157. Die Dohle an einem Giebel des Hauptschiffs der Collegiatkirche zum h. Kreuz zu Breslau.

[174] (S. Schäfer in der Illustr. Ztg. 1858 S. 242.)


An dem zweiten Giebel (vom Thurme aus südwestlich bei dem Seitenhaupteingange) der ganz aus Backsteinen in streng germanischem Style erbauten Kreuzkirche, zu dem eine Freitreppe führt, sieht man auf dem zwischen den Strebepfeilern laufenden Simse des Giebels, welcher in seiner obern Füllung den schlesischen Adler zeigt, das Bild einer sitzenden Dohle in Stein gehauen.

Diese Kirche ist an und für sich schon beachtenswerth, sowohl in architektonischer als artistischer Hinsicht, denn der Unterbau birgt die unterirdische Kirche zu St. Bartholomäus, die jedoch leider im 30jährigen Kriege von den Schweden, die sie als Pferdestall benutzten, gänzlich ruinirt worden ist. Interessant ist die Geschichte der Entstehung dieser Krypta.

Herzog Heinrich IV., welcher mit dem Bischof Thomas II. von Breslau in Hader gerieth und eben deshalb in Folge einer Synode zu Lowicz 1285 vom Erzbischof von Gnesen in den kirchlichen Bann erklärt worden war, versöhnte sich bekanntlich vor Ratibor aus eigenem Antrieb seines an sich friedlichen Herzens mit diesem geistlichen Herrn, der aus Furcht vor dem Herzoge als Flüchtling umhergeirrt, endlich in Ratibor Aufnahme gefunden hatte, und legte zuerst den Grund zu der Bartholomäuskirche. Doch als man beim Graben eine Wurzel in der Form eines Crucifixes mit den Figuren der h. Maria und des h. Johannes fand, so änderte sich sein Bauplan dahin, daß er, damit er seinem dem h. Bartholomäus gethanen Gelübde nicht untreu würde, auf eine unterirdische Kirche noch einen Hochbau als Heiligthum des h. Kreuzes zu setzen beschloß. Beide Kirchen wurden mit[174] dem dazu gehörigen Collegiatstifte am 3ten Januar des Jahres 1288 eingeweiht.

In der Sakristei derselben Kirche wird übrigens noch ein anderes Wahrzeichen der Stadt, eine Riesenrippe gezeigt.

Die Ursache der Aufstellung des bekannten schwarzen Vogels, der sonst eigentlich mehr in Diebssagen figurirt, soll nun aber folgende sein.

Einige Chorknaben hatten nach der den Knaben eigenen Sucht nach Entdeckungen im hochgiebeligen Kirchdache ein Nest mit jungen Dohlen ausgespürt. Die Anzahl der Dohlenbrut paßte nicht zur Zahl der Kinder; dies veranlaßte natürlich Streit, und die Folge davon war, daß einer derselben, welcher aus der Giebelluke sich auf das Dach des Strebepfeilers, wo sich eigentlich das Nest befand, herausgewagt hatte, es versah und, das Gleichgewicht verlierend, von seiner schmalen Bahn herabfiel. Doch der Himmel wachte über ihn, denn er kam, von seiner Schalaune (scholana, Schülermantel) getragen, glücklich aus dieser Höhe auf den Erdboden, und zum Andenken ließen die Domherren diese Dohle in Stein hauen und dort anbringen.33

33

Dieselbe Sage wird auch von der sächsischen Stadt Geithayn erzählt (s. meinen sächsisch. Sagenschatz. Dresden, 1856, S. 263).

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 174-175.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Sagenbuch des Preußischen Staats
Sagenbuch des Preußischen Staats: Erster Band
Sagenbuch des Preußischen Staats: Zweiter Band
Sagenbuch des Preußischen Staats: Erster Band
Sagenbuch des Preußischen Staats: Zweiter Band