821. Die weiße Jungfrau.942

[773] Jede Nacht, sobald die Glocke eilf geschlagen hat, sieht man in dem Dorfe Elsey in der Grafschaft Limburg eine schneeweiß gekleidete Jungfrau. Dieselbe kommt oben von der Rh3eer Heide, da wo der Galgen steht, geht dann durch das Heekhäuser Feld bis in das Dorf Elsey, wo sie hinter der Kirche herum auf den Stiftsplatz geht, bis an den auf diesem befindlichen Brunnen. Ueber diesen Brunnen bückt sie sich lange und blickt hinein; dann läßt sie auf einmal einen Eimer hinunter tief in den Brunnen und in das Wasser; wenn sie denselben aber nach oben gezogen hat, so sieht sie geschwind in denselben, bald aber gießt sie aus und läßt ihn von Neuem hinunter und zieht ihn wieder herauf. Dieses wiederholt sie dreimal, bis die Glocke auf dem nahen Kirchthurme Mitternacht schlägt; dann geht sie seufzend und händeringend von dem Brunnen weg, wieder hinter der Kirche herum durch das Heekhäuser Feld, bis sie auf der Rheer Heide neben dem Galgen verschwindet. Man erzählt sich, diese Jungfrau sei vor vielen Jahren ein[773] vornehmes Stiftsfräulein in Elsey gewesen. Diese hatte ein Kind bekommen und dasselbe umgebracht und in den Stiftsbrunnen geworfen, und weil sie so vornehm und reich gewesen, hatte Niemand ihr etwas darum thun mögen. Als sie nun aber zum Sterben gekommen, da hat der Teufel ihren Leib geholt und denselben unter den Galgen oben auf der Rheer Heide verscharrt und ihre Seele kann nicht eher Erlösung finden, als bis sie den Leib ihres todten Kindes wieder hat. Darum muß sie alle Nächte aus ihrem Grabe aufstehen und zu dem Brunnen wandern und dort oben den Leichnam suchen.

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S. Stahl S. 123.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 1, Glogau 1868/71, S. 773-774.
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