515. Tippelsdorf.605

[466] Zwischen Ahlsdorf und Angeroda liegt ein finsterer Wald, an dessen Stelle einst ein Dorf stand, welches Tippelsdorf hieß; auch kennt man in der Nähe noch die Tippelswiese und Tippelsbrücke. In dem Dorfe war ein Nonnenkloster und noch jetzt sieht man bei Nacht oft Nonnen im Walde umhergehen. Am lichten Tage aber sind Leute, die im Walde Gras schneiden wollten, oft erschreckt worden, doch stets zu ihrem Glücke. Manchmal nämlich haben sie plötzlich, wenn sie einen Busch Gras zu fassen meinten, die Hand voll Schlangen gehabt; wenn sie aber die Schlangen tödteten und mit nach Hause nahmen, wurden dieselben zu Gold. Andere fanden eine seltsame, in der Gegend fast unbekannte Art Rüben unter dem Grase, die eiskalt waren, und auch diese verwandelten sich nachträglich in Gold.

Ein Schäfer von Ziegelrode that ein Gelübde, wenn er einen Schatz auf der wüsten Mark Tippelsdorf finde, wolle er in seinem Dorfe eine Kirche bauen, und ging in das Gehölz um zu suchen. Und bald fand er wirklich einen unermeßlichen Schatz, von dem er die noch heut stehende Ziegelroder Kirche aufführte; und er behielt noch so viel übrig, daß er der reichste Mann der Umgegend war. Zum Andenken ist das Bild des Schäfers mit seinem Wappen auf dem rechten Beine über der Kirchthür in Stein gehauen und noch zu sehen. Nach einer andern Sage (bei Giebelhausen I. S. 28 sq.) wäre aber dieser Schäfer aus Tippelsdorf selbst gewesen, der hätte einst um Mittag seine Schafe dort gehütet, und dabei seinen Hut verloren. Endlich fand er ihn wieder, seine beiden Hunde saßen dabei, daneben aber stand eine wunderschöne Blume, die steckte er an seinen Hut. Kaum hatte er dies gethan, so waren seine Hunde verschwunden, er selbst aber stand an einer Felsenthür, dieselbe öffnete sich, er sah sich in einem Gange und aus diesem kam er an einen geräumigen Ort, der war ganz hell erleuchtet von lauter Gold, welches glänzende Strahlen warf. Eine Stimme aber rief: »Denke an Deinen Ranzen!« und so rief es immer fort, er aber ließ sich dies nicht zweimal sagen, sondern griff wacker zu und sackte ein. Da rief die Stimme abermals: »Vergiß das Beste nicht!« er aber wußte nicht, was gemeint war, sondern sackte immer wieder von Neuem ein und suchte, weil er dachte, es[466] sei noch etwas Besseres da. Als er aber nichts fand, lief er nach der Thüre und schleppte sein Ränzel neben sich fort. Allein als er die Hand an die Klinke legte, da erhob sich auf einmal ein fürchterlicher Sturm und Ungewitter und wie er die Thüre öffnete und heraustreten wollte, so konnte er sie nicht erhalten, sie schlug wieder zu, ein Theil seines Kleides blieb darin hängen und sein Fuß kam ebenfalls dazwischen. Zwar gelang es ihm noch, dasselbe nach sich zu ziehen, allein er stürzte zu Boden und siehe, da waren seine Hunde da und es war derselbe Fleck, wo er die Blume gefunden. Trotz aller Mühe aber war an kein Aufstehen zu denken, das Bein war steif und geschwollen und erst nach langem Rufen kam sein Bruder, der ganz in seiner Nähe ebenfalls seine Schafe gehütet hatte, zu Hilfe herbeigelaufen. Vor Schmerz konnte er ihm nicht sagen, was ihm geschehen sei; indeß brachte ihn jener mit vieler Mühe endlich nach Hause und nachdem er dort verbunden worden war, legte man ihn ins Bett. Am andern Morgen fand man jedoch neben dem Kranken auch seinen Ranzen, der ganz voll Goldklumpen war. Ob er nun wohl niemals wieder laufen lernte, war er doch ein reicher Mann geworden, der nicht blos an sich dachte und sich ein schönes Gut kaufte, sondern auch die Kirche und das Todtenhaus neu aufbaute. Allein die Wunderblume hatte er in dem Gange gelassen und das war das Beste, welches er nicht hätte vergessen sollen. Dieselbe kann aber noch jetzt jedes Sonntagskind wiederfinden, wenn es am Johannistag Punkt Zwölf um Mittag auf den Fleck geht, wo der Schäfer sie damals gepflückt hatte.

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Nach Sommer S. 67.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 1, Glogau 1868/71, S. 466-467.
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