462. Der Rabenstein.

[485] (Nach Arndt, Jugenderinnerungen Bd. II. [II. A.] S. 348 etc.)


Die Raben, Krähen, Adler und andere solche Vögel, welche scharfe Schnäbel und Klauen haben, werden sehr alt und leben wohl 2-300 Jahre. Wenn nun ein Rabenpaar hundert Winter mit einander gelebt und geheckt hat, dann legt es erst den Rabenstein und, wie man sagt, alle zehn Winter einen neuen Stein. Dieser Rabenstein soll nach der Sage aus den Augen der Diebe herauswachsen, welche die Raben am Galgen ausgehackt haben, und das müssen die Raben an vielen hundert Dieben gethan haben, ehe sie einen solchen Wunderstein legen können. Er ist von der Größe einer welschen Nuß oder eines Rabeneies, ganz rund und glatt und feurigroth wie ein Karfunkelstein, und die Raben legen ihn in der letzten Nacht des Hornungs; denn noch im Winter legen sie ihre Eier und im ersten Frühling, wenn es noch reift und friert, haben sie schon befiederte Junge. Es hat aber dieser Rabenstein zwei Eigenschaften, die erste, daß er in der Nacht leuchtet wie eine Sonne und alles umher hell, seinen Träger aber unsichtbar macht, so daß sich herrlich mit ihm stehlen läßt; die zweite, daß er zu Galgen und Rad hinlockt. Wer aber einen Rabenstein suchen will, der muß in die hohen Forsten suchen gehen, wo die höchsten Fichten, Eschen und Buchen stehen, denn auf diese, welche der gewandteste Kletterer nicht leicht erklettern kann, baut der kluge Vogel Rabe sein Nest. Da muß er lauschen und lugen, wo er Rabentöne aus hoher Luft klingen hört, dort sind wohl auch die Rabennester. Dies muß aber an solchen Tagen geschehen, wo Schnee gefallen ist, denn dann kann er allein das rechte Nest finden. Er mag nämlich alle ruhig sitzen lassen, unter deren Bäumen Schnee liegt, denn in solchen ist kein Rabenstein, derselbe ist nämlich so warm von oben, daß es unter seinem Neste nimmer friert noch thaut, und daß der Schnee in derselben Minute vergeht, in welcher er fällt. Wer ihn nun haben will, der muß in der letzten Nacht des Hornungs in den Wald gehen, wo der Baum mit dem hoffnungsvollen Neste steht. Er muß aber ganz allein kommen und Niemand darf wissen, wohin und wofür er ausgegangen ist, auch keinen Laut darf er von sich geben, nicht einmal husten darf er. Er muß aber Schlag 12 Uhr zur Stelle sein, denn[485] nur zwischen Zwölf und Eins in der Nacht läßt der Stein sich gewinnen. Dann muß er sich splinterfasernackt ausziehen und so ohne einen Laut von sich zu geben den Stamm hinaufklettern, ist er aber oben angekommen, wo das Nest sitzt, dann darf er nicht hineinschauen und sich den leuchtenden Stein aussuchen, sondern er muß sich noch dreimal um den Stamm herumschwingen, die Augen zuthun und blind hineingreifen, und was sein Finger zuerst berührt, das muß er behalten. Da hat es sich oft begeben, daß Manche mit einem faulen Ei heruntergekommen sind und für alle ihre Angst und Arbeit nur Spott gehabt haben. Ueberhaupt bringt unter Hunderten wohl kaum einer den Rabenstein mit herab, die Meisten nehmen schon die Flucht, wenn es in der grausigen Mitternacht ans Auskleiden geht, oder sie erfrieren auch während des Kletterns oder sie können dasselbe vor Schmerz nicht vollbringen, weil sie sich die Kniee, Schenkel und Arme aufschinden, oder sie stürzen herab, wenn sie sich um den Stamm schwingen, und brechen den Hals.

Es lebte aber einst zu Boldevitz auf Rügen ein reicher Herr, Namens Friedrich von Rotermund, der brachte aus der Türkei, wo er mit den kaiserlichen Truppen im Felde gelegen hatte, sich eine schöne Heidin als Kebsfrau mit und mit dieser zeugte er ein Feierabendskind, das auch Friedrich getauft ward. Das war schon als Knabe ein wilder und unbändiger Bube, der nebenbei eine beispiellose Kraft besaß. Nach seines Vaters Tode wollte er, der funfzehnjährige Jüngling, seinem ältern, aus rechtmäßiger Ehe erzeugten Bruder aber nicht gehorchen, sondern entlief und begab sich auf die Insel Hiddensee, wo er Gelegenheit fand als Schiffsjunge auf ein dort gerade ankerndes Schiff zu kommen. Als er sich das muntere Seeleben ein halbes Dutzend Jahre versucht hatte, ist er einmal wieder nach Stralsund gekommen und von da zu Hause nach Bergen auf Rügen, wohin sich seine Mutter nach dem Tode seines Vaters gewendet hatte. Seine Mutter hat ihm nun aber abgeredet, wieder zur See zu gehen und hat ihn zu einem Förster in die Lehre gegeben, wo er manches lustige und geheime Jägerstücklein gelernt hat und zu einem schönen und flinken Jägerburschen herangewachsen ist, der allen Mädchen den Kopf verdreht hat. Hier hat er auch die Geschichte von dem Rabenstein vernommen und hat sich denselben eines Nachts geholt, denn im wildesten Sturm war ihm ja nie ein Mast zu hoch und zu glatt gewesen, er hatte ihn allemal ohne zu schwanken erklettert, da konnte ihm natürlich auch kein Baum zu hoch sein. Als er aber den Stein gehabt hat, da hat er sich natürlich von seinem Funde gegen keine Menschenseele etwas merken lassen, allein er hat denselben wohl zu brauchen verstanden, nur ist er niemals in das Haus eines ehrlichen oder armen Mannes mit seinem Steine eingestiegen, sondern nur bei Wucherern und Geizhälsen hat er fleißig eingesprochen und ihre Kisten und Beutel etwas leichter und schlaffer gemacht. Hat er aber arme und nothleidende Alte und hungrige und verlassene Kindlein gewußt, da ist er mitternächtlich, wo Alles im tiefsten Schlafe lag, in die Häuser geschlichen und hat die silbernen oder goldenen Gaben auf Tische, Betten und Wege hingeschüttet, also daß die Leute, wenn sie erwachten, erstaunten und die Hände zusammenfalteten und beteten, weil sie meinten, ein Englein vom Himmel habe es ihnen ins Haus getragen. Eine Noth aber hat er gehabt, die als eine Teufelsplage der verbotenen Kunst anhing, er[486] hat nämlich einen unüberwindlichen Trieb zu Galgen und Rad in sich gefühlt, also daß er nicht blos hineilen mußte, wo nur auf der Insel einer geköpft oder gehängt wurde, sondern er mußte auch, wenn an dem Jahrestage der Hinrichtung eines der armen Sünder die Geister der hier Hingerichteten ihren Todtentanz um die Hochgerichte hielten, zur Mitternachtstunde im Hagel, Schnee und Donnerwetter hin zum Galgen und dort den schaurigen Tanz mittanzen.

So hatte Fritz Rotermund es manches liebes Jahr getrieben und hatte wohl frisch und lustig gelebt, aber reich war er nicht geworden, denn volle Taschen konnte er nicht leiden. Da hat es sich zugetragen, daß im Kriege zur Zeit des Königs Karl XII. von Schweden bei der Stadt Bergen zwei Juden gehängt wurden, die man als Pferdediebe ertappt hatte. Sie hatten dort schon ein Jahr an dem Galgen gebaumelt, da hat er zur Jahresfeier hinausgemußt und ist nach dem schauerlichen Tanz vor Ermattung unter dem Hochgericht eingeschlafen, als er aber beim Morgengrauen erwachte, hat ihm der Wind einen der Rockzipfel des einen Galgenvogels, unter dessen dürren Beinen er in Schlaf verfallen war, so heftig gegen die Backe geweht, daß das Blut herausgesprungen ist. Er griff nun lachend nach dem Rocke, um zu sehen, ob ein Knopf daran sei, der ihm diese Wunde geschlagen, allein es war keiner zu sehen, wohl aber sah er, daß etwas Hartes in die Ecke des einen Rockzipfels ins Unterfutter eingenäht war und als er das Stück abriß, fielen vor ihm ein Paar funkelnde Edelsteine zur Erde. Er erkannte aber bald, daß es ein Paar große Diamanten waren, reiste also mit ihnen nach Hamburg und verkaufte sie dort für ein Paar Säcke voll Dukaten. Mit diesen kehrte er in sein Vaterland zurück, kaufte seinem Bruder Boldevitz ab, dazu auch Unruh und einige andere schöne Güter, ward ein richtiger Edelmann und heirathete ein schönes adliges Fräulein, mit der er mehrere Söhne und Töchter zeugte. Von jetzt an ward er wieder ein anderer Mensch, bekehrte sich, ging zu Kirche und Abendmahl, allein den Rabenstein ward er nicht wieder los, so oft er ihn auch wegwarf, immer kehrte er wieder zu ihm zurück und so hat er auch an die zwanzig Jahre die blutigen Gerichtstage mithalten und die mitternächtlichen Galgentänze mittanzen müssen, so sehr er auch als guter Christ vor ihnen Schauder empfand. Eines Nachts ist er aber wieder zu einem Galgenfest nach Puddebus getrieben worden, da wo an dem Wege, auf dem man nach Kasnevitz fährt, etwa eine halbe Stunde vom Schlosse auf einem öden Haidehügel noch zu Anfang dieses Jahrhunderts die Trümmer eines Galgens standen. Dort fand er bei seiner Ankunft das grausige Nachtgesindel schon in dem greulichen Tanze rund herumfliegen, und zugleich mit ihm ritt von der andern Seite her als Mittänzer ein Mann auf, der noch mit lebendigem Fleisch umkleidet war, wie er und mächtig zu Rosse saß und einen blanken Säbel in der Rechten schwang, als fordere er Jemand heraus. Bei seinem Anblicke aber fühlte Fritz Rotermund den heißesten Grimm in sich entbrennen und mußte sein Schwert ziehen und gegen ihn anlaufen, der, als er Fritz zu Fuße anrennen sah, von seinem Rappen herabsprang und so rannten dann beide in blinder Wuth gegen einander, und während das lustige Gesindel seinen abscheulichen Reigen um sie herumtanzte, hieben die beiden reisigen Männer grimmig auf einander los, als aber die Glocke vom entfernten Schloßthurme Eins[487] schlug, und gleichzeitig der Tanz endete, da stürzte von einem gewaltigen Streiche getroffen Fritzens Gegner als Leiche zu Boden. Es war ein alter böser Edelmann vom äußersten Ende der Insel, von Jasmund, von Zuhmen hieß er, der auch einen Rabenstein gefunden hatte und zu dieser mitternächtlichen Todtenfeier ebenfalls hinausgemußt hatte. Fritz aber schwang sich auf den Rappen seines Feindes, denn seine Füße hätten ihn nicht zu Hause zu tragen vermocht, und als der Sommermorgen graute, ritt er matt und blutig ins Thor zu Boldevitz ein und hatte nicht Angst um sein Leben, wohl aber um seine arme Seele. Er sprach aber zu seinem alten Diener, den er weckte, er sei im Walde bei Kubbelkow unter Räuber gerathen, die hätten ihn jämmerlich zerhauen, es werde in wenigen Stunden aus mit ihm sein, er solle ein Pferd satteln, nach Gingst reiten und ihm den dortigen Pfarrer holen. Dieser aber, der den Fritz Rotermund als den besten Christen und den fleißigsten Kirchengänger unter seinen eingepfarrten Edelleuten kannte, hat nicht gesäumt, sondern ist schleunig zu ihm geeilt und hat den alten Herrn auf seinem Lager blaß und bleich wie der Tod und sein Weib und seine Kinder, welche ihm seine Wunden verbunden hatten, um ihn stehend gefunden. Er aber, als der Pastor hereingetreten ist, hat allen gewinkt herauszugehen, damit er mit dem geistlichen Herrn bete und sich zur Abfahrt bereite. Und als sie beide allein gewesen, hat er dem Pastor alles erzählt und gebeichtet und der Mann ist erst so bestürzt gewesen, daß er kaum hat beten können, dann aber hat er sich gesammelt und hat die Bibel ergriffen und des todtwunden Edelmanns Hände gefaßt und über ihn gebetet, daß der gnädige Himmel sich des reuigen und zagenden Sünders erbarmen möge. Dieser aber hat seine Worte laut und vernehmlich nachgesprochen und nach vielen Jahren zum ersten Male ganz getröstet ausgerufen: »Gelobt und gepriesen sei Gott und Jesus Christus für diese Wunden!« Kaum aber hatte er diesen Ruf des erlösten Herzens gethan, als der unselige Karfunkelstein plötzlich aus der Tasche des Edelmanns herausfuhr, wie ein leuchtender Blitz durch die Luft hinzischte und dann wie eine springende Feuerkugel sich gegen den Ofen schnell und klingend in der Secunde in Millionen Stücken zerstob, wie ein Sandhaufen auseinander weht, also daß man auch die Spur nicht von ihm sah. Da hat Fritz freudig gerufen: »Sahet und hörtet Ihr wohl, Herr Pastor, wie der Teufel in Nichts zerklungen und in Staub zerflogen ist?« Da haben beide dem Herrn inbrünstig für seine Gnade gedankt, sich umarmt und der Pastor hat die Frau und die Kinder des Edelmanns herbeigeholt, der hat die Hände auf sie gelegt und sie zum letzten Male geküßt und gesegnet und ist dann augenblicklich mit Zuversicht und Freuden heimgegangen, denn das Blut war aus seinen Adern gelaufen und die Lust an dem irdischen Leben aus seiner Seele.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 485-488.
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