722. Wie die Pestjungfrau nach Posen gekommen ist.

[654] (S. Bergenroth a.a.O. S. 107.)


Niewiasta, die Pestjungfrau, ist eine Tochter der bösen Luft, die den Mehlthau und den Brand in den Weizen bringt, das Gras versengt und die Aehren taub macht. Man sieht sie wohl bisweilen, wenn der Hahn zum ersten Male kräht, und sie ragt dann mit ihrem luftigen Schleier bis zu den Wolken hinan, aber niemals fühlt der Mensch ihre Hände, wenn sie ihn erfaßt. Wenn sie sich in die Locken einer Dirne setzt, so trägt dieselbe sie unbewußt in ihr Dorf hinab. Sie setzt sich dem wallfahrenden Pilger auf den Hut und läßt sich von ihm, ohne daß er es merkt, von Ost nach West tragen. Im Jahre 1398 setzte sie sich auf den Helm eines Kreuzritters, der von Marienburg aus heimlich seine Buhlin an der Warthe besuchte. Er brachte die Pestjungfrau, ohne es zu wissen, nach Polen. Hier stellte sie sich auf einen hohen Berg und blies ihren Athem bis tief in das Ungarland hinein. Wo der Hauch ihres Odems vorüberstrich, da dampfte die Erde, die Dörfer wurden wüst, die Häuser leer, vor den Städten häuften sich die Leichen, für die der Todtengräber keinen Raum mehr hatte, die Glocken wimmerten, ohne daß die Stränge berührt wurden, ihre Klagen in die Wälder und Gebirge hinaus und die Sonne erschien in fahlem Lichte. In der Stadt Posen erschien ein zerlumpter blinder Bettler mit seinem lahmen Hunde, von dem er geleitet wurde. Aber der Hund wollte nicht bellen und verschmähte das Stücklein Brod, das man ihm mitleidig zuwarf. Da kam ein[654] Gelehrter auf den Gedanken, daß das Paar die Pestjungfrau mit sich führe. Alles floh vor demselben, der Pöbel warf aus der Ferne Steine nach ihm und tödtete auch den Blinden wie seinen Hund. Allein die Pestjungfrau hatten die Steinwürfe nicht getroffen, sie flüchtete zunächst auf den Dom und hauchte Alles tödtlich an, was in ihm und in seiner Nähe war.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 654-655.
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