444. Die Unterirdischen auf Rügen.

[472] (S. Pröhle a.a.O. S. 101 nach Wolf a.a.O.)


Vor Zeiten ist das ganze Rügenland voll Unterirdische gewesen, die haben in Hügeln, Hünengräbern und Ufer-Abhängen gewohnt. Es gab ihrer vier verschiedene Arten, graue, schwarze, grüne und weiße. Die grauen waren den Menschen am gefährlichsten, demnächst die schwarzen. Beide haben Mädchen nachgestellt, Säuglinge vertauscht und den Menschen manchen Schabernack gethan. Die weißen aber waren fromm und gutthätig. Jede Partei hatte ihren eigenen König und ihre abgesonderten Wohnstätten. Der Hauptsitz der schwarzen war im Wallberge bei Garz; bei Bergelave und in den neuen Bergen beim Dorfe Rothenkirchen wohnten die grauen, bei Patzig die weißen und die grünen in der Granitz.

Auf dem Zudar ist ein Hügel, in welchem früher Unterirdische gehaust haben. Dort ritt einst spät einer vorbei, der traf die Unterirdischen, wie sie draußen am Hügel schmausten und zechten. Da bat er sich im Uebermuthe auch einen guten Trunk aus, und sogleich brachte ihm einer vom kleinen Volke einen gefüllten goldenen Becher. Der Reiter aber schüttete das Getränk über seinen Kopf weg, gab dem Pferde die Sporen und jagte mit dem Becher als Beute davon. Da rief es hinter ihm: »Vierbeen lop, Eenbeen kriegt di!« und die Unterirdischen, die nur ein Bein hatten, waren flugs hinter ihm drein, ja einer ist schon nahe daran, das Pferd am Schweife zu fassen, als er die Zudar'sche Kirche erreichte und gerettet war. Dort in der Kirche ist noch heute der Becher zu sehen.

Später haben die Unterirdischen das Land verlassen. Sie sind durch ganz Rügen gezogen und haben sich vom Goldberge aus, der hinter Poseritz liegt, vom Glewitzer Fährmann übersetzen lassen. Dieser ist dadurch zu großem Reichthume gelangt und seine Nachkommen sind noch bis auf den heutigen Tag vermögende Leute. Zu ihm also kam eines Abends ein kleiner Mann und bestellte ihn zum Ueberfahren. Da hat er denn die ganze Nacht fahren müssen und doch nicht gesehen, was er überbrachte, sondern nur die Last in der Fähre gefühlt, daß das Boot tief hineinsank. Als das letzte Boot voll hinüberfuhr, fragte ihn der kleine Mann, ob er einen Scheffel[472] Geld haben oder kopfweise für seine Arbeit bezahlt sein wolle. Der Fährmann wählte den Scheffel Geld. Dann fragte ihn der Kleine wieder, ob er auch wohl wissen möge, was er gefahren, und als er es bejaht, setzte der Mann ihm seine Mütze auf. Da sah der Fährmann das ganze pommersche Ufer wimmeln von Unterirdischen, und erfuhr von seinem Begleiter, daß sie alle Rügen verließen, da für sie kein Segen mehr im Lande sei, seit die Menschen angefangen, Brod und Getreide zu kreuzen und den Besen aufrecht hinzustellen, mit dem Stiel nach unten.

Von da an nämlich haben die Unterirdischen nicht mehr daran kommen können. Einige erzählen, daß es allein die grünen gewesen sind, welche sich mit ihrem König beim Goldberg haben übersetzen lassen.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 472-473.
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