103. Das verwechselte, aber wieder erlangte Kind.

[116] (Nach Remigius Bd. II. S. 459 etc.)


Zu Heßloch bei Odernheim im Rheingau gelegen, hat sich zu einer Zeit zugetragen, daß ein Kellner mit seiner Köchin heimlich und zwischen ihnen beiden sich also verlobt, weil sie nicht öffentlich sich nehmen durften, inmaßen er ein Diener der Geistlichen war, so sollte doch ihre Beiwohnung eine Ehe sein und wollten sie sich auch nicht anders gegeneinander verhalten, als Eheleute. Als sie nun ein Kindlein mit einander bekommen, hat sie Gott der Herr also heimgesucht, daß er sie mit einem Wechselkinde gestraft hat, das[116] hat nicht wollen wachsen oder zunehmen, sondern hat Tag und Nacht geheult und viel gefressen. Endlich ist der Frau Raths geworden, sie wolle ihr Kind zu Neuhausen auf die Cyriakswage tragen und wiegen lassen und aus dem Cyriaksbrunnen ihm zu trinken geben, so möchte es besser mit ihm werden. Denn zu selbiger Zeit ist es ein hoher Glaube gewesen, so man ein Kind zu Neuhausen wiegen lasse auf der großen Cyriakswage, das nicht gedeihen wolle, solle es sich gewißlich in neun Tagen entweder zum Leben oder zum Tode ändern. Als sie nun bei Westhofen in den Klauer kommen mit dem Kinde, unter welchem sie getragen, daß sie gekeucht und geschwitzt hat, so schwer ist es ihr geworden, da ist ihr ein fahrender Schüler begegnet, welcher zu ihr gesagt: »Ei, Fräulein, was tragt Ihr da für einen Unflath, es wäre nicht Wunder, daß der Euch den Hals eindrückte!« Sie antwortete, es wäre ihr liebes Kind und wollte nicht gedeihen oder zunehmen, und deshalb wolle sie es zu Neuhausen wiegen lassen. Er aber sprach: »Es ist nicht Euer Kind, sondern es ist der leibhaftige Teufel; werft den Schelmen in den Bach!« Als sie aber nicht wollte, sondern immer darauf bestand, es wäre ihr Kind und es küßte, sprach er ferner: »Euer Kind steht daheim in der Stubenkammer in der neuen Wiege, dies ist aber der Teufel; werfet den Unflath in den Bach!« Das hat sie endlich gethan, und alsbald ist ein solches Geheul und Gemurmel unter der Brücke, so über den Bach geht, gewesen, als ob es ein Haufen Wölfe oder Bären wären, und als sie heimgekommen, hat sie ihr rechtes Kind gesund und frisch in der neuen Wiege gefunden, welches Gott der Herr die Zeit über erhalten hat, als sie dem leidigen Teufel das Wechselkind gesäugt.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 116-117.
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