321. Die Kapelle auf der Galgengasse in Görlitz.

[378] (Nach Haupt Bd. II. S. 77.)


Als der eben erwähnte Herr Georg Emmerich von seiner Pilgerreise aus Jerusalem zurückkehrte, sandte er zwei Diener voraus, welche seine Ankunft melden sollten. Einer derselben aber war ein böser Mensch und fiel plötzlich über seinen Kameraden, der die Kostbarkeiten seines Herrn bei sich trug, her, um sich in den Besitz derselben zu setzen. Allein dieser war sehr viel stärker als er und so kam es, daß er selbst die Flucht ergreifen mußte, indeß eilte er spornstreichs nach Görlitz, zeigte dort die Wunden, die er bei jenem Ueberfall bekommen hatte, vor und erzählte, der andere Knecht habe unterwegs Herrn Emmerich erschlagen, um sich dessen Kleinodien anzueignen, er selbst aber, der seinen Herrn habe vertheidigen wollen, sei nur mit Mühe dem Tode entronnen und hierher vorangeeilt, damit der Verbrecher seiner gerechten Strafe nicht entgehen möge. Da sandte der Rath dem andern Knecht Schaarwächter entgegen, die ihn unterwegs gefangen nahmen und nach Görlitz führten. Vor Gericht gestellt, konnte er sich natürlich über den Besitz der bei ihm gefundenen Kostbarkeiten seinem Ankläger gegenüber nicht gut rechtfertigen, man machte also wenig Umstände mit ihm, verurtheilte ihn zum Tode und schon am andern Tage führte man ihn unter großem Volkszulauf hinaus zum Nicolaithore auf den Richtplatz.

Unterdessen war aber auch Herr Emmerich in die Nähe von Görlitz gekommen und als er auf der Höhe hinter Reichenbach angelangt war, hörte er plötzlich Glockengeläute. Auf seine Frage an Leute, die ihm aus der Stadt entgegenkamen, erfuhr er, man führe soeben seinen Knecht als seinen angeblichen Mörder zum Galgen; da stieß er seinem Pferde die Sporen in die Seiten und jagte in fieberhafter Hast nach der Stadt zu, an der Stelle aber, wo jetzt die Kapelle steht, brach das halbtodtgejagte Pferd unter ihm zusammen, allein einige Vorübergehende hatten in ihm den todtgeglaubten Emmerich wiedererkannt und noch in der letzten Stunde gelangte die Nachricht, daß er wieder da sei, zu dem traurigen Zuge. Kaum hatte man aber die Wahrheit erfahren, so mußte auch der falsche Ankläger die Stelle des unschuldigen Delinquenten einnehmen und nach wenigen Augenblicken hing auch er an demselben Galgen, der für letztern bestimmt gewesen war. Emmerich aber ließ eine Kapelle an derselben Stelle errichten, wo ihm das Pferd zusammengestürzt war, die Begebenheit selbst aber auf Leinwand abmalen und das Bild in der Klosterkirche aufhängen, von wo es indeß schon im vorigen Jahrhundert weggekommen ist.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 378.
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