b) Die Gluckhenne auf Kynsberg.

[233] Vor Zeiten ließ sich in einer Stube der alten Burg zuweilen eine Gluckhenne sehen, von schwarzer Farbe mit goldgelben Küchlein; sie kam regelmäßig unter dem Ofen hervor. Der Burgherr hatte sie nie selbst gesehen, wohl aber viele der Burgleute, die es jedoch möglichst vermieden, in diesem Zimmer sich aufzuhalten. Einst kam ein fremder Ritter zur Burg auf Besuch und zufällig wies man demselben das bewußte Zimmer zum Nachtaufenthalte an. Nachdem das Abendbrod vorüber war, begab sich derselbe mit seinem Knappen, für den in dem Zimmer ein zweites Bett vorgerichtet worden war, zur Ruhe; allein kaum war der Tag am nächsten Morgen angebrochen, so ließ der fremde Gast auch seinem Wirthe anzeigen, daß er auf der Stelle abreisen wolle. Natürlich verlangte Letzterer, er solle zuvor wenigstens mit ihm ein Frühstück einnehmen, und um nun nicht in den Verdacht der Unhöflichkeit zu kommen, ließ sich der Ritter auch bewegen, noch einige Stunden zu verweilen. Indeß fiel dem Burgherrn beim Eintritt desselben in den Speisesaal dessen verstörtes Aussehen auf und er fragte ihn deshalb, ob er denn nicht gut geschlafen habe. Der Gast versetzte, dies sei allerdings nicht der Fall gewesen, und da nun jener bestürzt und erzürnt fragte, wer ihn denn gestört, so erzählte jener, er sei bald nachdem er sich niedergelegt ebenso wie sein Knappe eingeschlummert; nach einiger Zeit sei er aber durch ein sonderbares Geräusch erwacht; zwar sei die Lampe, welche sie auf den Tisch gestellt, noch nicht erloschen gewesen, allein da habe er plötzlich gesehen, wie unter dem Ofen hervor eine schwarze Gluckhenne, von einigen Küchlein begleitet, hervorgekommen, mitten in das Zimmer mit ihnen gegangen sei und dort gegluckt und gescharrt, dann aber mit ihren Flügeln so stark geflattert habe, daß davon die Lampe erloschen sei. Darauf durchwandelte sie das ganze Zimmer, kam endlich auch vor das Bett des Gastes, flatterte in die Höhe und plötzlich flammte die Lampe wieder auf, dann kehrte sie wieder nach der Mitte des Zimmers um, pickte auf dem Fußboden wie nach Futter, die Küchlein versammelten sich um sie und sie kehrte dann nach dem Ofen zurück, unter dem sie verschwand. Der Ritter, der anfangs meinte, es sei eine wirkliche Henne, welche hier vielleicht ihr Nest aufgeschlagen, sprang aus dem Bette, nahm die Lampe und suchte unter dem Ofen nach ihrem Lager, konnte aber nichts finden. Er weckte nun seinen Knappen, der sonderbarer Weise nicht aufgewacht war, also auch nichts gesehen hatte, erzählte ihm, was er gesehen, und nun blieben Beide vor Grausen bis gegen Morgen wach, wo mit dem Tageslichte erst wieder Muth in ihr Herz zurückkehrte. Nach einem solchen Zeugniß konnte nun der Burgherr freilich[233] nicht mehr zweifeln, daß das Gerede von der spukhaften Henne, worüber er bisher stets gespottet, doch etwas Wahres enthalte; er befahl also den Ofen wegzureißen, und man fand unter demselben eine viereckige kastenartig gemauerte Vertiefung, in dieser aber ein Kästchen mit den Gerippen zweier längst schon verweseten Kinder. Diese Gebeine wurden sofort in geweihter Erde beigesetzt, wer aber hier eine Unthat verübt und an wem sie vollzogen, ist niemals an den Tag gekommen, die Gluckhenne und die Küchlein jedoch sind seit dieser Stunde niemals wieder zum Vorschein gekommen.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 233-234.
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