727. Die Eroberung Nakels.

[657] (Nach San Marte S. 144 etc.)


Boleslaw III. mit dem Beinamen Krzywousty, d.h. Schiefmund, bestieg den polnischen Thron im Jahre 1102 als 17jähriger Jüngling. Bald nach seiner Thronbesteigung drang er ins Pommerland ein, unterwarf es sich und zog dann weiter nach Böhmen, allein im Jahre 1109 fand ein neuer Pommernaufstand statt, und er war genöthigt, von hier aus nach den Grenzen seines Reiches zurückzueilen um die eingebrochenen Feinde zurückzutreiben. Zu Kruswice vereinigte er seine Völker und hielt eine große Heerschau. Während aber die Krieger Angesichts der dem St. Veit geweihten Kirche festlich aufgestellt waren, erschien plötzlich auf dem Giebel derselben, Allen sichtbarlich, im kostbar schimmernden Kleide, einen goldenen Wurfspieß in der Rechten ein Jüngling von der wunderbarsten Schönheit; ein unaussprechlich zauberischer Glanz ging von ihm aus, der nicht blos das Heer und die Stadt Kruswice, sondern auch die ganze weite Umgegend überleuchtete. Den Speer mit dem kräftigen Arme schwingend, winkte er gen Norden und hin schwebte er von dem hohen Giebel durch die Lüfte langsam in der Richtung, die er bezeichnet hatte, dahin wo der Feind stand. Der König und das Heer das göttliche Zeichen erkennend, brachen sogleich begeistert auf, folgten dem himmlischen Wegweiser, der im unveränderten Lichtglanze ihnen langsam voranschwebte und ruhten nicht eher, als bis sie die von der Natur und Kunst gleich stark befestigte Burg Nakel erreicht hatten. Aufs Neue schwang hier der Jüngling seinen goldenen Speer gegen die Veste gewandt, und von dem Lichtmeer, das ihn umgab, aufgenommen, verschwand er vor den Blicken des staunenden Heeres in den hohen Aether, in seiner Erscheinung ihm ein sicheres Zeichen des nahen Sieges zurücklassend. Sogleich ward mit den Belagerungsarbeiten begonnen und die Veste aufs Höchste bedrängt. Die Belagerten, denen es auch an Nahrung fehlte, versprachen, als er sie zur Uebergabe aufforderte, sich zu ergeben, wenn nicht bis zu einem bestimmten Tage Entsatz kommen werde. Allerdings war auch ein starkes Heer der Pommern im Anzuge und als diese durch einen Boten, dem es gelungen war, sich durch das polnische[657] Lager zu schleichen, von der Noth ihrer bedrängten Landsleute unterrichtet worden waren, da beschlossen sie Alles daran zu setzen, die Burg zu retten. Es gelang ihnen auch, unbemerkt auf ungebahnten Wegen bis zu dem Polenlager zu dringen und dasselbe zu überfallen. Viele Polen waren abwesend auf Streifzügen nach Lebensmitteln und der dagebliebene Rest kam eben aus der Messe, denn es war gerade der Tag des h. Laurentius. Allein muthig raffte Boleslaw zusammen, so viele er nur zusammentreiben konnte, hielt eine kurze Rede an seine Krieger, worin er ihnen verhieß, der h. Laurentius, der sie ja selbst hierher geführt, werde auch heute mit ihnen sein, und griff mit seiner schwachen Schaar die Pommern muthig von der einen, sein Palatin Skarbimir, der sie umging, von der andern an und siehe wunderbarer Weise erfochten die Polen einen so großen Sieg, daß die Pommern, nachdem sie gegen 27000 Mann verloren hatten, sich in ungeordneter Flucht auflösten und den Polen das Schlachtfeld überließen. Die Burg Nakel ergab sich nun, worauf der Besatzung das Leben geschenkt ward.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 657-658.
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