633. Der Auszug der Zwerge.745

[588] In dem Thale zwischen Blankenburg und Quedlinburg bemerkte einst ein Bäcker, daß ihm immer einige der gebackenen Brode fehlten und doch war der Dieb nicht zu entdecken. Dieser beständig fortdauernde geheime Diebstahl machte, daß er allmälig verarmte. Endlich kam er auf den Verdacht, daß die Zwerge an seinem Unglück Schuld sein könnten. Er schlug also mit einem Geflechte von schwanken Reisern so lange um sich her, bis er die Nebelkappe einiger Zwerge traf, die sich nun nicht mehr verbergen konnten. Es wurde Lärm. Man ertappte bald noch mehrere Zwerge bei Diebereien und nöthigte endlich den ganzen Ueberrest des Zwergvolkes auszuwandern. Um aber die Landeseinwohner einigermaßen für das Gestohlene zu entschädigen und zugleich die Zahl der Auswandernden überrechnen zu können, wurde auf dem sogenannten Kirchberge bei dem Dorfe Thale, wo sonst Wendhausen lag, ein großes Gefäß hingestellt, worin jeder Zwerg ein Stück Geld werfen mußte. Dieses Faß fand sich nach dem Abzuge der Zwerge ganz mit alten Münzen angefüllt. So groß war ihre Anzahl. Das Zwergvolk zog über Wahrnstedt (einem Dorfe bei Quedlinburg) immer nach Morgen zu. Seit dieser Zeit sind die Zwerge aus dieser Gegend verschwunden. Nur selten ließ sich seitdem hier und da ein einzelner Zwerg sehen.

In der Nähe dieses Dorfes, das auch Wehrstedt genannt wird746 und davon seinen Namen haben soll, daß bei einem gefahrvollen Ueberfall fremder barbarischer Völker, da die Landesbewohner schon der Uebermacht unterlagen, die Todten aus den Gräbern aufstanden und sich gegen diese Unholde tapfer wehrten und so ihre Kinder retteten, befinden sich zwei Berge, in denen man häufig Gerippe und Menschenknochen, auch zuweilen Urnen ausgräbt. Der eine Berg auf der Nordseite dieses Berges heißt der Dingberg, wahrscheinlich weil hier früher die Grafen von Reinstein von Zeit zu Zeit Gerichtstage (Ding) hielten. Der andere auf der Südseite, etwa eine Viertelstunde von dem Dorfe Thale (sonst Wend-Thal) und dem ehemaligen Wend-Haus, an dem Felsenriff, den das Volk die Teufelsmauer nennt, ist ein flacher Bergrücken, der jetzt größtentheils in Ackerland verwandelt ist. Das Volk nennt denselben den Mäken-Kirchhof oder häufiger noch den Lüttgen-Kirchhof, d.h. den Begräbnißplatz der kleinen Leute.

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Nach Otmar S. 330. cf. S. 350 und 29.

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Diese Sage ist poetisch behandelt von Ziehnert Bd. III. S. 131 etc.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 1, Glogau 1868/71, S. 588.
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