890. Die Jungfrau im Brunnen bei Trendelenburg.

[767] (S. Zeitschr. a.a.O. Bd. VII S. 211 etc.)


Ein Ritter auf der Trendelenburg hielt sich einen Sterndeuter, welcher ihm eines Tages die unheilvolle Weissagung mittheilte, daß eine Tochter, womit der Himmel sein Weib segnen werde, dermaleinst vom Blitze werde erschlagen werden. Der erste Theil dieser Prophezeiung ging auch bald in Erfüllung, es ward ihm ein gesundes Töchterchen geboren. Das Schicksal zu verhüten, das die Sterne demselben zum Voraus bestimmt hatten, baute der Ritter ein unterirdisches Gemach und die Eltern warteten des Kindes, bis es zur Jungfrau herangewachsen und 18 Jahre alt geworden war. Da sammelte sich einst in schwüler Sommerzeit ein Gewitter über dem Schlosse; Donner und Blitz fuhren ohne Unterlaß aus dem schwarzen Gewölk. Unter Furcht und Hoffnung vergingen Tag und Nacht; das Wetter verzog sich nicht; auch nach der zweiten Nacht trat keine Aenderung ein. Nach der dritten Nacht aber bat die Tochter dringend ins Freie geführt zu werden, und der Vater, der unabwendbaren Fügung nachgebend, willigte endlich ein. Kaum hatte sie ihr unterirdisches Gemach verlassen, als dasselbe von einem heftigen Donnerschlag erschüttert zusammenstürzte, und so wie sie den Fuß ins Freie setzte, tödtete ein Blitzstrahl den zarten Körper der Jungfrau. Tief fuhr der Blitz in die Erde, eine Oeffnung zurücklassend, welche sich mit Wasser füllte. Lange Jahre vergingen, da wollten pflügende Bauern einmal die Tiefe des Wassers ausmessen, sie banden ihre Ackerseile an einander, befestigten einen Stein an das untere Ende und senkten denselben in das Wasser, plötzlich rief eine Stimme aus der Tiefe: »Laßt sinken, sonst müßt Ihr alle ertrinken!« Erschrocken ließen sie die Seile fallen und ergriffen die Flucht. Am andern Tage fand man die Seile in dem nahen Waschbecken bei Ostheim.

Einmal hütete ein Schäfer bei dem Wetterloche, welches der Wolkenborst genannt wird, als eine Jungfrau in seltsamer, alterthümlicher Tracht ihm erschien. Sie winkte ihm, daß er über das Wasser herüberkommen möchte, doch wagte er nicht auf den Wasserspiegel zu treten, da er nicht anders glauben konnte, als daß er augenblicklich in die Tiefe sinken müsse. Zweimal[767] noch erschien die Jungfrau dem Schäfer und wiederholte ihre Bitte, von deren Erfüllung, wie sie sagte, ihre Erlösung abhing, allein er hatte den Muth nicht dazu. Die Jungfrau soll aber alle sieben Jahre erscheinen.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 767-768.
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