756. Das Stift Berg.876

[716] Man feierte im Jahre 1011 zu Herford den Tag des heil. Gervasius und Protasius, den 19. Juni. An diesem Feste pflegte man den Armen Almosen zu geben. Ein armer Schäfer aus der Umgegend durchschritt früh Morgens Gebüsch, Sumpf und Wald, um nach Herford zu kommen, das Fest mitzufeiern und ein Almosen zu empfangen. Als er nun aber auf der nahe vor der Stadt liegenden Höhe und gerade unter einer großen Linde ist, siehe da erscheint ihm die Mutter Gottes in himmlisch schöner Gestalt und spricht zu ihm: »Ich bin die heil. Jungfrau Maria, geh und sage der Aebtissin und den übrigen Gliedern der Abtei zu Herford, daß, wenn sie nicht von ihrer eiteln und ausschweifenden Lebensart ablassen und sich bekehren, göttliche Strafgerichte sie heimsuchen sollen. Aendern sie aber ihren Wandel, so will ich ihre Stütze und ihr Schutz bleiben. Auch soll die Aebtissin an diesem Orte, wo ich Dir jetzt erscheine, einen Tempel bauen und ein Stift für edle Jungfrauen gründen, die mich hier göttlich verehren.« Der Schäfer erschrack ob dieser Anrede bis zum Tode. Zitternd sprach er: »Man wird mir nicht glauben, wohl aber denken, ich sei ein Betrüger und mich dann hart züchtigen.« – »Fürchte nichts«, sprach die heilige Jungfrau, »zum Beweise, daß Du nicht betrogen bist, sollen die Schläge Dir nicht wehe thun und wenn Du Deinem Stabe, den Du in der Hand hast, die Gestalt eines Kreuzes giebst und ihn da, wo ich jetzt stehe, in die Erde steckst, so werde ich als Taube von der Linde kommen und mich auf das Kreuz setzen.« In demselben Augenblick war nun aber die Jungfrau verschwunden. Jetzt glaubte der Schäfer, machte aus seinem Stabe ein Kreuz, steckte es genau an den Ort, wo die heilige Mutter Gottes gestanden und hob dann eilends seine Füße, um nach der Abtei zu gehen. Dort sagte er der Aebtissin und den Nonnen die Worte der heil. Jungfrau. Da kam die ganze Abtei in Aufruhr. Man schrie, der Schäfer sei ein Lästerer, Verleumder und Betrüger; man packte ihn, schlug ihn, legte ihn in Ketten und Banden und steckte ihn in ein düsteres Gefängniß. Dann mußte er die Feuerprobe machen und glühendes[716] Eisen mit bloßen Händen anfassen, aber das glühende Eisen verbrannte seine Hände nicht und die Schläge thaten ihm nicht wehe. In der Nacht wurde das Gefängniß plötzlich hell, die heil. Maria trat ein und sprach: »Fürchte nichts, ich bin bei Dir und führe Dich aus Deinem Kerker!« Was sah man aber am andern Morgen? Auf der Höhe unter der Linde lag mitten im Sommer rund umher Schnee und von der Linde herab flog auf das Kreuz eine weiße Taube und blieb ruhig sitzen. Solches geschah dreimal hinter einander. Da merkte man, daß der Schäfer die Wahrheit berichtet habe. Man holte ihn aus dem Kerker, beschenkte ihn reichlich und ließ ihn seiner Wege gehen. Das Kreuz, welches der Mann in die Erde gesteckt und auf welchem die Taube gesessen hatte, hob man sorgfältig auf. Um den Stamm der Linde baute man die Kirche und ließ ihn stehen. Lange hielt man dafür, daß ein Spänchen von dem Baume gegen Zahnschmerzen und andere Uebel gut sei und darum holte man der Spänchen so viele, daß am Ende vom Stamme wenig übrig blieb. Um etwas von demselben zu verwahren, hob man den Rest aus der Erde, legte ihn in ein Drahtgeflecht und brachte ihn auf der Seite des Altars an. Dort ist das Ueberbleibsel noch zu sehen.

Zum Andenken an die Gründung der Kirche und an die Erscheinung nannte man das Stift Berger Kirchweihfest oder die Kirchmesse »die Vision« (Erscheinung) und so heißt der Jahrmarkt bis auf den heutigen Tag. In alten Zeiten wurde nämlich der Tag, an welchem die Kirche des Ortes eingeweiht war, Vormittags durch einen Gottesdienst (Messe) und Nachmittags durch ein Volksfest gefeiert. An einem solchen Tage versammelte sich von weit und breit das Volk an dem Festorte. Die Kaufleute machten sich dies zu Nutze, stellten Erfrischungen und Waaren aller Art aus und die Leute kauften ein und beschenkten sich einander. So bildete sich aus dem Kirchweihfest hier wie an vielen andern Orten ein förmlicher Jahrmarkt aus.

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S. Vormbaum S. 85.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 1, Glogau 1868/71, S. 716-717.
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