704. Heiligenlinde.

[638] (S. Clagius, De Linda mariana L. I. c. 15 p. 84 etc. Hartknoch S. 190 etc. Temme S. 119 etc.)


Nahe bei der Stadt Rastenburg steht die sogenannte heilige Linde. Man weiß nicht recht, ob es dieselbe ist, welche schon zur Zeit der heidnischen Preußen dort gestanden hat. Man sagt, daß unter dieser in jenen Zeiten kleine Erdmännchen, die sogenannten Barstucken gewohnt haben. Diese waren große Menschenfreunde, sie erschienen den Kranken bei Nacht, namentlich wenn heller Mondenschein war, und pflegten sie, auch trugen sie denen, welchen sie geneigt waren, aus den Häusern derer, welche sich unfreundlich und undankbar gegen sie bezeigt hatten, Korn zu, verrichteten auch häusliche Arbeiten für sie. Es wurde ihnen in den Häusern, wo sie sich aufhielten, Abends ein Tisch mit einem weißen Tischtuch gedeckt und mit Butter, Brod, Käse und Bier besetzt, fand man am andern Morgen denselben abgegessen, so galt dies für ein gutes Zeichen, waren aber die Speisen unberührt geblieben, so wußte man, daß sie dem Hause den Rücken gewendet und das Glück dieses verlassen hatte.

Späterhin ist diese Linde unter dem Namen Heiligenlinde ein christlicher Wallfahrtsort geworden und zwar auf folgende Weise. Vor vielen hundert Jahren saß zu Rastenburg ein zum Tode verurtheilter Missethäter im Gefängniß, dem erschien im Traume die Jungfrau Maria, sprach ihm Trost ein und gab ihm ein Stückchen Holz nebst einem Messer, er solle daraus irgend etwas schnitzeln. Dies that er auch und als er am nächsten Morgen vor Gericht gestellt ward um zum Tode geführt zu werden, da zeigte er vor, was er gemacht hatte, es war ein wunderbar schön geschnitztes Marienbild, das Jesuskind in den Armen haltend. Er erzählte auch, wie er dazu gekommen sei, dasselbe zu schnitzen und da meinten die Rastenburger, der Mann stehe unter dem besondern Schutz der h. Jungfrau und ließen ihn frei. Nun hatte ihm die h. Jungfrau aber weiter noch befohlen, von Rastenburg gen Rössel zu gehen und jene Figur auf die erste Linde zu setzen, welche er antreffen würde. Er ging also vier Tage in der Irre herum und fand endlich unweit Rössel diese Linde (ob die alte, weiß man nicht), auf diese setzte er sein Bildchen. Von Stund an aber blieb die Linde grün, Sommer und Winter. Da kam einmal ein blinder Mann des Wegs, der sah auf einmal, als er an der Linde war, ein hellglänzendes Licht, er griff darnach und siehe das Licht kam von dem Bilde, und als er letzteres einmal berührt hatte, da war er sehend. Als dies bekannt ward, gingen Viele hin um das Wunderbild zu sehen, ja man sagt, selbst das vorübergehende Vieh habe vor demselben das Knie gebeugt. Wie dies die Rastenburger hörten, zogen sie in großer Prozession nach der Linde, nahmen das Bild herunter und schafften es nach ihrer Stadt, allein am andern Tage war es verschwunden und als man nachsah, stand es wieder an seinem frühern Platze auf der Linde. Da zogen die Bürger in einer noch feierlichern Prozession hinaus, holten es wieder und stellten es abermals in die Kirche der Stadt, allein siehe, am nächsten Morgen war es wieder weg und wieder an seinem alten Orte. Da hat man es stehen lassen und an dem Orte eine Kapelle gebaut, und man sagt, daß dort heute noch der Wunder viele geschehen. Merkwürdig[639] ist es aber, daß alle Bäume in der ganzen Umgegend ihre Wipfel nach der Seite neigen, wo die Linde steht, gerade als wollten sie derselben ihre Verehrung bezeigen.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 638-640.
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