450. Die schwarze Frau auf dem Königsstuhl.

[478] (S. Temme S. 247 etc. 174.)


Wenn man von unten hinaufblickt auf jene kühn aufgethürmte Uferwand von Groß-Stubbenkammer auf Rügen, welche sich in der Form einer oben horizontal abgeschnittenen Pyramide bis zu einem Absatz, welcher linker Hand gegen die große Schlucht mehr in gerader Senkung gerichtet steht, erhebt, so sieht man vor der Mitte ihres obern Randes, der von mehreren Spalten oder Regenrinnen durchrissen ist, eine Zacke, die die Spitze einer kleinen wie ein Zuckerhut geformten Vorschweifung der Wand ist, aber in neuerer Zeit viel von ihrer Höhe verloren hat. Der Scheitel dieser Wand, die den Namen des Königsstuhls76 führt, trägt jetzt nur eine Buche, den letzten übrig gebliebenen Baum von vielen seines Gleichen. Der Name kommt vermuthlich von der Höhe und Gestalt dieses Kreidefelsens her, nicht aber davon, daß einst Karl XII. von Schweden oder ein älterer nordischer König den Scheitel dieses Felsens gewählt habe, um von hier aus eine Seeschlacht zu beobachten. Nach einer andern Sage hätten die Rügianer zu der Zeit, als sie ihre Könige selbst wählten, nur den angenommen, der von der Uferseite her den Königsstuhl zu ersteigen den Muth gehabt habe.

Man erzählt nun, es habe einst auf Rügen eine Fürstin gewohnt, die unendliche Schätze gehabt habe; aus Furcht, daß ihr diese möchten geraubt werden, ließ sie sie in den Kreidefelsen auf Stubbenkammer vergraben. Die Männer aber, welche die Schätze vergraben hatten, die ließ sie hinrichten, damit sie Niemandem den Ort, wo sie lagen, verrathen könnten. Dafür muß sie aber noch immer bei ihren Schätzen in dem Berge Wache halten.[478] Nur am Johannistage jedes Jahres kommt sie heraus aus dem Innern des Felsens, setzt sich auf den Königsstuhl und wartet auf die, welche die Schätze heben sollen.

76

Auf der Insel Mön, deren Kreideufer große Aehnlichkeit mit den Jasmundischen haben, giebt es auch zwei ähnliche Königsstühle, den Kongstol und Dronningstol.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 478-479.
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