902. Die Sage von dem Ursprunge der sogenannten Speck- und Brodstiftung zu Allendorf an der Werra.

[775] (S. Wagner in der Zeitschr. f. Hess. Gesch. Bd. VI. S. 99 etc.)


Eine der romantischsten Parthien des schönen Werrathals bildet ohne Zweifel die sogenannte Zauberbrücke zwischen Kleinvach und Allendorf. Oestlich steil über sich hat man die fast das ganze Werrathal beherrschende Hörnekuppe, deren nordwestlicher Fuß die die einstige Osterburg umschließende Burgstätte bildet, südlich die Ruinen der Boyneburg, den Fürstenstein und die Kapelle zu St. Andreas, südwestlich die steilen Abhänge der sogenannten Römerschanze, westlich den Rücken des Meißner's, nordwestlich den Otterbachstein, die Saline Sooden unter den Felsen der Westerburg und die Stadt Allendorf am Fuße des Clausbergs. Da aber, wo dicht unter der Hörnekuppe der Weg den höchsten Punkt des steilen Abhanges erreicht hat, unter welchem ganz nahe die Werra vorüberströmt, stürzt in diese ein vom Gebirge herab eilender Waldbach, über dessen tiefe Schlucht der Weg vermittelst des gewölbten Bogens einer Brücke führt, welche die Zauberbrücke heißt. Von dieser erzählt man sich folgende Sage.

Einst schaukelte hier auf der Werra in später Abenddämmerung der Kahn eines armen Fischers aus Allendorf, welcher noch emsig sein Netz nach Fischen auswarf. »Hol über! hol über!« erscholl es plötzlich vom linken[775] Ufer her. Der Fischer sah zwar hier ein Männchen stehen, welches diesen üblichen Ruf zum Ueberfahren über den Fluß ertönen ließ, da ihm aber das Männchen unbekannt, auch der Ort zum Uebersetzen ungewöhnlich war, so achtete er anfangs gar nicht auf diesen Ruf, und erst als derselbe wiederholt ward, antwortete er aus seinem Nachen, er habe keine Zeit zum Ueberfahren, seine Frau sei in die Wochen gekommen, das Kind müsse noch heute die heilige Taufe erhalten, und da er zu arm sei, um dem Pfarrer die Taufgebühren in baarem Gelde zu bezahlen, so wolle er demselben wenigstens ein Gericht Fische fangen. Wenn er sich länger verweile, so breche die Nacht ganz ein und er könne dann seinen Zweck nicht mehr erreichen. Der Unbekannte versicherte indessen, daß er durchaus auf das jenseitige Ufer müsse, und wiederholte seine Bitte, ihn dahin überzusetzen, unter dem Versprechen, ihn dafür reichlich zu belohnen. Jetzt endlich willfahrte der Fischer seinem Verlangen. Als sie nun das rechte Ufer erreicht hatten, führte das geheimnißvolle Männchen den Fischer mit den Worten: daß, da er ihm geholfen, er nun auch ihm, dem Fischer, wieder helfen wolle, unten an den Fuß der Burgstätte, wo er demselben in altem, wie von glühenden Kohlen erhelltem Steingeklüfte eine große Menge glänzender Goldstücke zeigte und ihn aufforderte, nach Belieben zuzulangen. Der Fischer war auch nicht blöde und raffte von den Goldstücken in seine Fischerschürze, soviel dieselbe fassen konnte, und eilte – das unbekannte Männchen war unterdessen verschwunden – zu seinem Kahne und damit nach Hause, wo er voll Freude die Goldstücke vor seiner Frau ausschüttete. Diese erschrack indessen darüber so sehr, daß sie unter dem Ausruf: daß er dies Geld gewiß auf unrechtem Wege erworben habe, auf der Stelle starb. Der arme Fischer erkennend, daß in den Goldstücken kein Segen für ihn sei, brachte solche am folgenden Tage der städtischen Obrigkeit mit der Bitte, dieselben zur Gründung einer frommen Stiftung zu verwenden. Dies geschah denn auch und zwar in der Weise, daß die Zinsen des Kapitals zu einer jährlichen Spende von Speck und Brod an Arme bestimmt wurden, die noch bis auf den heutigen Tag besteht.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 775-776.
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