357. Die Stadt Wineta.

[411] (S. Thomas Kanzow's Chronik v. Pommern. Anclam, 1841. S. 23. Gesterding, Pommersche Mannigfaltigkeiten. Neubrandenburg, 1796. S. 405 etc.)


An der nordöstlichen Küste der Insel Usedom hat vor mehr als tausend Jahren eine große Stadt gestanden, Wineta genannt, mit einem großen Hafen. Diese Stadt ist aber umfangreicher gewesen, denn irgend eine andere in Europa. Bewohnt haben sie Griechen, Slaven, Wenden und andere Völker. Auch die Sachsen haben darin wohnen dürfen, doch das Christenthum zu bekennen war ihnen nicht erlaubt, denn alle Bürger sind Heiden geblieben bis zur endlichen Zerstörung und dem Untergang der Stadt. Trotzdem sind aber die Einwohner in Zucht, Sitte und Herberge bescheiden und so fromm gewesen, als irgend eine andere Nation. Die Stadt ist aber stets voll gewesen von jeglicherlei Waaren und hat Alles gehabt, was nur seltsam, angenehm und nöthig gewesen ist. Wann die Stadt untergegangen ist, weiß man nicht. Die Bewohner dieser Stadt waren aber durch ihren Handel so wohlhabend geworden, daß ihre Stadtthore aus Erz und Glockengut, die Glocken aber aus Silber gemacht waren, und das Silber war überhaupt so gemein in der Stadt, daß man es zu den gewöhnlichsten Dingen gebrauchte und die Kinder auf den Straßen mit den harten Thalern spielten. Allein durch diesen Reichthum und Luxus verschlimmerten sich auch die Sitten der Bürger, sie fingen an unter sich uneinig zu werden, weil jedes der hier wohnenden Völker den Vorzug vor dem andern haben wollte. Daher sollen die Einen die Schweden, die Andern die Dänen zu Hilfe gerufen haben und jene natürlich bereitwillig gekommen sein, nicht um ihnen zu helfen, sondern um die reiche Stadt zu zerstören und gute Beute zu machen. Dies soll zu den Zeiten Karl's des Großen geschehen sein. Nach einer anderen Sage aber hätten nicht äußere Feinde, sondern die strafende Hand Gottes die üppige Stadt zerstört, sie wäre vom Meere verschlungen worden. Darauf seien die Schweden mit Schiffen aus Gothland gekommen, hätten aus dem Meere eine große Masse von Silber, Gold, Erz und andern Kostbarkeiten herausgefischt und wären dann mit den erzenen Stadtthoren, die[411] sie ganz wiedergefunden, nach Wisby auf Gothland geschifft, wohin sich denn auch der Handel Wineta's gezogen habe.

Angeblich soll man aber noch heutigen Tages sehen können, wo sie gestanden hat. Wenn man nämlich von Wolgast über die Peene in die Gegend von Usedom geht und in die Nähe des Dorfes Damerow kommt, da sah man noch zur Zeit Kanzow's ein großes Stück Weges lang (denn das Meer hat seitdem so viel vom Lande weggenommen) große Steine und Fundamente. Mauerwerk war jedoch damals schon nicht mehr zu sehen, es hätte dies auch so viele hundert Jahre nach der Zerstörung der Stadt dem Drange der ungestümen Wellen unmöglich Widerstand leisten können. Die großen Grundsteine aber waren damals noch da und lagen noch in derselben Ordnung, wie sie unter einem Hause zu liegen pflegen, einer neben dem andern und an etlichen Stellen noch andere oben darauf. Darunter waren aber so große Steine, daß sie an drei und vier Orten mehrere Ellen hoch über dem Wasser erschienen, so daß man annehmen kann, daß dort Kirchen oder Rathhäuser gestanden haben. Die andern Steine aber zeigten durch ihre Anordnung in Reihen genau an, wie sonst die Gassen in der Länge und Quere durch die Stadt gegangen sind. Die Fischer an jenem Orte sagten damals auch, das ganze Steinpflaster der Stadt sei noch vorhanden und sei übermoost, also daß man es eigentlich nicht gut mehr erkennen könne, wohl aber könne man es fühlen, wenn man mit einer spitzen Stange oder einem Spieße hineinstoße. Als Kanzow dort war und über die Grundsteine und die Gassen hinfuhr, sah er, daß die Stadt in die Länge gebaut war, und zwar von Osten nach Westen; da aber, je weiter man in das Meer hineinfuhr, die Tiefe auch zunahm, so konnte man die ganze Größe der Stadt nicht mehr berechnen; allein es schien der Theil, den man noch sah, ohngefähr die Größe der Stadt Lübeck zu haben.

Man erzählt nun aber jetzt noch wunderliche Dinge über das, was man bei stillem Wetter auf dem Meeresgrunde, wo die Stadt versunken ist, heute noch sehen kann. Man sieht dann unten auf dem Grunde des Wassers oft ganz seltsame Bilder; große, wunderliche Gestalten wandeln dort unten in weiten faltigen Kleidern durch die Straßen, oft sitzen sie auch auf großen schwarzen Pferden oder in goldenen Wagen. Manchmal gehen sie fröhlich und geschäftig einher, manchmal bewegen sie sich auch in langsamen Trauerzügen, und man sieht, wie sie einen Sarg zum Grabe begleiten. Die silbernen Glocken der Stadt kann man noch jeden Abend, wenn kein Sturm auf der See ist, hören, wie sie tief unten zur Vesper läuten. Am Ostermorgen, denn vom stillen Freitag bis zum Ostermorgen soll der Untergang von Wineta gedauert haben, kann man die ganze Stadt sehen, wie sie früher gewesen ist. Sie steigt dann als ein warnendes Schreckenbild zur Strafe für ihre Abgötterei und Ueppigkeit, mit allen ihren Häusern, Kirchen, Thoren, Brücken und Trümmern aus dem Wasser herauf und man sieht sie deutlich über den Wellen. Man sagt dann, sie wafele69. Wenn es aber Nacht[412] oder stürmisches Wetter ist, dann darf kein Mensch und kein Schiff sich den Trümmern der alten Stadt nahen. Ohne Gnade wird das Schiff an die Felsen geworfen, an denen es rettungslos zerschellt, und Keiner, der darin gewesen, kann aus den Wellen sein Leben retten.

Von dem in der Nähe gelegenen Dorfe Leddin führt noch jetzt ein alter Weg zu den Trümmern, den die Leute in Leddin von alten Zeiten her den Landweg nach Wineta nennen.

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Wafeln kommt wahrscheinlich aus dem angelsächsischen wafian, sich hin- und herbewegen, und hat sich im altschwäbischen Dialecte als: wäbern, wäfern in derselben Bedeutung des ungewissen Lichtes und der wallenden Gestalt einer Erscheinung noch erhalten. Es hängt wohl mit der sogenannten Weferlohe, vefelogi, in der Edda zusammen, womit eine Art Zauberfeuer gemeint ist, durch das man nur mit Hilfe einer andern Zauberei kommen konnte und welches die alten Burgen vor Ueberfall sichern sollte und in einem düstern, ungewissen Feuer bestand (S. Gräter's Braga u. Hermode Bd. II. 2. S. 188 etc.). Auf Rügen sagt man, die Stadt Arkona wafele zuweilen, d.h. erscheine in der Luft. Ebenso wafeln dort die Schiffe, welche bald auf den Strand laufen werden, die Menschen, welche bald sterben, die Häuser, welche bald in Feuer aufgehen sollen etc. Schiffe sollen jedoch ihre baldige, unglückliche Ankunft sehr oft nur durch eine große helle Flamme, welche am Ufer schreckend emporschlägt, ankündigen (S.K. Nernst's Wanderung durch Rügen. Düsseldorf 1800. S. 168).

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 411-413.
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