kreis, die Bardua kam dazu, mit welcher heillos umgegangen ward, und der Abend verging unter Scherz und Lachen.«

II. [Den 7. (?) December 1806.] Die Frau des Marschall Lannes kommt hier durch und sollte bei ihm [Goethe] logiren. Weil sie schon viele Tage erwartet wurde und nicht kam, so meinte er, sie käme gar nicht, aß richtig zu Mittag eine kalte Gänseleberpastete, die für die Dame bereitet war und kam den Abend zu mir. Nun kam die Dame, und die Pastete war verzehrt, und er war bei mir und mußte fort.

III. Gestern [19. (?) December] war mein Zirkel kleiner, aber um so interessanter, obgleich niemand etwas zum Vorlesen mitgebracht hatte. Ich schnitt wieder Blumen aus, und Goethe war beschäftigt, sie zu einem Ofenschirme zu ordnen, den er selbst aufkleben will. Dabei erzählte er Anekdoten aller Art. Die Bardua malt jetzt Goethe; ich glaube fast, er würde mir auch sitzen, wenn ich ihn darum bäte. Den Muth dazu hätte ich wohl, aber wenn's zur Ausführung käme und er mich dann so ernsthaft mit seinen durchdringenden Augen ansähe, dann wäre ich in Gefahr, davonlaufen zu müssen. Also lasse ich es lieber; die Bardua wird mir aber das Bild, welches sehr ähnlich werden soll, copieren. – Letzt sprach man bei mir vom Latein, wie nothwendig es wäre und wie wenig es jetzt gelernt[146] würde. Ich sagte, Du hättest es in Deiner Kindheit durchaus nicht lernen können, obgleich Du lebende Sprachen sehr leicht vollkommen begriffest. Goethe sagte: es wundere ihn nicht; es wäre ungeheuer schwer, da hälfe keine Methode, die ganze Kindheit müsse darauf zugebracht werden. »Wenn zehn Louisd'or auf einem Tische liegen, kann man sie leicht einstreichen, aber wenn sie tief in einem alten Brunnen liegen und Steine, Schutt und Gebüsch obendrauf, dann ist's ein ander Ding; ein Kind kriegt dann wohl mühsam hinein, aber ein Erwachsener muß es bleiben lassen.« Ich sagte, Du hättest Lust, es noch zu lernen, ich wolle Dir aber abrathen. Dies solle ich auch nicht thun, sagte er; es bliebe doch immer etwas hängen, und wenn Du es noch thun wolltest, so wäre es sehr gut und nützlich, obgleich Du es zur Vollkommenheit nicht bringen würdest.

IV. Er ist ein unbeschreibliches Wesen; das Höchste wie das Kleinste ergreift er. So saß er denn an diesem Abend [25. December] eine lange Weile im letzten meiner drei ... Zimmer mit Adele ... und der jüngsten Conta, einem hübschen, unbefangenen sechzehnjährigen Mädchen. Wir sahen von weitem der lebhaften Conversation zwischen den dreien zu, ohne sie zu verstehen; zuletzt gingen sie alle drei hinaus und kamen lange nicht wieder. Goethe war mit den Kindern in Sophie's Zimmer gegangen, hatte sich dort hingesetzt und sich Adele's Herrlichkeiten zeigen lassen, alles[147] Stück vor Stück besehen, die Puppen nach der Reihe tanzen lassen, und kam nun mit den frohen Kindern und einem sehr lieben milden Gesichte zurück, wovon kein Mensch einen Begriff hat, der nicht die Gelegenheit hat, ihn zu sehen, wie ich.

V. Am Abend des 4. [Januar] fing Goethe an von seinem herannahenden Alter zu sprechen mit einer Weichheit des Tones, mit einem so edlen Selbstbewußtsein, daß es uns alle tief rührte. Dabei hielt er mich fest bei der Hand; er thut das oft und erinnert mich dabei lebhaft an Deinen Vater, der mich dann auch so festhalten konnte.

VI. Am Donnerstag ... [den 5. Februar] bestand mein Zirkel fast nur aus Herren, aber es waren gerade die interessantesten; Frau v. Goethe war die einzige Dame. »Weil wir eben in solchem kleinen vertraulichen Zirkel sind« – fing er an – »so will ich denn eine Naturnothwendigkeit mittheilen; es ist billig, daß man unter Freunden sich dergleichen wechselseitig mittheilt.« Und damit fing er aus einem Briefe eine Geschichte von einer Mamsell, die in die Wochen gekommen war, zu lesen an. Darüber kam die Bardua. »Gerechter Himmel, da kommt die Bardua!« rief er aus; »nun darf ich nicht weiter lesen.« »Es thut nichts,« sagte ich; »die Bardua muß draußen bleiben.« Das war Wasser auf seine Mühle. Der Bardua kündigte er gleich gravitätisch an, sie müsse draußen bleiben. Den Bertuch, den Sohn, der gewaltig lang ist, stellte er an[148] die zugemachte Thür, welche die Bardua von außen gewaltig berannte. »Halten Sie Ihren Posten wohl, Bertuch! Denken Sie, Sie sind in Breslau. Es soll Ihr Schade nicht sein; ich will schon so lesen, daß Sie dort so gut hören sollen, wie hier.« Die Bardua machte einen erbärmlichen Spektakel; er ließ sich nicht stören und verwies sie nur von Zeit zu Zeit mit ein paar Worten zur Ruhe und Geduld. Zuletzt spielte sie aus Leibeskräften auf dem Claviere. »Eine Kriegslist!« sagte er; »hilft nichts! wir lesen lauter.« Und so erhob er die Stimme oder ließ sie sinken, nachdem sie accompagnirte, wie in einem Melodram bis ans Ende, wo sie dann feierlich hereingeholt ward. Alles dies ist nichts, aber man muß es sehen. Dieses kleine Intermezzo stimmte uns alle lustiger; es wurde viel den Abend gelacht. Zuletzt aber kam das Gespräch auf die Allemannischen Gedichte [von Hebel]. Meyer, als Schweizer, und Legationsrath Weyland, als Elsasser, sind der Sprache mächtig und lesen manches daraus sehr hübsch vor. Goethe ist die Sprache fremd, er las aber doch sein Lieblingsstück, »Das Gespenst an der Kanderer Straße«, und er las es, wie nur er lesen kann.

VII. Seit ein paar Abenden [vor dem 10. März 1807] liest Goethe selbst bei mir vor, und ihn dabei zu hören und zu sehen ist prächtig. Schlegel hat ihm ein übersetztes Schauspiel von Calderon [»Der standhafte Prinz«] im Manuscripte geschickt; es ist Klingklang[149] und Farbenspiel, aber er liest auch den Abend keine drei Seiten: sein eigner poetischer Geist wird gleich rege. Dann unterbricht er sich bei jeder Zeile, und tausend herrliche Ideen entstehen und strömen in üppiger Fülle, daß man alles vergißt und den Einzigen anhört.

VIII. Er hat jeden Abend seinen »standhaften Prinzen« standhaft gelesen bis gestern [22. März], wo er ihn zu Ende brachte. Es ist ein wundersames Wesen darum, und es sind wahrlich Dinge darin, die gerade ins Herz dringen, und wo es mir anfängt möglich zu erscheinen, daß man Calderon neben Shakespeare nennt. Aber wie viel Wust, Haupt- und Staatsactionen sind mit hineingewebt, und dann das ganze südliche Wesen, das Farbenspiel, das Spiel mit Bildern und Tönen, die unsere nördliche Naturen gar nicht ansprechen. Indessen ist es doch ein hoher Genuß, von Goethe dies lesen zu hören; mit seiner unbeschreiblichen Kraft, seinem Feuer, seiner plastischen Kunst reißt er uns alle mit, obgleich er eigentlich nicht kunstmäßig liest. Er ist viel zu lebhaft, er declamirt, und wenn etwa ein Streit oder gar eine Bataille vorkommt, macht er einen Lärm wie in Drurylane, wenn es dort eine Schlacht gab. Auch spielt er jede Rolle, die er liest, wenn sie ihm eben gefällt, so gut es sich im Sitzen thun läßt. Jede schöne Stelle macht auf sein Gemüth den lebhaftesten Eindruck: er erklärt sie, liest sie zwei-, dreimal, sagt tausend Dinge dabei, die noch schöner sind – kurz, es[150] ist ein eigenes Wesen, und wehe dem! der es ihm nachthun wollte. Aber es ist unmöglich, ihm nicht mit innigem Antheile, mit Bewunderung zuzuhören, noch mehr, ihm zuzusehen; denn wie schön dieses alles seinem Gesichte, seinem ganzen Wesen läßt, mit wie einer eigenen hohen Grazie er alles dies treibt, davon kann niemand einen Begriff sich machen. Er hat etwas so rein Einfaches, so Kindliches. Alles, was ihm gefällt, sieht er leibhaftig vor sich; bei jeder Scene denkt er sich gleich die Decoration und wie das Ganze aussehen muß.

IX. Zwischendurch singt die Bardua uns ein Lied von Goethe, von Zelter oder Himmel componirt. Er hat das gern und extert die gute Bardua nicht wenig, wenn sie undeutlich ausspricht oder gar die Verse verwechselt. Letzt habe ich entdeckt, daß sein Lied »Ich hab' mein' Sach' auf nichts gestellt« recht gut zur Melodie »Es gingen drei Bursche zum Thore hinaus« sich paßt. Darüber hatte er große Freude, und nun muß die Bardua es jeden Abend singen.


c.

In der Gesellschaft im Hause der Frau Hofräthin Schopenhauer hatten wir [Reinbeck] das Vergnügen, Bertuch, Riemer, Falk, Fernow und einige Damen zu finden. Zum erstenmale erschien die Frau Geheimräthin v. Goethe darin, eine Frau von noch vielem materiellen Reiz, an welcher man Gutmüthigkeit und[151] einen stets gleich heitern Sinn rühmte, wie dies mit Temperamenten der Art gewöhnlich verbunden ist. Später kam der Geheimrath. Er trat mit einem freundlich gezogenen Hm! Hm! nach allen Seiten grüßend ein und sah sich gleich nach einem Stuhle um. Jetzt beschaute er sich den Kreis und als sein Auge auf mich fiel, stand er auf und kam auf mich zu. Natürlich erhob ich mich sogleich. Er bückte sich feierlich und sagte: er habe mir seinen Dank abzustatten. Ich fragte, wodurch ich so glücklich gewesen sei, mir diesen zu erwerben. »Ich hatte immer den Vorsatz, Rußland einmal zu besuchen,« antwortete er, »Sie haben mich aber vollkommen davon geheilt.« »Das würde ich sehr bedauern,« erwiderte ich, »zunächst für Rußland ... dann aber auch, erlauben Ihre Excellenz, daß ich es sage, um Ihrer selbst willen« ... Es war von seiner Seite eine scherzhafte Wendung, mir anzudeuten, daß er meine damals erschienenen »Flüchtige Bemerkungen auf einer Reise über Moskau« etc. gelesen habe, die einiges Aufsehen machten durch die von den gewohnten Lobpreisungen eines Storch hier und da abweichenden Ansichten und Schilderungen nach einem 14jährigen Aufenthalt in Petersburg ... Goethe war in der besten Laune von der Welt. Er sprach viel über Rußland, fragte nach mehreren Bekannten daselbst ... Die Conversation wurde allgemein und war ungenirt, und ich dankte meinem lieben Fernow für diese reiche Quelle des Genusses, die er mir in Weimar eröffnet hatte und[152] die ich von diesem Abend an nie unbenutzt ließ. Ich machte hier die interessantesten Bekanntschaften. Goethe fehlte selten dabei ... Da fand sich immer etwas Neues zu berichten oder vorzuzeigen, wozu dann auch Goethe und Meyer hilfreich waren ... Oft wurde auch vorgelesen, besonders Calderon in der Übersetzung von Schlegel. Die Rollen wurden vertheilt und an den Chören mußten auch die Frauen theilnehmen. Goethe wies sie an, wie sie sprechen sollten, wobei es denn oft belustigenden Widerspruch gab. Im Tragischen gefiel mir Goethes Vortrag nicht, ich fand zuweilen falsches Pathos darin, aber im Komischen war er ganz unvergleichlich. Oft betraf auch die Unterredung die Sprache, und ich erinnere mich noch des Aufwandes von Scharfsinn, für aufgegebene Fremdwörter echt deutsche zu suchen. So schuf Goethe für Balanciren: in der Schwebe, und ich glaube, der Ausdruck, der in den meisten Fällen so treffend ist, trat an diesem Abend zuerst hervor. Der unlängst erlebten Katastrophe wurde fast gar nicht gedacht, und ich erinnere mich nicht, daß Goethe jemals über Politik gesprochen hätte.

– – – – – – – – – – – – –

Wir besuchten zum letztenmale die Gesellschaft im Schopenhauer'schen Hause und fanden sie zahlreicher als gewöhnlich. Goethe unterhielt sich viel mit mir von meinen Plänen, die damals noch ins Weite gingen und nach dem schönen Italien strebten und man kann[153] sich leicht vorstellen, wie unterhaltend und belehrend seine Äußerungen waren. Gelesen wurde diesen Abend nicht, und wenn dies der Fall war, so pflegten Goethe und Meyer, nachdem etwa eingetroffene neue Kunstblätter beschaut und beurtheilt waren, auf kleinen Papierblättern mit Bleistift zu zeichnen, Goethe gemeiniglich Landschaften, die er dann wohl in Sepia ausführte. Das geschah auch diesmal. Ich saß am Zeichentische Goethe gegenüber. Er hatte ein Blatt vollendet, sah zu mir herüber und schnellte das Blättchen mir zu und ich – ich muß mich schon auslachen lassen – statt es sogleich einzustecken als ein höchst willkommenes Andenken, war zu schüchtern dazu. Ich besah es und legte es dann wieder zu Goethe hinüber auf den Tisch. Als er aufgestanden war, wollte ich das Versäumte nachholen, allein das Blättchen war nicht zu finden. Wahrscheinlich war ein Anderer gescheidter gewesen und hatte es an sich genommen. In Hinsicht der Kunst waren diese Zeichnungen nicht eben bedeutend. Auch zeigte sich in Goethe kein besonderer musikalischer Sinn, aber seine Lieder in Reichardt'schen oder Zelter'schen Compositionen zu hören, machte ihm auch bei mittelmäßigem Vortrag Vergnügen.


1 Die Schilderungen unter b können leider nur in den von Düntzer in brockenhafter, verwirrender Darstellung veröffentlichten, z. Th. unbestimmbaren Bruchstücken von Briefen der Schopenhauer an ihren Sohn wiedergegeben werden.[154]


286.*


1806 oder 1807.


Mit Heinrich Luden

Nach der Schlacht bei Jena erkundigte ich mich bei jeder Gelegenheit, wie es Goethen in den unglücklichen Tagen gegangen wäre, und alle Erkundigungen brachten mich zu dem Glauben, daß auch Er sein Kreuz zu tragen gehabt und den Jammer getheilt hätte, den ein siegreicher Feind, übermüthig und trotzig, wie über die Besiegten, so über die wehrlosen Angehörigen der Besiegten zu bringen pflegt. Etwa vier Wochen nach dem unglücklichen Tage fand ich Goethe bei Knebel. Er war zum ersten Mal wieder in Jena.1 Sein Gesicht war sehr ernst, und seine Haltung bewies, daß auch auf ihm der Druck der Zeit lag. »Der Mann,« sagte Knebel, »hat's empfunden.« – »›Ich habe schon gehört,‹« fügte Goethe zu mir gewendet hinzu, »›daß Sie sehr hart mitgenommen sind.‹« Ich konnte mein Schicksal in wenige Worte zusammenfassen und that es. »Von allem,« sagte ich, »was wir während meiner Anwesenheit nach Jena geschafft hatten, und was ich bei meiner Abreise zurückließ, habe ich nicht das Geringste wiedergefunden bei meiner Zurückkunft, einige zerbrochene Kisten, Kasten und Koffer ausgenommen. Ich habe den Schmerz gehabt, meine junge Frau in eine völlig[155] leere und kalte Wohnung einzuführen, die kaum nothdürftig gereinigt war von abscheulichem Schmutze.« Herr v. Knebel rief aus und nicht zum ersten Male: »es ist greulich! es ist ungeheuer!« Goethe aber sagte einige Worte so leise, daß ich sie nicht verstand. Als ich hierauf Gelegenheit nahm, zu fragen, wie denn Se. Excellenz durch die Tage der Schmach und des Unglücks hindurchgekommen, antwortete Goethe mit folgenden Worten: »›Ich habe gar nicht zu klagen; etwa wie ein Mann, der von einem festen Felsen hinab in das tobende Meer schauet und den Schiffbrüchigen zwar keine Hülfe zu bringen vermag, aber auch von der Brandung nicht erreicht werden kann, und nach irgend einem Alten soll das sogar ein behagliches Gefühl sein;‹« – »nach Lukrez!« rief Knebel hinein2 – »›so habe ich wohlbehalten dagestanden und den wilden Lärm an mir vorübergehen lassen.‹« Ich will nicht leugnen: bei diesen Worten, in der That mit einer gewissen Behaglichkeit ausgesprochen, lief mir einige Kälte über die Brust hinweg. Aber sie war schnell verflogen, und da Knebel kein Wort sagte, sondern sich mit seiner gewöhnlichen Beweglichkeit abgewendet etwas zu thun machte, so erlaubte ich mir das Schweigen zu unterbrechen: »Zuletzt ist es auch nicht der Mühe werth, von meinem Verlust zu sprechen. Er ist mir nur verdrießlich, weil ich zur Zeit noch jeden Augenblick daran erinnert werde; denn ich bin in meinen Arbeiten unterbrochen[156] und gestört, ich kann die alten nicht fortsetzen und keine neuen beginnen, weil es mir an allem nothwendigen Geräth und Gezeug gebricht. Überhaupt verschwindet das Unglück der einzelnen, der Städte, Gemeinden und Familien, vor dem ungeheueren Unglücke, das auf Deutschland, unserem Vaterlande liegt. Mich drückt und quält lediglich die Zeit der Schmach und Schande, die über uns eingebrochen ist, die uns bevorsteht. Wäre die Schlacht bei Jena gewonnen worden, gern hätte ich jegliches Opfer dargebracht und auch nackt und bloß den fliehenden Feinden nachgejubelt. Und dann: alles was mir genommen worden, kann ersetzt werden. Das beste ist mir doch geblieben, und solange wir selbst sind und die Berge da feststehen und die ewige Sonne scheint, so lange gebe ich nicht verloren weder meine eigene Sache noch die Sache des Vaterlandes.« Knebel antwortete mit einigen Ausrufungen: »Bravo! So recht!« und dergleichen; Goethe aber sagte kein Wort und verzog keine Miene. Hierauf lenkte Knebel das Gespräch auf etwas Literarisches; ich aber beurlaubte mich bald.


1 Ich finde nicht, daß Goethe nach der Schlacht eher, als im Mai 1807 nach Jena gekommen sei

2 De rerum natura, II, 1 sqq.[157]


Quelle:
Goethes Gespräche. Herausgegeben von Woldemar Freiherr von Biedermann, Band 1–10, Leipzig 1889–1896, Band 2, S. 105-158.
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