527. Das Marienbild zu Memmleben.617

[474] In der güldenen Aue am Fuße des hohen, durch seine weite entzückende Aussicht bekannten Orlasberges, umgeben von herrlichen Fruchtfeldern stand das leider jetzt in Trümmern liegende Kloster Memmleben, an welchem die Unstrut in vielfachen Windungen vorüberströmt. Hier haben zwei große deutsche Kaiser ihr Leben beschlossen: Kaiser Heinrich I. der Finkler, der hier am 7. Juli 936 an einem Schlaganfall starb, und sein Sohn Otto der Große, der hier am Dienstag vor Pfingsten im Jahre 973 ebenfalls plötzlich des Todes verblichen ist. Die Eingeweide des Letztern wurden hier beigesetzt, sein Leichnam aber nach Magdeburg gebracht und dort nahe bei dem Grabe seiner ersten Gemahlin Editha beerdigt. Früher fanden sich nebst andern auch die Bildnisse Kaiser Otto's und der Editha auf den Steinpfeilern der Klosterkirche von Memmleben abgemalt, jetzt aber gewahrt man nur noch sehr wenig davon.

Im Klosterhofe steht nun aber im Durchgange der Oeconomiegebäude nach dem ehemaligen Kloster ein hölzernes Marienbild, das Christuskind im rechten Arm und in der linken Hand einen Engel mit einer Krone haltend, von sehr alter Arbeit. Von diesem Bilde erzählt man sich verschiedene Sagen. Unter andern trug es sich einmal zu, daß zwei Jungen Abends mit einander über den Hof gingen und der Eine anfing das Bild zu höhnen. Der Andere verwies es ihm und sagte, er solle doch dasselbe unbeleidigt lassen, es könne ihm Schaden bringen. »Ei«, rief der Junge, »was kann mir das todte Bild thun?« nahm es gleich von seinem Postament herab, trug es gegenüber zu einer offenen Feuerpfanne, wo man Wasser für das Vieh heiß machte, und warf es in die Gluth. Aber das Bild verbrannte nicht und blieb unversehrt. Am andern Morgen stand es wieder an seinem Orte, zu gleicher Zeit aber hörte man ein Gezeter und nahm wahr, daß der gottlose Junge hoch oben auf den Kirchentrümmern saß, in großer Noth und Angst und konnte nicht wieder herunterkommen, bis man ihn mit Leitern zu Hilfe kam. Auf Befragen, was er da oben gesucht und wie er hinaufgekommen, wußte er nichts zu sagen, als daß er nicht wisse, wie er dort hinaufgekommen sei.

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Nach Bechstein Bd. IV. S. 104.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 1, Glogau 1868/71, S. 474.
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