487. Die steinerne Jungfrau bei Lohra.570

[431] Wenn man sich von dem alten Schlosse rechts wendet und nach den zu der Domaine Lohra gehörigen Ländereien zu wandert, kommt man bald in einen herrlichen Wald und auf einem breiten Wege auf einen großen freien[431] Platz, wo das Forsthaus Lohra liegt, die Wohnung eines Oberförsters, der 3000 Morgen königliche und 2000 Morgen Gemeinde-Waldung zu beaufsichtigen hat. Betritt man dann von hier den Wald wieder, so gelangt man nach kurzer Wanderung auf einen Rasenweg, den einzelne alte Eichen schmücken und auf dem man dann in ein schönes Wiesenthal gelangt, welches das Helbethal heißt, weil es von der Helbe, einem reißenden Bergwasser, durchflossen wird. An dem Wege nun, welcher sich von der Höhe in das Thal herabzieht, steht links ein verwittertes Steinkreuz von eigenthümlicher Form, das eine Höhe von ohngefähr 8 Fuß hat und in der ganzen Umgegend den Namen der steinernen Jungfrau führt. Auf der dem Wege zugewandten Seite enthält dasselbe mehrere Reihen Schrift, die jetzt unleserlich geworden ist, aber vor funfzig Jahren jedenfalls noch ganz gut zu erkennen gewesen sein mag, so daß man sich wundern muß, daß sich Niemand die Mühe gegeben hat, sie abzuschreiben. Auf der andern Seite, die dem Berge zugekehrt und vor dem Einflusse der Witterung mehr geschützt gewesen ist, erkennt man deutlich die Gestalt eines knieenden Ritters, von dessen Haupte ein breites Band emporläuft, das ebenfalls Schrift enthält und von der sich auch noch einzelne Buchstaben erkennen lassen. Die verwitterte Vertiefung vor dem Ritter dürfte noch eine Figur vorgestellt haben, vielleicht die der Jungfrau, welche dem Steine den Namen gegeben hat, der jedoch auch daher entstanden sein kann, daß das Kreuz aus der Ferne betrachtet der Gestalt eines Frauenzimmers sehr ähnlich sieht. Man kennt nun hierüber zwei verschiedene Sagen. Nach der einen habe einst auf dem Schlosse Lohra ein Edelfräulein gewohnt, welches sehr mildthätig war und namentlich den armen im Walde zerstreut wohnenden Leuten Besuche abstattete und ihnen Nahrungsmittel und Arzneien brachte. Einst war sie auch mit einem Körbchen voll Eier zu einer Köhlerfamilie im Walde gegangen, da überfielen sie Räuber und erschlugen sie. An der Stelle, wo der Mord geschah, soll nun ihr Vater, der Ritter von Lohra, das Steinkreuz haben errichten lassen.

Eine andere Sage erzählt, es habe einst der letzte Graf von Lohra, Namens Heinrich, eine wunderschöne Tochter, Adelheid, besessen. Ihr Vater war ein wüster Ritter und lebte in beständiger Fehde mit seinen Nachbarn, namentlich mit den Bürgern von Mühlhausen. Einst beschloß er, die Stadt mit seinen Raubgesellen zu überfallen und zu zerstören. Seine Tochter bot Alles auf, ihn von diesem unsinnigen Unternehmen abzuhalten, allein umsonst, und so blieb ihr nichts übrig, als ihren Vater dem Schutze ihres Bräutigams, einem Ritter von Straußberg, anzuvertrauen. Letzterer versprach ihr auch, entweder ihren Vater lebendig zurückzubringen oder mit ihm zu sterben. Allein der Plan schlug fehl, als die Ritter an die Thore der Stadt kamen, fanden sie dieselben ebenso wohl besetzt als die Mauern, sie mußten umkehren und den ihnen nacheilenden Bürgern Stand halten; auch den Grafen von Lohra ereilte sein Schicksal, in dem genannten Helbethale holten ihn seine Verfolger ein, zwar leistete er tapfern Widerstand, allein er vermochte dem Andrange so vieler Gegner nicht Stand zu halten und sank bald mit Wunden bedeckt zu Boden. Auch seine Begleiter fielen, nur allein der Ritter von Straußberg entkam unverletzt und brachte der unglücklichen Tochter die Nachricht von dem Tode ihres Vaters. Empört über sein feiges Betragen und über seine Wortbrüchigkeit wies sie ihn verächtlich aus dem Thore ihrer Burg und schwur[432] einen theuren Eid, sich nie zu vermählen. Ihr Leben war fortan nur dem Andenken ihres Vaters gewidmet und sie ließ an der Stelle, wo er gefallen war, ein steinernes Kreuz setzen, welches sie täglich besuchte. So lebte sie lange Zeit ruhig und in Frieden. Da fingen plötzlich böse Nachbarn an sie zu beunruhigen, fielen in ihre Besitzungen ein und sehr bald drängten sie ihre Unterthanen, sich wieder zu vermählen, da sie außer Stande sei, sich gegen ihre Feinde zu vertheidigen. Lange Zeit sträubte sie sich gegen ein Ehebündniß, bis ihr endlich der Geist ihres Vaters erschien und sie ihres Gelübdes entband. Nun ließ sie bekannt machen, daß, wer die Ringmauer ihres Schlosses umritte, ihre Hand erhalten solle. Durch die Schönheit der Gräfin und ihr reiches Besitzthum angelockt kamen viele Ritter herbei, allein alle stürzten von der Mauer herab und Roß und Mann zerschellten an den Felsen. Endlich gelang es dem Grafen von Clettenberg, die gemachte Bedingung zu erfüllen. Er umritt die Mauer und Adelheid wurde sein Weib. In spätern Jahren ward sie aber deshalb von heftigen Gewissensbissen gequält, weil sie den Tod so vieler wackern Ritter veranlaßt hatte, und sie stiftete zur Sühnung ihrer Sünden das Kloster Walkenried.

570

S. Thüringen und der Harz, Bd. VII. S. 37 etc.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 1, Glogau 1868/71, S. 431-433.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Sagenbuch des Preußischen Staats
Sagenbuch des Preußischen Staats: Erster Band
Sagenbuch des Preußischen Staats: Zweiter Band
Sagenbuch des Preußischen Staats: Erster Band
Sagenbuch des Preußischen Staats: Zweiter Band