240. Die Erscheinung im Berliner Schlosse.304

[212] Am 15. Julius des Jahres 1709 ist der damalige Kronprinz nach der Abendmahlzeit in sein Schlafgemach gegangen, und nachdem er sich mit Beihilfe des Kammerdieners ausgekleidet, beschloß er, mit Auf- und Niedergehen[212] sich noch eine kleine Motion zu machen, wie es sonst seine Gewohnheit war. Da es aber schon ziemlich spät war und ihm wider Vermuthen ein gewisses Grausen ankam, legte er sich zu Bette und ließ die Lichter auslöschen, die sonst gewöhnlichen Nachtlampen aber anzünden, welche gewöhnlich neben dem Kamin standen, und ließ seinen Kammerdiener von sich. Da er aber eine geraume Zeit im Bette lag, ohne daß der geringste Schlaf kommen wollte, hörte er etwas durch den Kamin herunterkommen und glaubte nach seiner Einbildung, daß es eine Eule sein könne, ein Thier, welches sonst gern auf den Schornsteinen zu nisten pflegt. In der That kam auch wirklich ein Vogel zum Vorschein, aber von einer andern Gattung, welche der Prinz selbst nicht recht unterscheiden konnte. Es war eine Art Rabe, doch größer, hatte aber auch nicht die Gestalt eines Adlers. Kaum kam derselbe auf die Erde, so erhob er sich auch wieder in die Luft und flog etliche Male im Kreise in der Kammer herum. Darüber ergriff der Prinz eine Pistole, deren etliche Paar um sein Bett hingen, und wollte nach dem Vogel schießen. Als er zu dem Zwecke bereits den Hahn gespannt, besann er sich doch eines Andern, weil er zur Nachtzeit durch den unvermutheten Schuß keine Unruhe erwecken wollte, um so mehr als seine hohe Gemahlin gerade in Wochen lag. Er hing also die Pistole wieder an ihre Stelle und sah den Vogel vom Bette aus sich aufsetzen und herumfliegen, rufte aber doch seinen Kammerdiener noch nicht herbei. Mittlerweile setzte sich endlich der Vogel auf einen dem Bette gegenüber stehenden Tisch, auf welchen er gewöhnlich Hut, Stock und Degen zu legen pflegte, machte sich dann über den Hut her, hing sich mit den Krallen an denselben fest und versuchte mit aller Gewalt die Kokarde herunter zu reißen. Wie er am Eifrigsten damit beschäftigt war, öffnete sich die Kammerthüre, in welcher die Garderobe befindlich war, und aus dieser kamen sechs kleine Männchen heraus in Gestalt von Marionetten, mit langen Bärten, langen weißen Kitteln, in der Mitte aber hatten sie schwarze Flörke herunterhängen und führten lange Stecken in den Händen, gingen gerade auf den Vogel zu und schlugen auf ihn los, der aber demohngeachtet in seiner Arbeit fortfuhr. Ueber diesen wunderlichen Zweikampf erschrack nun der Prinz nicht wenig, so daß er gezwungen war, seinen Kammerdiener zu rufen. Da aber selbiger die Thüre öffnete, kam ein starker Wind, auf welchen in einem Hui sowohl Vogel als Männchen verschwunden waren, der Kammerdiener aber seinen Herrn im vollen Angstschweiß im Bette sitzend antraf, so daß er nicht wußte, was er dazu sagen sollte, oder warum er so unvermuthet gerufen worden war. Da nun aber der Prinz ihm Alles erzählte, was ihm begegnet war, so wollte der Kammerdiener ihm solches aus dem Sinne schlagen, unter dem Vorwande, daß er vielleicht geträumt habe. Jener gab aber zur Antwort, er wisse wohl, was ein Traum sei, ließ auch den Doctor holen, und als dieser früh ankam, fand er den Herrn wider sein ganzes Naturell in vollem Schweiße, der aber ganz kalt war, liegen. Derselbe hat nun zwar dem Doctor nichts gesagt, sondern hat etliche Tage das Bett gehütet, allein später hat er es selbst einigen vertrauten Dienern erzählt und nachmals bei gegebener Gelegenheit, wenn von dergleichen Geistermaterien gesprochen ward und unterschiedliche Freigeister das Gegentheil behaupteten, diesen Zufall als Beweis und Bekräftigung der Gewißheit der Existenz der Gespenster angeführt, und ihnen sonach den Mund gestopft.

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Nach den Monatl. Unterred. Bd. III. S. 656 etc.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 1, Glogau 1868/71, S. 212-213.
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